Scheinselbständige „Pioniere in Weiß“? Wenn der Notarzt auf Honorarbasis arbeitet, bleibt das Blaulicht aus. Nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern droht ein Kollaps

Als Pioniere in Weiß wurden 2014 selbständige Honorarärzte dem Publikum präsentiert: »Krankenhausärzte entdecken Freud und Leid der Selbstständigkeit.« Eine kleine, aber wachsende Gruppe: »Geschätzt 5.000 freiberufliche Ärzte verweigern sich derzeit der Festanstellung, dem traditionellen Beschäftigungsmodell für knapp 175.000 Mediziner in den deutschen Krankenhäusern. Statt in einer arbeiten sie jedes Jahr in fünf, zehn, zwanzig oder noch mehr Kliniken. Deutschlandweit oder im Ausland, für einige Tage oder wenige Wochen. Vergütung auf Honorarbasis: 30 bis 140 Euro in der Stunde, Behandlungsdienstleistung, umsatzsteuerfrei«, kann man dem Artikel entnehmen. Und schon ist man mitten drin in der Welt der Ökonomie: »Als Freiberufler kann ein Arzt weniger arbeiten, aber mehr verdienen. Der Ärztemangel wird so auf paradoxe Weise zum Grund für beides: die Flucht aus der Klinik. Und die Rückkehr. Entsprechend gelten Honorarärzte mal als Retter, mal als Verräter.«

Beobachtet wird eine Zunahme honorarärztlicher Tätigkeiten etwa seit dem Jahr 2005. Aber offensichtlich haben wir es bei den Honorarärzten mit einer schwierigen Materie zu tun. Bereits 2011 haben Bundesärztekammer (BÄK) und Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ein gemeinsames Positionspapier veröffentlicht: Honorarärztliche Tätigkeit in Deutschland. Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft meldete sich 2014 zu Wort: Honorarärzte in Krankenhäusern – eine arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Standortbestimmung, so ist das Papier überschrieben. Schon bei der Formulierung des Titels wird der Sozialpolitiker aufhorchen. Offensichtlich sind die arbeits- und sozialrechtlichen Fragen, die mit der Honorararzt-Tätigkeit verbunden sind, eben nicht eindeutig geklärt, sonst würde es nicht diesen Bedarf an Positions- und sonstigen Papieren geben.

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Der Mindestlohn, seine Umgehung und ein riesiges Gefälle zuungunsten der „guten“ Arbeitgeber. Das Beispiel Bauwirtschaft

„Unsere Betriebe konkurrieren täglich mit Kriminellen“. So ist ein Gespräch mit Harald Schröer, dem Vertreter der Bauwirtschaft überschrieben, in dem er über neue illegale und legale Geschäftsmodelle berichtet, mit denen der Mindestlohn zunehmend umgangen wird.
Dabei geht es hier nicht um den seit dem 1. Januar 2015 gültigen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde.

»Für das deutsche Baugewerbe gibt es schon seit 1997 einen Mindestlohn. Trotzdem scheint der eines nicht zu verhindern: Dumping-Löhne in einer Branche auf die neben 800.000 regulär Beschäftigte noch 100.000 angemeldete Entsende-Arbeitnehmer und rund 50.000 registrierte Solo-Selbstständige kommen.«

Der Geschäftsführer des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes (ZDB) spricht von „neuen Geschäftsmodellen“, mit denen schwarze Schafe in der Branche unterwegs sind.

Was versteht er darunter? Dazu aus dem Interview, das Eva Roth für die „Frankfurter Rundschau“ mit ihm geführt hat, einige aufschlussreiche Passagen:

»In der Baubranche beobachten wir neue legale und illegale Modelle, wie der Mindestlohn umgangen wird … ich fange einmal mit dem klar Illegalen an: Wir beobachten in der Bauwirtschaft immer öfter Formen der organisierten Kriminalität, teils mit mafiösen Strukturen …«

Ein starker Vorwurf. Wie muss man sich das praktisch vorstellen?

