Und ewig grüßt die Kapitaldeckung. Die Pflegeversicherung durch eine kapitalgedeckte Teil-Finanzierung der stationären Pflege retten?

Mit einem Systemwechsel im komplexen Geflecht der deutschen Sozialpolitik sollte man – schon auf der Ebene der Forderung – vorsichtig sein. Unabhängig von der Tatsache, dass eine Realisierung äußerst unwahrscheinlich ist, muss ein Systemwechsel nicht nur gut durchdacht sein, um beispielsweise ungeplante Nebenwirkungen so weit wie möglich im Griff behalten zu können, sondern der Umstieg muss auch gut begründet sein, um nicht als Nebelkerze wahrgenommen zu werden. Nun werden wir wieder einmal mit der Forderung nach einem Systemwechsel in einem wichtigen Teilgebiet der Sozialpolitik konfrontiert – der Pflegeversicherung. Das von den Arbeitgebern finanzierte Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln fordert nichts geringeres als die Herausnahme der stationären Pflege aus der bestehenden umlagefinanzierten Pflegeversicherung und eine verpflichtende private Versicherung auf der Basis des Kapitaldeckungsverfahrens. Das IW meint es gut mit uns, denn mit diesem Vorschlag, so wird forsch behauptet, könne man die bestehende Pflegeversicherung vor ihrem sicheren Ende bewahren. Nun sind private, kapitalgedeckte Versicherungen derzeit nicht besonders hoch angesehen, wovon die Versicherungsbranche mit Blick beispielsweise auf die „Riester-Rente“ ein Lied singen kann. Und reden nicht alle über die erhebliche Probleme, die Versicherungen im so genannten „Niedrigzinsumfeld“ haben? Musste nicht erst dieser Tage ein „Lebensversicherungsreformgesetz“ verabschiedet werden angesichts der erheblichen Probleme dieses bislang zentralen Produktes der privaten Altersvorsorge? Sollte es sich bei dem neuen Vorschlag der „arbeitgebernahen“ Ökonomen aus dem IW vielleicht um eine Nebelkerze handeln?

Die Zukunft der Sozialen Pflegeversicherung – mit dieser wahrlich nicht von Bescheidenheit geprägten Überschrift hat das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln seine Pressekonferenz überschrieben, auf der die Reformvorschläge vorgestellt worden sind (vgl. dazu auch den Artikel Ökonomen wollen Pflegeversicherung zweiteilen).

Gleichsam als Vorbereitung auf das, was dann kommt, werden wir konfrontiert mit den üblichen Hochrechnungen der zu erwartenden Entwicklung, mit der üblichen Dramatisierung, gerne aufgenommen von einem Teil der Medien, die das IW stützen (vgl. beispielsweise allein die angstheischende Überschrift Kostenlawine überrollt die Pflegeversicherung in der Online-Ausgabe der WELT). Das Institut schreibt selbst dazu:

»Laut IW-Berechnungen wird die Zahl der Pflegefälle in Deutschland in einem pessimistischen Szenario bis 2050 von heute 2,5 auf 4,2 Millionen steigen. Im optimistischen Szenario ist immer noch mit 1 Million Pflegefällen zusätzlich zu rechnen. Selbst wenn die Pflegekosten für jeden einzelnen Betroffenen nicht steigen, klettern die Ausgaben der Sozialen Pflegeversicherung allein aufgrund der Bevölkerungsalterung bis zum Jahr 2050 je nach Szenario auf 37,9 respektive 33,7 Milliarden Euro. Heute sind es lediglich 21,9 Milliarden Euro.«

Das Institut weist darauf hin, dass die prognostizierten Ausgaben ausschließlich auf die Bevölkerungsalterung zurückzuführen seien, mithin also weitere ausgabenerhöhende Faktoren noch gar nicht eingerechnet sind, wie beispielsweise eine höhere Vergütung der in der Pflege arbeitenden Menschen. Die bestehende Pflegeversicherung kommt zugleich mit Blick auf die alternde Bevölkerung nicht nur von der Ausgabenseite her unter Druck, sondern auch von der Einnahmenseite, denn die Bevölkerungsalterung führt zu einem steigenden Anteil älterer, sich in der Rente befindlichen Menschen, was wiederum die möglichen Einnahmen der Pflegeversicherung verringert: »Schließlich ist das beitragspflichtige Alterseinkommen derzeit – Stand 2014 – mit durchschnittlich 13.000 Euro nur halb so hoch wie das eines Erwerbstätigen mit 26.600 Euro«, so Michael Hüther, der Direktor des IW in seinem Statement auf der Pressekonferenz.

Aber halt, wird der eine oder die anderen dieser Stelle einwerfen und darauf hinweisen, dass die Bundesregierung doch in der aktuellen Pflegereform auf diese absehbare Herausforderung für den Beitragszahler in der Pflegeversicherung reagiert hat, denn ein Bestandteil der Pflegereform ist die Einführung eines so genannten Pflegevorsorgefonds. Ab 2015 soll mit dem Pflegestärkungsgesetz der Beitragssatz von derzeit 1,95 um 0,3 Punkte erhöht werden – davon sollen 0,1 Beitragspunkte in diesen Vorsorgefonds fließen. Das Aufkommen von jährlich rund 1,2 Milliarden Euro soll die erwarteten hohen Beitragslasten für die Pflege der zahlenmäßig starken Babyboomer-Generation ab 2035 bis zum Auslaufen des Fonds nach 2050 abfedern.

»Der geplante Vorsorge-Fonds, mit dem Geld für die Zukunft angespart und gewinnbringend angelegt werden soll, wäre laut IW-Berechnungen kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein«, so der kritische Hinweis des IW.

Hinsichtlich der Charakterisierung, dass die in Zukunft zur Verfügung stehenden Mittel aus dem Vorsorgefonds lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein darstellen, ist dem Institut der deutschen Wirtschaft zuzustimmen – wie übrigens bereits andere Berechnungen in aller Deutlichkeit aufgezeigt haben, die zugleich die totale Fragwürdigkeit dieser – im übrigen völlig systemwidrigen, weil eine Kapitaldeckung aus Beiträgen einer umlagefinanzierten Sozialversicherung einführende – Komponente der Pflegereform der Großen Koalition deutlich gemacht haben:

»Nach Berechnungen des Gesundheitsministeriums kommen in der Sparzeit von 20 Jahren je nach Zinsentwicklung zwischen 34 und 42 Milliarden Euro zusammen. Geht man davon aus, dass das Geld dann über einen Zeitraum von 20 Jahren gleichmäßig wieder ausgegeben wird, stehen dafür pro Jahr 1,7 bis 2,1 Milliarden Euro zur Verfügung. Damit lässt sich der Beitrag nach dem heutigen Stand aber allenfalls um 0,14 bis 0,17 Prozentpunkte reduzieren. Der renommierte Pflegeforscher Heinz Rothgang von der Universität Bremen hält das noch für zu hoch gegriffen. In Berechnungen für die Berliner Zeitung kommt er unter den genannte Bedingungen auf eine mögliche Beitragssatzsenkung von 0,1 Punkten oder je nach Annahme sogar noch weniger.
Die mögliche Senkung steht damit in keinem Verhältnis zu der erwarteten Steigerungsrate beim Beitragssatz, die Folge der kräftig wachsenden Zahl von Pflegebedürftigen ist. Nach unterschiedlichen Studien dürfte der Beitrag im Jahre 2030 deutlich über drei Prozent liegen und 2050 schon bei 4,5 bis 5,0 Prozent. Derzeit beträgt der Satz 2,05 Prozent (Kinderlose 2,3 Prozent).
Statt eines Beitrags von zum Beispiel 4,5 Prozent werden die Versicherten dank des Fonds also einen Satz von 4,4 Prozent zahlen. Im Gesetzentwurf heißt es dagegen zur Begründung für den Fonds: „Um übermäßige Beitragssatzsteigerungen in Zeiten besonderer demografiebedingter Belastungen zu vermeiden, ist eine entsprechende Vorsorge geboten.“ Dieses Ziel dürfte mithin nicht erreicht werden«, so Timot Szent-Ivanyi in seinem Beitrag Pflege-Vorsorgefonds entlastet Beitragszahler nicht.

Aber wieder zurück zu den Vorschlägen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Denn die glauben uns eine Lösung für gleich zwei Probleme präsentieren zu können:  Zum einen für das Problem, dass der viel zu gering dimensionierte  auf Kapitaldeckung basierende Vorsorgefondskaum eine spürbare entlastende Wirkung entfalten kann und zum anderen für die Herausforderung, ein Reformvorschlag für einen Systemwechsel vorzulegen, der nicht sehr lange Übergangszeiten erforderlich macht, die dann wieder die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass der Systemwechsel im Sande verläuft.

Da aus Sicht des Instituts ein genereller Wechsel zur Kapitaldeckung der Pflegeversicherung praktisch nicht (mehr) möglich sei, plädieren sie für eine Teil-Kapitaldeckung innerhalb der Pflegeversicherung und greifen sich dafür einen großen Leistungsbereich heraus: die stationäre Pflege. Dieser Ansatz erscheint erst einmal nicht unplausibel:

  • Zum einen steigt das Versicherungsrisiko für die stationäre Pflege erst am Lebensende deutlich an. So liegen in der Gruppe der 80- bis 84-Jährigen die Kosten für die stationäre Pflege noch bei unter 1.000 Euro, bei den 90- bis 94-Jährigen dann schon bei fast 4.000 Euro.
  • Zum anderen – und natürlich mit dem ersten Aspekt zusammenhängend – gewinnt man Luft auf der Zeitschiene, denn so Hüther: »Der direkte Umstieg hätte den Charme, dass sich auch für die geburtenstarken Jahrgänge noch ein längerer Zeitraum ergibt, um für den Fall der Fälle vorzusorgen.«

Natürlich stellt sich an dieser Stelle sofort die Frage, welche Kosten bei diesem Modell auf die Versicherten zukommen würden. In dem Artikel Zweite Pflegeversicherung soll erste retten von Marlies Uken findet man den folgenden Hinweis:

»Das IW schätzt die monatliche Pauschale für eine solche Versicherung fürs Pflegeheim auf elf Euro pro Monat. Damit würden die Kosten von rund zehn Milliarden Euro gedeckt, die allein die vollstationäre Pflege in der bestehenden Pflegeversicherung ausmacht.
Laut IW sind die elf Euro lediglich eine grober Richtwert, der noch nicht ausdifferenziert sei. Nach Ansicht der Forscher müsste die Pauschale je nach Alter variieren. Im Gegenzug soll der Beitrag zur Pflegeversicherung, die noch über eine Umlage von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert wird, sinken – in welchem Umfang, ist allerdings unklar.«

Eine monatliche Pauschale von elf Euro, die vom IW selbst als  „grober Richtwert“  bezeichnet werden, das kommt eher wie eine Milchmädchenrechnung daher. Offensichtlich hat man an dieser Stelle einfach elf Euro mit zwölf Monaten multipliziert, um auf einen Jahresbetrag von 132 € zukommen, mit dem man rechnerisch ausgehend von 81,3 Millionen Menschen tatsächlich 10 Milliarden € Leistungsausgaben für die stationäre Pflege gegenfinanzieren könnte, wobei hier die Betonung auf könnte liegt (wobei interessanterweise alle Bürger hier zugrundegelegt werden, also auch die, die sich heute schon in der privaten Pflegeversicherung befinden – sollen die dann in der Sozialen Pflegeversicherung eine weitere kapitalgedeckte Vorsorge betreiben?). Denn es handelt sich ja nicht um ein Umlageverfahren, bei dem also die heutigen Beiträge die heutigen Ausgaben decken (sollen), sondern um einen Ansparverfahren auf der Basis einer Kapitaldeckung und die Prämien müssen risikogerecht kalkuliert werden. Man sollte diesen hier genannten Betrag eher unter der Rubrik Augenwischerei buchen.

Viel spannender  ist der folgende Aspekt: Die heute jungen Menschen haben tatsächlich noch Jahrzehnte vor sich, wo sie entsprechende Summen ansparen könnten. Das ist bei den älteren Menschen nicht der Fall. Aufschlussreich sind an dieser Stelle die Ausführungen von Michael Hüther, dem Direktor des IW in seinem Statement:

»Keine Frage: Gerade für die heute Hochbetagten müsste beim Umstieg eine Kompensation von Prämienzahlungen organisiert werden, wenn ihre altersabhängig kalkulierte Versicherungsprämie unzumutbar hoch ausfällt. Damit wird aber keineswegs ein neuer Subventionstatbestand eingeführt. Denn die Differenz zwischen der altersabhängigen Prämie und dem bisherigen Beitrag wird ja bereits heute innerhalb des Umlageverfahrens ausgeglichen – dort aber einseitig zu Lasten der Jüngeren und auf der Basis lohnabhängiger Beiträge, die bestenfalls zufällig die Leistungsfähigkeit der Versicherten spiegeln. Erst die Kalkulation altersabhängiger Prämien legt den Umverteilungsbedarf offen und eröffnet so die Möglichkeit, diese Umverteilung treffsicherer zu organisieren.«

Unabhängig von dem Tatbestand, dass hier erneut wieder eine unzulässige Gleichsetzung von umlagefinanzierte Sozialversicherung mit den Konstruktionsprinzipien einer privaten, kapitalgedeckten Versicherung vorgenommen wird und man vor lauter Verzweiflung ausrufen möchte, dass endlich doch begriffen werden sollte, dass eine umlagefinanzierte Sozialversicherung nicht nach dem Modell eines Sparkontos bei einer Bank funktioniert,  ist der entscheidende Punkt darin zu sehen, dass der ausgabenintensivste Bereich der Pflege, die stationäre Pflege, vollständig privatisiert werden würde, mit absehbar enormen Prämiensteigerungen für die Betroffenen, die mit Sicherheit weit über dem liegen würden, was man an Beitragssatzsteigerung in der normalen Pflegeversicherung bekommen würde – vor allem, wenn man diese endlich hinsichtlich ihrer Finanzierung Grundlagen vom Kopf auf die Füße stellen würde, dazu am Ende mehr.