»Eine bekannte mafiöse Methode sieht so aus: Ein Bauunternehmen X gründet eine Strohmann-Firma, die Scheinrechnungen an das Bauunternehmen für nicht erbrachte Leistungen ausstellt. Diese Scheinrechnungen werden bezahlt. Ein Großteil des Geldes fließt dann wieder bar an das Bauunternehmen zurück. So generiert die Firma X Schwarzgeld, mit dem sie Beschäftigte am Bau bar bezahlt. Die Arbeiter erhalten keinen Mindestlohn, Steuern und Sozialabgaben werden auch nicht entrichtet. So kann die Baufirma günstige Angebote machen. Die Stundenverrechnungssätze solcher Firmen sind höchstens halb so hoch wie die Stundensätze von Betrieben, die Mindestlöhne zahlen oder die höheren Tariflöhne plus Sozialabgaben. Solche mafiösen Strukturen verbreiten sich in Deutschland nahezu flächendeckend.«

Das ist für die anderen verständlicherweise ein echtes Problem:

»Die Stundensätze unserer Betriebe, die Tariflohn zahlen, liegen zwischen 45 und 50 Euro zuzüglich Mehrwertsteuer. Ausländische Firmen, die den Mindestlohn einhalten, liegen bei ungefähr 25 Euro. Firmen, deren illegale Geschäftsmodelle aufgeflogen sind, haben nur um die 18 Euro ohne Mehrwertsteuer verlangt. Unsere Betriebe konkurrieren tagtäglich auch mit solchen kriminellen Anbietern. In Ausschreibungen sind ihre legalen Angebote nicht mehr wettbewerbsfähig.«

Nähern wir uns dem derzeit legalen Bereich:

»Viele Bulgaren und Rumänen bilden in Deutschland Gesellschaften bürgerlichen Rechts. Für solche GbRs braucht man kein Kapital, man kann sich einfach mit drei, vier Leuten zusammenschließen. Die GbR-Gesellschafter sind dann Maurer, Fliesenleger, Eisenflechter und verdingen sich in Deutschland als Tagelöhner. Sie treten aber als Gesellschafter auf, für die der Mindestlohn nicht gilt. Sie müssen auch keine Sozialabgaben entrichten und können ihren Preis bis zur Selbstausbeutung senken.«

Und wer darf nicht fehlen? Genau, die Solo-Selbständigen:

»Diese Arbeitsform hat die Politik gefördert, indem sie zum Beispiel die Meisterpflicht für Fliesenleger abgeschafft hat. Vor dieser Novelle hatten wir in Deutschland ungefähr 17 000 eingetragene Fliesenleger. Heute sind es 72 000. Viele kommen aus den mittel- und osteuropäischen Staaten, ihre Stundenlöhne liegen oft unter dem Mindestlohn. Es gibt auch Betriebe, die ihre Mitarbeiter veranlassen, sich selbstständig zu machen, und dann wieder für ihren Ex-Arbeitgeber tätig werden.«

Aus Sicht der Bauwirtschaft »sind viele der angeblich Selbstständigen auf dem Bau tatsächlich abhängig Beschäftigte eines Unternehmens.« Aber das muss immer im Einzelfall über aufwändige Prüfungen festgestellt werden.

Sowohl Angebot und Nachfrage sind sicher in diesem Kontext: »Das Lohngefälle in Europa begünstigt diese Arbeitsformen. In den mittel- und osteuropäischen Staaten liegen die Bau-Stundenlöhne unter fünf Euro. Für diese Menschen sind Stundensätze von 18 Euro eine gute Verdienstmöglichkeit. Gleichzeitig wollen es viele Bauherrn und Häuslebauer möglichst billig.«

Es gibt aber auch viele ausländische Arbeiter und Firmen, die eindeutig legal in Deutschland bauen. Aber auch hier gibt es ein problematisches Gefälle bei den Wettbewerbsbedingungen – diesmal nicht bezogen auf den Mindestlohn, sondern hinsichtlich der Sozialabgaben:

»Bei den Bau-Sozialkassen sind 100 000 ausländische Entsende-Arbeitnehmer gemeldet. Diese Beschäftigten erhalten den Bau-Mindestlohn. Gleichzeitig bleiben sie zwei Jahre lang in ihrem Heimatland sozialversicherungspflichtig. Das heißt: Für sie müssen Unternehmen deutlich geringere Sozialabgaben abführen als deutsche Betriebe. Deshalb können diese Firmen mit Stundensätzen von 25 Euro kalkulieren. Damit haben sie erheblich Wettbewerbsvorteile gegenüber inländischen Betrieben, die mit 45 bis 50 Euro kalkulieren müssen.«

Wenn man das alles aufaddiert, dann stellt sich schon die Frage, wie tariftreue Baufirmen in Deutschland überhaupt noch an Aufträge kommen. Dazu Harald Schröer:

»Die tariftreuen Betriebe suchen Kunden, die bereit sind, auch entsprechende Preise zu zahlen. Solche Kunden gibt es. Bei öffentlichen Aufträgen haben es unsere Unternehmen aber oft schwer. Der Staat sollte an dieser Stelle eigentlich Vorbild sein.«

Vor allem mit Blick auf den Staat identifiziert einen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit – »und dafür haben wir kein Verständnis.«

Das nun kann man ohne weiteres nachvollziehen.