Es bleibt das Problem für das IW, dass der Vorschlag allein deshalb schon kritisch aufgenommen werden wird, weil die private, kapitalgedeckte Vorsorge derzeit keinen guten Ruf genießt und von vielen Seiten kritisch auf das Niedrigzinsumfeld hingewiesen wird. An dieser Stelle zeigt sich erneut die Fähigkeit des IW, unliebsame Punkte einfach wegzudefinieren. Dazu Hüther in seinem Statement:

»Zunächst gilt, dass eine Phase relativ niedriger Zinsen angesichts eines langfristigen Versicherungskalküls schon durch eine moderate Zinswende kompensiert werden kann. Des Weiteren zeigt zum Beispiel ein Blick auf die privaten Krankenversicherungen, dass mit einer durchschnittlichen Nettoverzinsung von über 4 Prozent im Jahr 2012 selbst in einem problematischen Zinsumfeld noch eine rentierliche Kapitalanlage möglich ist.«

Da ist es doch beruhigend für den skeptischen Noch-Nicht-Käufer dieses neuen Angebots, dass der Herr Direktor Hüther an anderer Stelle darauf hingewiesen hat: »Schon ab Mitte 2015 könnte die Niedrigzinsphase vorbei sein, schätzt er.« Wie praktisch, das ist ja bald.
Und auch sein Hinweis, dass bei den privaten Krankenversicherungen eine durchschnittliche Nettoverzinsung von über 4 % im Jahr 2012 erzielt wurde, was als Beleg für die Möglichkeit einer Rentierlichen Kapitalanlage in einem problematischen Zinsumfeld angeführt wird, entbehrt nicht einer gewissen Frechheit. Denn das gleiche Phänomen haben wir ja auch im Bereich der Lebensversicherung – und es ist unter anderem eben auch darauf zurückzuführen, dass die Versicherung immer noch auf hoch verzinsten Anlagen sitzen, die sie in früheren Zeiten erworben haben.

Nein, der Vorschlag für einen so weitreichenden Systemwechsel ist nicht ansatzweise ausreichend fundiert.  Im übrigen geht völlig unter, dass die Finanzierung der Pflegeleistungen eben nicht nur auf der Pflegeversicherung basieren, sondern dass wir es mit einem komplexen Finanzierungsmix zu tun haben. Neben den Leistungen aus der „Teilkaskoversicherung“ der gesetzlichen Pflegeversicherung (und bei dem einen oder anderen auch Leistungen aus einer – mittlerweile seitens des Staates sogar über den „Pflege-Bahr“ aus Steuermitteln geförderten – privaten Pflegezusatzversicherung, vgl. hierzu aber kritisch den Beitrag Die private Pflegeversicherung ist fragwürdig und teuer) müssen im erheblichen Umfang eigene Mittel bei Bedürftigkeit aufgewendet werden, so die eigene Altersversorgung bis hin zu dem eigenen Vermögen bzw. dem Vermögen der Kinder. Sollte es bei den Betroffenen bzw. seinen Angehörigen nichts zu holen geben, dann muss der Staat einspringen über die Sozialhilfe, konkret über die „Hilfe zur Pflege“. Wenn man diese Punkte berücksichtigt, dann wird relativ schnell erkennbar, wie groß der Anteil ist, den die Menschen neben der Leistung aus der Pflegeversicherung heute schon selbst aufbringen müssen.

Insofern besteht immer die Gefahr, dass man die eigentlich notwendige Reform der Finanzierung der Sozialen Pflegeversicherung aus den Augen verliert. Und die besteht zum einen darin, dass die gewählte Art und Weise der Finanzierung der Sozialen Pflegeversicherung über lohnabhängige Beiträge und die noch begrenzt bis zur Beitragsbemessungsgrenze sowie die Kopie der Dualisierung in gesetzliche und private Krankenversicherung in der Pflegeversicherung endlich einer Überarbeitung bedürfen.

Hierzu abschließend ein Auszug aus dem Beitrag Reformoptionen und Reformsackgassen von Heinz Rothgang, Direktor der Abteilung Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen. Der Beitrag ist in der Zeitschrift „Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik“ erschienen, Heft 10/2011, S. 659 ff. In dem Teil seines Beitrags, in dem es um die Finanzierungsprobleme der sozialen Pflegeversicherung geht, schreibt Rothgang:

»Die Ursachen für diese Einnahmeschwäche liegen sowohl in Veränderungen der Zahl der Beitragszahler als auch in der Höhe der beitragspflichtigen Einkommen: So ist die Zahl der in der Privaten Pflegepflichtversicherung Versicherten kontinuierlich zu Lasten der Sozialversicherten gestiegen. Da die Abwanderer aus der Sozialversicherung überdurchschnittlich verdienen, reduziert sich dadurch nicht nur die Zahl der Beitragszahler, sondern auch deren durchschnittliches beitragspflichtiges Einkommen. Hinsichtlich der Höhe der Beitragszahlung ist entscheidend, dass sich die Beitragspflicht nur auf Löhne und Gehälter sowie Lohnersatzeinkommen (Arbeitslosengeld, Renten) erstreckt, nicht aber auf Einkommen aus Vermietung und Verpachtung und aus selbständiger Tätigkeit oder Kapitaleinkommen. Die sinkende Lohnquote trägt deshalb dazu bei, dass die Grundlohnsumme langsamer steigt als das BIP. Strukturelle Verschiebungen auf dem Arbeitsmarkt, die zu einer sinkenden Bedeutung des Normalarbeitsverhältnisses und zu einem Anstieg von Beschäftigungsverhältnissen mit verminderten Beitragszahlungen (insbesondere geringfügige Beschäftigung) führen, verstärken diesen Effekt noch.

Daneben weist die Finanzierung der Pflegeversicherung – weitgehend analog zur GKV – sowohl horizontale als auch vertikale Ungerechtigkeiten auf. Eine sich an der Leistungsfähigkeit der Versicherten orientierende Beitragsbemessung muss in horizontaler Hinsicht dazu führen, dass ökonomisch gleich starke Wirtschaftssubjekte zu einer gleich hohen Beitragszahlung herangezogen werden. Dieser Grundsatz ist im derzeitigen System durchbrochen: Haushalte mit gleichem Einkommen und damit gleicher ökonomischer Leistungsfähigkeit werden zu ungleichen Beitragszahlungen herangezogen, je nachdem aus welchen Einkommensarten sich ihr Einkommen speist. Bei einem Haushaltseinkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze hängt die Höhe des beitragspflichtigen Einkommens zudem davon ab, wie sich das Haushaltseinkommen bei einem Ehepaar auf die beiden Partner verteilt. In Bezug auf die vertikale Gerechtigkeit wird insbesondere beklagt, dass sich Besserverdiener der Umverteilung in Richtung auf einkommensschwächere Haushalte entziehen können, indem sie von der SPV in die Private Pflegepflichtversicherung wechseln. Die daraus resultierende Begünstigung der Mitglieder der Privatversicherung ist in der Pflegeversicherung sogar noch deutlich stärker ausgeprägt als im Bereich der Krankenversicherung, da sich die Risiken der beiden Teilpopulationen in der Pflegeversicherung erheblich unterscheiden. Schließlich wird das Leistungsfähigkeitsprinzip durch die Beitragsbemessungsgrenze begrenzt …«
Darüber sollten wir diskutieren.«

Immer diese „Verschiebebahnhöfe“ – früher zugunsten der Krankenkassen in die Pflegeversicherung und jetzt soll es in die andere Richtung gehen. Die Rechnung bekommen sowieso Dritte

Angesichts der Bedeutung der Pflege vor allem in den vor uns liegenden Jahren ist die Frage einer umfassenden Pflegereform eine der großen, wenn nicht die größte sozialpolitische Baustelle in unserem Land. Im Windschatten der gesetzgeberischen Umsetzung des Rentenpakets der Bundesregierung sowie des Mindestlohns ist auch die erste Stufe der von der Bundesregierung geplanten Pflegereform in den Bundestag eingebracht worden (man nennt das in der Gesetzgebungslyrik Pflegestärkungsgesetze). Ab dem kommenden Jahr werden alle Leistungen um vier Prozent erhöht und in den Pflegeeinrichtungen sollen bis zu 20.000 zusätzliche Betreuungskräfte finanziert werden können. Für Arbeitnehmer und Arbeitgeber wird es ab 2015 mit der ersten Stufe der Pflegereform teurer. Es gibt eine Beitragssatzsteigerung um 0,3 Prozentpunkte, die pro Jahr 3,6 Milliarden Euro zusätzlich zu den bisherigen Beitragseinnahmen von 25 Mrd. Euro in die Pflegekasse spülen. 1,4 Milliarden Euro davon sollen in die ambulante Pflege fließen, mit einer Milliarde Euro soll die Arbeitssituation in den Pflegeeinrichtungen verbessert werden. Weitere 1,2 Milliarden Euro werden in einen höchst umstrittenen Vorsorgefonds eingespeist, um Beitragslasten in der Zukunft dämpfen zu können. Aber so richtig interessant wird es erst mit der geplanten zweiten Stufe der Pflegereform, interessant auch im finanziellen Sinne. Denn mit dieser zweiten Stufe soll ein neues System der Pflegestufen und Pflegebedürftigkeitsbegutachtung eingeführt werden, damit Demenzkranke und psychisch Kranke stärker an den Leistungen der Pflegeversicherung partizipieren können.

Für diese zweite Stufe ist bereits vorgesehen und vereinbart, dass die Beiträge im Laufe der Legislaturperiode um weitere 0,2 Prozentpunkte angehoben werden. Allerdings – das sei hier deutlich hervorgehoben – wird in der öffentlichen Diskussion leider immer wieder „vergessen“, das ausschließlich die Versicherten der sozialen Pflegeversicherung belastet werden. Die private Pflegeversicherung kann weiter ihrem Eigenleben frönen, die dort Versicherten werden – wenn überhaupt – nachgelagert in Form von möglicherweise ansteigenden Prämien belastet, wenn die Leistungsausgaben der privaten Pflegekassen ansteigen sollten. Gleichzeitig hat die private Pflegeversicherung aufgrund ihrer deutlich besseren Risikostruktur erhebliche Reserven aufbauen können, die allerdings nicht in das allgemeine Pflegesystem fließen können.

Die geplante zweite Stufe der Pflegereform ist von der großen Koalition mit einem kalkulatorischen Finanzvolumen von 2,5 Milliarden Euro ausgestattet. Dieser Finanzrahmen wird nach der Einschätzung vieler Experten mit Sicherheit nicht ausreichen, um den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, der seit Jahren in einer Wiedervorlageschleife festhängt, umsetzen zu können. Konservative Schätzungen gehen von mehr als einer Milliarde Euro zusätzlich aus, die notwendig sind, um die zweite Stufe der Pflegereform finanzieren zu können. Gleichzeitig sollen die ursprünglich vereinbarten finanziellen Rahmenbedingungen eingehalten werden, so dass das Bundesgesundheitsministerium auf der Suche ist, neue Finanzierungsquellen erschließen zu können.

Und wieder einmal ist zu befürchten, dass wir Zeugen werden von etwas, was diejenigen, die sich seit Jahrzehnten mit den Sozialversicherungen beschäftigen, unter dem Begriff „Verschiebebahnhof“ zur Genüge kennen. Die begehrlichen Blicke des Ministeriums auf der Suche nach zusätzlichen Geldern für die Finanzierung der zweiten Stufe der Pflegereform richten sich auf die Krankenkassen, denn dort gibt es derzeit Überschüsse im System, die sich angeblich auf knapp 30 Milliarden Euro belaufen (dazu schreibt das Bundesgesundheitsministerium: »Gesundheitsfonds und Krankenkassen verfügen rechnerisch am Ende des 1. Quartals 2014 insgesamt über Finanzreserven in einer Größenordnung von rd. 27,7 Mrd. Euro, davon rd. 16,5 Mrd. Euro bei den Krankenkassen und rd. 11,2 Mrd. Euro beim Gesundheitsfonds.«) – vor allem eine Folge der guten Einnahmenentwicklung aufgrund der gestiegenen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in den vergangenen Jahren. Das weckt natürlich Begehrlichkeiten. In diesem Kontext folgerichtig: Krankenkassen sollen für Pflegereform zahlen, so Guido Bohsem:

»Konkret wird erwogen, den Kassen die medizinische Betreuung von Pflegebedürftigen in Rechnung zu stellen, die sogenannte Behandlungspflege. Unter Behandlungspflege werden Leistungen verstanden wie zum Beispiel das Messen des Blutdrucks, Wundversorgung oder Verbandswechsel. Diese fallen vor allem in Heimen an und kosten pro Jahr etwa zwei Milliarden Euro. Obwohl diese Leistungen eher in den Bereich der medizinischen Betreuung gehören und nicht zur direkten Pflege, wird diese Summe derzeit von den Pflegekassen gezahlt. Bei einer Übertragung auf die Krankenkassen würden also zusätzliche Mittel frei.«

Man darf und muss an dieser Stelle daran erinnern, dass die Behandlungspflege tatsächlich inhaltlich eher in das System der Krankenversicherung gehört, sie wurde bei der Einführung der Pflegeversicherung vor 20 Jahren deshalb bei der Pflegeversicherung als Kostenträger angesiedelt, um die damals Not leidenden Krankenkassen zu entlasten. Nach der inneren Zuständigkeitslogik der Sozialversicherungssysteme handelte es sich um den ersten Verschiebebahnhof, der nun – allerdings in umgekehrter Richtung – reanimiert werden soll. Um die bereits beschlossenen Beitragsanhebungen in der Pflegeversicherung nicht noch größer werden zu lassen, will man einen Teil der Kosten, der ansonsten übersteigende Beiträge gegen zu finanzieren wäre, aus der – Lauch – gut gefüllten Schatulle der gesetzlichen Krankenversicherung abdecken.

Dagegen lassen sich gewichtige Argumente vorbringen. Eines der wichtigsten lautet: Die Patienten könnten unter den unterschiedlichen Zuständigkeiten leiden, da nunmehr eine neue Schnittstelle eröffnet wird, an der sich die institutionellen Eigeninteressen des jeweiligen Versicherungssystems bemerkbar machen werden. Aus einer institutionenegoistische Perspektive haben die Krankenkassen natürlich ein Interesse daran, die Ausgaben für Behandlungspflege so niedrig wie möglich zu halten, auch wenn das mit Rationierung im Versorgungsalltag verbunden sein sollte.

Aber auch für die Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung könnte sich das angefachte Vorgehen als eine bittere Pille erweisen. Die Verschiebung auf den Kostenträger Krankenkasse muss im Kontext der Reform der Krankenkassenfinanzierung gesehen werden, die ebenfalls in diesen Tagen verabschiedet worden ist. Vgl. hierzu meinen Beitrag Und durch ist sie … Zum Umbau der Krankenkassenfinanzierung und den damit verbundenen Weichenstellungen.  Eine der wichtigsten Konsequenzen aus der neu geordneten Krankenkassenfinanzierung lautet: In Zukunft werden allein die Versicherten sämtliche Kostenanstiege der gesetzlichen Krankenversicherung über den von ihnen allein aufzubringenden Finanzierungsanteil stemmen müssen. Der Arbeitgeberbeitrag zur Krankenversicherung wird auf dem heutigen Niveau eingefroren.