Wenn Pauschalisten plötzlich richtig eingestellt werden: Scheinselbständigkeit im Journalismus und deren Eindämmung. Möglicherweise aufgrund eines Gesetzentwurfs, der noch feststeckt im politischen Betrieb

Es kann durchaus erfreulich sein, hin und wieder nachzuschauen, was denn aus dem geworden ist, worüber berichtet wurde. Konnte das Problem beseitigt bzw. zumindest reduziert werden? Konkret: Es geht um eine gute Nachricht für Journalisten, die den „besonderen“ Arbeitsbedingungen in der Medienlandschaft ausgesetzt sind. Von denen viele als prekäre Beschäftigungsformen daherkommen. Die waren Gegenstand des Beitrags Das große Durcheinander auf dem Arbeitsmarkt – und die vielen Baustellen jenseits des Gewohnten. Von Crowdworkern, Pauschalisten, der ominösen Industrie 4.0 und dem Kampf um feste Strukturen in Zeiten zunehmender Verflüssigung von Arbeit vom 16. Juli 2015. Noch konkreter: Es geht hier um die „Pauschalisten“ in den Redaktionsstuben vieler Medien.

Zur Erinnerung:  Die Leiharbeiter des Journalismus, so haben Anne Fromm, Jürn Kruse und Anja Krüger ihren Artikel über das Problem Scheinselbständigkeit von Journalisten überschrieben. Sie berichten über das System der „Pauschalisten“ oder „feste Freie“, ohne die kaum etwas bei Tageszeitungen und News-Seiten gehen würde. »Pauschalisten erledigen in vielen Zeitungen die tägliche Arbeit, die notwendig ist, damit ihre Zeitung, ihre Nachrichtenseite Tag für Tag in der gewohnten Qualität erscheint. Sie schreiben und recherchieren, redigieren Texte anderer Autoren, planen und bestücken die Seiten, sind blattmacherisch tätig, bestimmen die Themen, über die berichtet wird und betreuen Praktikanten. Festangestellte Mitarbeiter, für die der Verlag ganz regulär Sozialversicherungsbeiträge abführt, Redakteure genannt, sind sie trotzdem nicht.« Die betriebswirtschaftlichen Vorteile für die Verlage liegen auf der Hand, vor allem aufgrund der dadurch nicht vorhandenen Arbeitgeberpflichten und des Kostenvorteils durch nicht zu zahlende Sozialabgaben.

Mitte des vergangenen Jahres gab es dann allerdings eine Menge Unruhe bei den verantwortlichen Verlagsmanagern. Der Grund: „Ermittlungsverfahren wegen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen“ durch den Zoll. Aufgrund der damals anlaufenden Ermittlungen und Verfahren wegen möglicher Scheinselbständigkeit mit erheblichen Rechtsfolgen für die Unternehmen reagierten einige Verlage damit, dass sie sich von den „festen Freien“ zu trennen begannen, die schon geraume Zeit bei ihnen tätig waren. Aber es gab auch damals schon erkennbare Gegenbewegungen: »Dass das Problem auch zugunsten statt zulasten der freien Mitarbeiter gelöst werden kann, zeigen Tagesspiegel und Zeit Online. Als beim Tagesspiegel im vergangenen Winter eine Buchprüfung anstand, wurden viele Pauschalisten als feste Redakteure angestellt. Auch Zeit Online wandelt derzeit Pauschalisten-Stellen in feste Beschäftigungsverhältnisse um«, schrieben Fromm, Kruse und Krüger in ihrem Artikel.