Unter Berücksichtigung dieser nicht-paritätischen Finanzierung der Krankenkassenbeiträge zeigt das Beispiel wieder einmal, dass es bei den Verschiebebahnhöfen am Ende nur um eine Maskerade der Beitragslasten geht, den die Arbeitnehmer, die bei der Anhebung der Beiträge zur Pflegeversicherung etwas „entlastet“ werden, müssen in dem anderen Systemen, also der gesetzlichen Krankenversicherung, dann höhere Beiträge bezahlen. Am Ende bleibt die Rechnung bei ihnen liegen.

Man kann es drehen und wenden wie man will – erneut zeigt sich, dass die bestehenden, nur historisch zu verstehenden Systeme der Finanzierung unserer Sozialversicherung zunehmend an ihre Grenzen stoßen. Und dass die Politik es versäumt hat, über eine grundsätzliche, strukturelle Reform der Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme nicht nur nachzudenken, sondern diese auch in Angriff zu nehmen, wofür die Konstellation einer großen Koalition eine einmalige Chance wäre. Und man muss an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass der bereits heute bestehende Finanzbedarf sowie die zu erwartenden finanziellen Lasten, die in den vor uns liegenden Jahren zu stemmen sind, um eine halbwegs menschenwürdige Pflege realisieren zu können, so ist, dass man erheblich mehr Mittel aktivieren müsste, um die Pflege jenseits eines „satt-und-sauber“-Niveaus ausstatten zu können. Dies wird nur funktionieren, wenn man eine umfassende Bürger- oder Volksversicherung einführen würde, um die notwendigen Umverteilungen realisieren zu können. Aber davon ist derzeit unabsehbar in Berlin leider keine Rede mehr. Insofern werden wir uns auf weitere Spielarten der „Verschiebebahnhöfe“ innerhalb der gegebenen Sozialversicherungssysteme, die eine ellenlange Geschichte aufweisen können, einstellen müssen.

Die Apologeten der „privaten Vorsorge“ haben viel zu tun diese Tage – neben der Rettung der Rentengeschäfte jetzt auch noch die Pflegebaustelle

Es ist aber auch wirklich viel los auf den sozialpolitischen Baustellen der Republik – neben dem Mindestlohn und dem „Rentenpaket“ soll nun auch eine „Pflegereform“ kommen. Und bei Rente und Pflege muss die wissenschaftlich daherkommende Prätorianergarde der Finanzindustrie an die Front geworfen werden. Was die meistens schon von alleine tun. Neben dem Werben um die – verständlicherweise – verunsicherten Menschen hinsichtlich ihrer (sinkenden) Bereitschaft, privat für den eigenen Ruhestand Riester- und sonstige Verträge abzuschließen und der Propagierung der noch nicht so verbrannten, obgleich bei genauerem Hinschauen äußerst fragilen betrieblichen Altersvorsorge als neues Geschäftsfeld für Banken und Versicherungen (vgl. hierzu: Rürup „rettet“ wieder mal die Rente. Fragt sich nur, welche), widmet man sich nun der anstehenden „Reform“ der Pflegeversicherung – und dabei insbesondere der geplanten Einführung eines so genannten „Vorsorgefonds“, der mit über einer Milliarde Euro aus Beitragsmitteln der Pflegeversicherung gespeist werden soll. Diesem „Vorsorgefonds“ kann man aus einer „klassischen“ sozialpolitischen Sicht nur mit einem irritierten Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen, denn es ist schon ein einmalige Sache, dass man in einer umlagefinanzierten Sozialversicherung ein kapitalgedecktes Sparbuchmodell installieren will (dazu bereits: Die Pflege und das Geld: Wiederbelebungsversuche der „Bürgerversicherung“ und Wiederauferstehung der Kapitaldeckung im Mäntelchen eines „Vorsorgefonds“). Aber nun muss man ebenfalls zur Kenntnis nehmen, dass Rürup, Raffelhüschen & Co. auch gegen den Fonds Sturm laufen. Sind die übergelaufen in das Lager derjenigen, die von der Sinnhaftigkeit eines umlagefinanzierten, allerdings anders als heute aufgestellten sozialen Sicherungssystems überzeugt sind?

Um jede Hoffnung gleich im Keim zu ersticken – so ist es leider nicht, sondern man lehnt etwas ab, was auf den ersten Blick doch den eigenen immer wiederkehrenden Forderungen nach mehr Kapitaldeckung entspricht, das aber deshalb bekämpft werden muss, weil es die wirklichen Geschäfte gefährden könnte.

Ihre Stimme hat Gehör gefunden in solchen Artikeln: Ökonomen nennen Pflegereform „Unfug“, so ein Beitrag von Dorothea Siems. Schon der Untertitel offenbart die Stoßrichtung: »Jetzt Geld in einem Topf sammeln, um ab 2030 damit die Pflegekosten zu dämpfen. Dieser Plan der Regierung entsetzt Experten. Die Vergangenheit zeige, dass Politiker Ersparnisse oft zweckentfremden.«
„Deutschlands führende Sozialexperten“ – darunter macht man es heutzutage semantisch nicht mehr – warnen die große Koalition vor einer falschen Weichenstellung in der Pflegeversicherung, meint Frau Siems. So wird der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen zitiert mit den Worten, die geplante Pflegereform des Bundesgesundheitsministers Größe (CDU)  bedeute eine „Verteilung von Wohltaten und verschärfe die langfristig ohnehin großen Finanzierungsprobleme erheblich“.

  • Raffelhüschen ist Mitglied im Aufsichtsrat der ERGO Versicherungsgruppe sowie der Volksbank Freiburg. Des Weiteren ist er als wissenschaftlicher Berater für die Victoria Versicherung AG in Düsseldorf tätig. Er ist außerdem Mitglied des Vorstands der Stiftung Marktwirtschaft. Darüber hinaus ist er als Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft tätig, einer Lobbyorganisation der Metall-Arbeitgeber.
Raffelhüschen plädiert für eine „Rückbesinnung auf die Eigenverantwortung“. Was aber solle das heißen? Sicher nicht die Eigenverantwortung der Menschen, die sich darin niederschlägt, dass sie jeden Monaten viel Geld als Beiträge in die Sozialversicherung einzahlen, wenn sie nicht Beamte oder sonstige Ausnahmefälle sind. Er meint etwas anderes:

»“Wir sollten in der Pflegestufe I eine Karenzzeit einführen, während der die Sozialversicherung noch keine Leistungen auszahlt“, fordert der Ökonom. Man könnte mit drei oder sechs Monaten starten und dann die Karenzzeit auf ein Jahr ausweiten. „Statt die Solidargemeinschaft für jeden Pflegefall zahlen zu lassen, sollen wir uns in der Sozialversicherung darauf beschränken, das Großrisiko der teuren Langzeitpflege abzudecken“, so Raffelhüschen.«