Nun gibt es weitere und gute Neuigkeiten von dieser Baustelle zu vermelden. Plötzlich angestellt, so hat Anne Fromm ihren neuen Beitrag dazu überschrieben: »Die „Süddeutsche Zeitung“ und deren Onlineredaktion stellen ihre Pauschalisten jetzt fest an. Andere Verlagshäuser dürften nachziehen.«  Sie zitiert aus einer Mail des Betriebsrats der Süddeutschen Zeitung (SZ): „Liebe Kollegen und Kolleginnen, Chefredaktion und Ressortleiter haben Sie darüber informiert, dass es zu Einstellungen von freien Mitarbeitern/Pauschalisten kommen wird.“

Das ist ein echter Paukenschlag, denn seit Jahren beschäftigt das Medienhaus freie Mitarbeiter als sogenannte Pauschalisten – allein 50 Prozent der Onlineredakteure sind angeblich so beschäftigt. »Das Problem: Viele arbeiten wie Festangestellte, stehen in Dienstplänen, haben einen eigenen Arbeitsplatz und keine weiteren Auftraggeber außer der SZ.« Die SZ ist nun die Erste, die dabei ist, ihre Pauschalisten großzügig anzustellen.

„Wenn es plötzlich so einfach und fair geht, wieso ging es all die Jahre davor nicht?“ Diese  Frage stellt sich ein Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung. Eine gute Frage. Vielleicht liegt in der Art und Weise der Umsetzung der Anstellungswelle bei der SZ ein Teil der Antwort verborgen:

»Dafür wurde ein Ampelsystem ausgearbeitet, dass die Mitarbeiter je nach Dringlichkeit der Einstellung klassifiziert: Rot sind alle, die vier oder fünf Tage pro Woche in der Redaktion sind, die so schnell wie möglich angestellt werden sollen. Das betrifft vor allem Mitarbeiter der Onlineausgabe. Dort sollen alle, die bisher in Schichten gearbeitet haben, als Redakteure angestellt werden.
Andere, die künftig mehr schreiben sollen, erhalten Autorenverträge, die der ursprünglichen Idee von Pauschalen am nächsten kommen. Autoren sollen gegen eine Pauschale eine bestimmte Zahl an Texten schreiben. Langfristig soll für sie der Bürozwang aufgehoben werden.«

Ganz offensichtlich ist bei diesem Ansatz, dass diejenigen, die am stärksten in die normalen Abläufe des Unternehmens eingegliedert sind und faktisch so arbeiten wie ganz normal angestellte Beschäftigte, als erste eingestellt werden, während man die Textlieferanten sowohl durch die Art und Weise der zukünftigen (also wirklich pauschalen) Vergütung wie auch durch die Herauslösung aus den Arbeitsplatzstrukturen des faktischen Arbeitgebers (ein weiteres Merkmal scheinselbständiger Tätigkeit) in die „echte“ Selbständigkeit zu überführen versucht.
Möglicherweise hat das was zu tun mit der beabsichtigten Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen, die als Gesetzentwurf aus dem Haus der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles derzeit das politische Berlin bewegt, denn die eigentlich schon längst geplante Befassung des Kabinetts mit dem Entwurf hat noch nicht stattgefunden, weil es erhebliche Widerstände gegen die geplanten gesetzlichen Neuregelungen gibt. Anne Fromm spekuliert an dieser Stelle nicht unplausibel:

»Auffällig ist …, dass zurzeit mehrere Verlagshäuser, darunter auch Gruner + Jahr und die Funke-Gruppe, daran arbeiten, ihre Pauschalisten fest anzustellen. Hintergrund könnte ein Referentenentwurf für ein neues Gesetz gegen den Missbrauch von Werkverträgen sein, den SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles im vergangenen November vorgelegt hat. Der Entwurf definiert enge Kriterien, ab wann jemand scheinselbstständig ist. Bisher war diese Definition wesentlich schwammiger.«

Das hätte doch was: Zahlreiche faktisch scheinselbständige Journalisten bekommen ein Festeinstellung aufgrund einer geplanten gesetzlichen Neuregelung, die derzeit unter heftiges Feuer genommen wird seitens der Wirtschaftsverbände und von Teilen des Koalitionspartners CDU/CSU. Und diese Attacken werden möglicherweise dazu führen, dass im Ergebnis dann der Gesetzentwurf weiter verwässert und abgeschwächt wird.

Den betroffenen Journalisten kann das egal sein. Sie wären begünstigt durch einen „Prä-Nahles-Effekt“, auch wenn die „Post-Nahles-Welt“ anders aussehen könnte.