In diesem Konzert darf Bert Rürup nicht fehlen: »Der frühere Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Bert Rürup, nannte Gröhes Vorhaben, bei der Bundesbank einen staatlichen Vorsorgefonds aufzulegen, „Unfug“.« Und noch einer wird in Stellung gebracht bzw. tut das selbst: »“Mit der geplanten Pflegereform wird – ebenso wie mit den neuen Rentenleistungen – die verdeckte Staatsverschuldung erhöht“, warnte der Direktor des Max Planck Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik, Axel Börsch-Supan

Der nun wiederum zeigt, dass auch Wissenschaftler ganz volksnah sprechen können:

»Auch Börsch-Supan hält nichts von dem geplanten Pflegefonds. „Man lässt den Hund nicht auf den Wurstvorrat aufpassen.“ Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigten, dass Regierungen angespartes Kapital immer nutzten, um Haushaltslöcher zu stopfen, so der Ökonom.«

»Bert Rürup warnt ebenfalls: „Kapital einer öffentlichen Kasse ist – auch wenn es von der Bundesbank verwaltet wird – nicht vor dem Zugriff durch die Politik gefeit.“«

Sie sind richtig besorgt um die anzulegenden Gelder und sollen die bei vielen Bürgern tief  verankerten Abwehrreflexe gegen „den“ Staat wecken.
Rürup argumentiert wieder einmal – zumindest wenn man der vorliegenden Berichterstattung folgt – am stringentesten:

»Der Minister gehe fälschlicherweise davon aus, dass die Beitragsbelastung nur in den Jahren 2035 bis 2055 sehr hoch sei, weil dann die geburtenstarken Jahrgänge hochbetagt sein würden und die Zahl der Pflegefälle dann besonders groß sei … „Wir stehen … nicht vor einem Berg an Pflegebedürftigen, den man untertunneln könnte, sondern vor einem Plateau“, stellte der Wissenschaftler klar. „Wenn der Kapitalstock Mitte der 2050er Jahre aufgebraucht ist, springt der Beitragssatz wieder genau auf die Höhe, auf der er auch ohne diese temporäre Kapitalrücklage liegen würde.“«

Ja warum kritisieren die denn ein Modell, das doch eigentlich – prima facie – all dem entspricht, was sie ansonsten immer gerne propagieren? 
Die Antwort darauf ist relativ einfach und ernüchternd: Man will wie so oft im geschäftlichen Leben lästige Konkurrenz vermeiden. Denn wenn der Staat einen Vorsorgefonds einrichtet und von der Bundesbank verwalten lässt, dann könnten ja die Betroffenen auf die Idee kommen, dass man sich dann nur noch weniger oder gar nicht privat gegen das Pflegebedürftigkeitsrisiko absichern muss.
Und die eigentliche Stoßrichtung der Akteure wird in solchen Zitaten erkennbar:

»Ein Großteil der Leistungen der Pflegeversicherung gehe heute an Menschen, die gar nicht darauf angewiesen seien. Denn 80 Prozent der Menschen seien finanziell durchaus in der Lage, privat Vorsorge zu betreiben. Für den Rest habe die Gesellschaft auch schon vor der Einführung der Pflegeversicherung die Leistungen über die Sozialhilfe finanziert«, so Raffelhüschen. »Börsch-Supan plädiert gleichfalls dafür, das Pflegerisiko über private Versicherungen abzudecken.«

Darum geht es. Um nicht mehr, aber auch um nicht weniger.
Übrigens: Wie distanziert manche dieser Wissenschaftler von der Realität der sozialpolitischen Problemlagen sind, verdeutlicht dieses Zitat über die Sicht der Welt aus der Brille eines Herrn Rürup: Die Einbeziehung der Demenzkranken in die Pflegeversicherung sei eigentlich ja verständlich und richtig, aber: »Der Demenzgrad sei nicht so eindeutig diagnostizierbar und messbar wie ein körperliches Gebrechen. „Die Gefahr bei der geplanten Erweiterung des Pflegebegriffs ist, dass dies zum Einfallstor für eine deutliche Leistungsausweitung wird.“«
Warum denn keine deutliche Leistungsausweitung, Herr Rürup?

Schon wieder eine „Reform“ – jetzt die „der“ Pflege. Von Beitragsmitteln und ihrer Verwendung, einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Dauerschleife des täglich grüßenden Murmeltiers und anderen Merkwürdigkeiten

Bekanntlich zucken viele Menschen – und das nicht ohne Grund – zusammen, wenn sie in einem der vielen Felder der Sozialpolitik die Ankündigung einer „Reform“ zu hören bekommen. Denn damit war in den zurückliegenden Jahren – seien wir ehrlich – oftmals weniger Fortschritt und Verbesserung verbunden, sondern Einschränkungen und Abbau, zuweilen auch Exklusion.
Hinsichtlich der von der Großen Koalition angestrebten nächsten „Pflegereform“ – die korrekter (wieder einmal) primär als Reform der Pflegeversicherung bezeichnet werden muss – gibt es auf den ersten Blick mehrere sehr ambitionierte Zielsetzungen: Es soll mehr Geld für die Pflege organisiert , endlich ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff in die Versorgungsrealität gehoben werden, es soll mehr Personal geben und einiges anderes mehr. Offensichtlich – so könnte man meinen – hat die Politik nun endlich die immer lauter werdenden Stimmen aus der Pflege selbst vernommen, die dringend konkrete Verbesserungen anmahnen und sich in der Öffentlichkeit zu Wort melden  – ob mit breiten Zusammenschlüssen wie dem „Bündnis für gute Pflege„, in dem sich zahlreiche Wohlfahrts-, Sozial- und Pflegeverbände zusammengeschlossen haben oder dem Aktionsbündnis „Pflege am Boden„, die mit bundesweiten Flashmob-Aktionen um Aufmerksamkeit für ihr Anliegen streiten.

Doch noch ist nichts in trockenen Tüchern bei der anstehenden Pflegereform und ob es sich wirklich um Verbesserungen handeln wird, darüber kann und muss man mit einer gehörigen Portion Skepsis streiten. Unterstützung für das Lager der Skeptiker kann man auch solchen Überschriften entnehmen: „Verschenktes Geld“ – Streit um Rücklagen für die Pflege, so hat Rainer Woratschka seinen Beitrag überschrieben oder wie wäre es damit: „Es wird nicht nur Gewinner geben“. Laumann über die Pflegereform, so hat Anno Fricke ein Interview mit Karl-Josef Laumann, seines Zeichens „Bevollmächtigter der Bundesregierung für Patientenrechte und Pflege“ im Rang eines Staatssekretärs im Bundesgesundheitsministerium, überschrieben.

Und in diesem Interview findet sich ein interessantes Zitat des Herrn Laumann: Seiner Meinung nach sollte bei der nun umzusetzenden Pflegereform ein Aspekt stärker beachtet werden: »… nämlich dass das Beitragsgeld ausschließlich für die Pflegebedürftigen da ist, und für diejenigen, die die Pflegearbeit leisten.«

Da kann man nur zustimmen. Aber schauen wir genauer hin, was denn mit dem Geld des Beitragszahlers eigentlich geplant ist. Das hat Rainer Woratschka so zusammengefasst:

»Bisher ist vorgesehen, den Pflegebeitrag für die geplante Reform Anfang 2015 um 0,3 Prozentpunkte zu erhöhen – und davon ein Drittel in die Rücklage fließen zu lassen. Das entspräche 1,2 Milliarden Euro pro Jahr. Mit der Reserve soll der vorhergesagte Ausgabenanstieg in den Jahren zwischen 2035 und 2055 abgefedert werden, wenn die geburtenstärksten Jahrgänge ins Pflegealter kommen. Die restlichen 2,4 Millionen Euro sollen in sofortige Leistungsverbesserungen fließen.
Für einen zweiten Reformschritt, den versprochenen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, soll der Beitrag Anfang 2017 um weitere 0,2 Punkte steigen. Vorgesehen ist etwa eine differenziertere Einstufung der Pflegebedürftigen, die Abschaffung der so genannten Minutenpflege und mehr direkte Zuwendung statt bloß körperbezogener Leistungen. Davon sollen vor allem Demenzkranke profitieren.«

Diesen Ausführungen kann man zwei zentrale Sollbruchstellen entnehmen: Zum einen die Frage der Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und zum anderen die angesprochene Rücklage für die Zukunft, auch als „Vorsorgefonds“ tituliert.

Zur Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs: Man muss an dieser Stelle daran erinnern, dass ein neuer Pflegebedürfigkeitsbegriff kein neuer konzeptioneller Schritt ist, vielmehr pflastern Kommissionen und Gutachten seinen bisherigen Weg – und ein erkennbares Muster, das sich rückblickend so zusammenfassen lässt: schieben, verschieben, aufschieben:

Im Herbst 2006 wurde der erste Pflegebeirat ins Leben gerufen, der die Aufgabe hatte, das Modellvorhaben mit dem Titel „Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI“ zu begleiten. Der Bericht des „Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ wurde am 29. Januar 2009 an die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt übergeben.  Im Mai 2009 wurde durch den Beirat der Umsetzungsbericht fertiggestellt. »Zum 1. März 2012 wurde durch Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr erneut einen Expertenbeirat einberufen, der fachliche und administrative Fragen zur konkreten Umsetzung klären sollte. Am 27. Juni 2013 hat der Expertenbeirat den „Bericht zur konkreten Ausgestaltung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ dem Bundesministerium für Gesundheit übergeben. Politische Entscheidungen, den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff gesetzlich zu verankern, stehen bisher aus«, so der GKV-Spitzenverband.
Und was sagt Pflegebeauftragter Laumann im Frühjahr 2014?

»Man braucht Zeit, um den Pflegebedürftigkeitsbegriff vernünftig umzusetzen. Zunächst müssen wir untersuchen, ob es Gewinner und Verlierer gibt. Das müssen wir mit den MDK und einer Reihe von Menschen, die neu pflegebedürftig werden, quer durch alle Bundesländer untersuchen. Der neue Begriff bedeutet auch, dass mit den Einrichtungen Pflegesätze neu verhandelt werden müssen. Das geht nicht von heute auf morgen. Eines muss ganz klar sein: Wir müssen den neuen Begriff in dieser Wahlperiode komplett umsetzen, ganz eindeutig.«

Da von allen Seiten akzeptiert wird, dass die Umsetzung eines neuen Pflegebdürftigkeitsbegriffs mehr Geld kosten wird (wobei die konkrete Höhe durchaus umstritten ist, aber: Dass die anvisierten 2,4 Milliarden Euro für das Vorhaben nicht reichen, ist Konsens unter vielen Experten) und gleichzeitig in der dargestellten Finanzplanung eine Anhebung des Beitragssatzes zur Finanzierung dieses Teils der Pflegereform erst für 2017 vorgesehen ist – also in dem Jahr, in dem die nächste Bundestagswahl stattfinden wird – können sich die Aufschiebe-Skeptiker bestätigt fühlen.

Zur Einführung eines (kapitalgedeckten) „Vorsorgefonds“ in der gesetzlichen Pflegeversicherung: Man muss sich in einem ersten Schritt einmal grundsätzlich klar machen, was die Große Koalition hier beabsichtigt: Innerhalb einer umlagefinanzierten Sozialversicherung soll aus Beitragsmitteln gespeist ein kapitalgedeckter Fonds angelegt werden.
Das hat es aus guten Gründen noch nie gegeben.

In dem Artikel von Woratschka wird der Bremer Wissenschaftler Heinz Rothgang zitiert, ein Experte auf dem Gebiet der Pflegefinanzierung, mit Blick auf die Zeitachse: Der Fonds sei „genau dann wieder leer, wenn die höchste Zahl an Pflegebedürftigen erreicht wird“.

Laut Koalitionsvertrag soll die nicht näher bezifferte Rücklage bis zu ihrer Verwendung von der Bundesbank verwaltet werden. Doch die bedankt sich. Angesichts des Auf und Ab beim GKV-Zuschuss traut die Bundesbank der Stetigkeit der öffentlichen Hand nicht, so die Zusammenfassung unter der Überschrift „Bundesbank hält wenig von Vorsorgefonds in Staatsregie“ in der Ärzte Zeitung.

Dazu schreibt die Bundesbank selbst in ihrem Monatsbericht März 2014:

»Ab 2015 soll … der Beitragssatz schrittweise um insgesamt 0,5 Prozentpunkte angehoben werden. Davon sollen 0,4 Prozentpunkte unmittelbar zur Finanzierung der laufenden Ausgaben eingesetzt werden und das den verbleibenden 0,1 Prozentpunkten entsprechende Beitragsaufkommen zunächst in eine (von der Bundesbank verwaltete) Rücklage geleitet werden. Das ausgedehnte Leistungsvolumen wird künftige Generationen noch stärker zusätzlich belasten, weil die schrumpfende Gruppe der für das Beitragsaufkommen besonders relevanten Erwerbstätigen die Pflegeleistungen für die wachsende Gruppe der Leistungsempfänger im Wesentlichen wird finanzieren müssen. Mit dem Aufbau einer Rücklage können die heutigen Beitragszahler zwar stärker und mit dem Abschmelzen zukünftige Beitragszahler weniger zusätzlich belastet werden. Nach dem Verzehr der Finanzreserven wird das höhere Ausgabenniveau dann aber durch laufend höhere Beiträge gedeckt werden müssen. Inwiefern die beabsichtigte Beitragsglättung tatsächlich erreicht wird, hängt von den weiteren Politikreaktionen ab. Nicht zuletzt die aktuelle Erfahrung zeigt, dass Rücklagen bei den Sozialversicherungen offenbar Begehrlichkeiten entweder in Richtung höherer Leistungsausgaben oder auch zur Finanzierung von Projekten des Bundes wecken. Zweifel an der Nachhaltigkeit einer kollektiven Vermögensbildung unter staatlicher Kontrolle erscheinen umso eher angebracht, je unspezifischer die Verwendung der Rücklagen festgelegt wird« (Deutsche Bundesbank, Monatsbericht März 2014, S. 10).
Eine deutliche Kritik.

Betrachtet man also wie hier geschehen nur zwei sehr wichtige Komponenten der anstehenden „Pflegereform“, dann wird das Lager der Skeptiker eher gestärkt aus der aktuellen Bestandsaufnahme herausgehen. Wir lassen uns aber natürlich gerne vom Gegenteil überzeugen.

Die Pflege und das Geld: Wiederbelebungsversuche der „Bürgerversicherung“ und Wiederauferstehung der Kapitaldeckung im Mäntelchen eines „Vorsorgefonds“

Der Pflegebedürftigkeit werden viele von uns nicht entkommen. Betrachtet man die Lebenszeitprävalenz, standardisiert auf die Altersverteilung der Sterbefälle in Deutschland 2011, dann liegt diese bei 48% für Männer und bei den Frauen sogar bei 67%, wie Berechnungen zeigen, die im „BARMER GEK Pflegereport 2013“ veröffentlicht wurden. Jeder zweite Mann und drei von vier Frauen. Und dass die Zahl der Pflegebedürftigen in den vor uns liegenden Jahren aufgrund der demografischen Entwicklung massiv ansteigen wird, ist mittlerweile sicher überall angekommen.
Daraus ergeben sich zwei zentrale Schlussfolgerungen: Wenn wir auch weiterhin eine dann auch noch halbwegs humane Versorgung der pflegebedürftigen Menschen sicherstellen wollen, dann brauchen wir erheblich mehr Personal in der Pflege – und das meint nicht nur deutlich mehr Professionelle, sondern auch in und um die Familien herum bis in den ehrenamtlichen Bereich angesichts der großen Zahl an Menschen, die von Pflegebedürftigkeit betroffen sein werden. Zum anderen muss deutlich mehr Geld in das Pflegesystem hinein gegeben werden – und das auch unabhängig von der Frage, ob es nicht „Ineffizienzen“ in der Art und Weise der pflegerischen Versorgung gibt, die man abbauen könnte und müsste.

Die Finanzierung der Pflege ist eine komplexe Angelegenheit, obgleich in der öffentlichen Diskussion immer wieder der Eindruck erweckt wird, dass hierbei alles an der Pflegeversicherung hängt, die zwar eine wichtige Rolle im Finanzierungsmix spielt, aus deren Leistungen aber eben nur einen Teil der Pflegekosten refinanziert wird. Hinzu kommen die privaten Anteile der Betroffenen (und ihrer Kinder) sowie seit Jahren wieder ansteigend die kommunal zu finanzierenden Ausgaben der Hilfe zur Pflege im Rahmen der Sozialhilfe (SGB XII). Dem „Pflegereport 2013“ kann man zur Einordnung entnehmen: Derzeit wird gut die Hälfte aller Ausgaben bei Pflegebedürftigkeit durch die Soziale Pflegeversicherung getragen, die damit das wichtigste Leistungssystem bei Pflegebedürftigkeit ist (S. 51). Übrigens – immer wieder wird vergessen, dass es neben der „normalen“ Pflegeversicherung mit 69,6 Mio. Versicherten auch noch die private Pflegeversicherung gibt mit 9,7 Mio. Versicherten.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass erneut die Frage auf die Tagesordnung gesetzt wird, wie denn die steigenden Ausgaben für die Pflege finanziert werden sollen. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird sich bis 2030 verdoppeln. Um das zu finanzieren, müssen alle Bürger in die Pflegeversicherung einzahlen, so die Forderung von AWO-Chef Wolfgang Stadler in einem Interview („Pflege ist ein Knochenjob„). Ein Ergebnis der Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD ist die Entscheidung, dass der der Beitragssatz in der Pflegeversicherung in dieser Wahlperiode schrittweise um 0,5 Prozentpunkte steigen soll. Das kritisiert Stadler als nicht ausreichend, denn wenn man nur bei den gesetzlich Versicherten diese Beitragserhöhung umsetzt, dann werden die daraus generierbaren Mehreinnahmen nicht ausreichen, um beispielsweise den seit langem vor sich her geschobenen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff im Sinne der Abkehr von einer zeitabhängigen und somatisch fixierten Pflege finanzieren zu können. Stadler fordert statt dessen:

»Eine Bürgerversicherung wäre aus unserer Sicht die beste Lösung … Die Zahl derjenigen, die in die Pflegeversicherung einzahlt, sinkt. Nur eine integrierte, alle Bürger umfassende gesetzliche Pflegeversicherung und eine Beitragspflicht, die alle Einkommen erfasst, gewährleisten eine hinreichende Finanzierungsgrundlage. Dann bliebe der Beitrag nach unseren Gutachten immer noch unter drei Prozentpunkten und man kann den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff konsequent umsetzen.«

Das ist sie also wieder, die Idee der „Bürgerversicherung“, die vor der Bundestagswahl von der SPD noch hochgehalten wurde, aber bereits bei den Koalitionsverhandlungen in der Versenkung verschwunden ist, hatte die Sozialdemokratie dem Koalitionspartner mit der „Rente mit 63“ und dem Mindestlohn schon einiges „zugemutet“, so dass für systemverändernde Maßnahmen auf der Einnahmenseite kein Platz mehr war. Aber es wurde auch noch nicht einmal diskutiert.
Statt dessen also der Griff in die Beitragskasse der Sozialen Pflegeversicherung – und das in einem höchst problematischen doppelten Sinn.
Werfen wir zuerst einen Blick auf die finanzierungsseitigen Vereinbarungen im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom Dezember 2013:

»Der paritätische Beitragssatz zur Pflegeversicherung wird spätestens zum 1. Januar 2015 um 0,3 Prozentpunkte erhöht. Aus dieser Erhöhung stehen die Einnahmen von 0,2 Prozentpunkten zur Finanzierung der vereinbarten kurzfristigen Leistungsverbesserungen, insbesondere für eine bessere Betreuung der Pflegebedürftigen sowie der für 2015 gesetzlich vorgesehenen Dynamisierung der Leistungen zur Verfügung. Die Einnahmen aus der weiteren Erhöhung um 0,1 Prozentpunkte werden zum Aufbau eines Pflegevorsorgefonds verwendet, der künftige Beitragssteigerungen abmildern soll. Dieser Fonds wird von der Bundesbank verwaltet.
In einem zweiten Schritt wird mit der Umsetzung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs der Beitrag um weitere 0,2 Prozentpunkte und damit insgesamt um 0,5 Prozentpunkte in dieser Legislaturperiode angehoben« (Koalitionsvertrag CDU, CSU und SPD 2013: 61)

Was wir diesen wenigen Sätzen zur Pflegefinanzierung in der nun laufenden neuen Legislaturperiode entnehmen können ist eine Wiederauferstehung des Gedankens der Kapitaldeckung. Es muss an dieser Stelle daran erinnert werden, dass bereits im Koalitionsvertrag zwischen der Union und der FDP aus dem Jahr 2009 vorgesehen war, dass es eine Ergänzung durch eine „Kapitaldeckung“ bei der Pflegefinanzierung geben sollte. Herausgekommen ist in der letzten Legislaturperiode aber lediglich der so genannte „Pflege-Bahr“, also zulagengeförderte freiwillige private Versicherungsverträge.
  • Dieses neue Instrument sieht einen Förderbetrag in Höhe von fünf Euro pro Monat bzw. 60 € pro Jahr vor, wenn mindestens zehn Euro pro Monat Prämie für einen privaten Pflegeversicherungsvertrag gezahlt werden. Die Kritik an dieser Förderung ist umfassend und stellt ab auf die Punkte geringe Reichweite des Versicherungsschutzes, umverteilen Wirkung der Förderung im Sinne von „Mitnahmeeffekte durch Vermögende“ (so eine treffende Charakterisierung seitens der Deutschen Bundesbank), ein unzureichender Versicherungsschutz sowie die Tatsache, dass keine Dynamisierung der staatlichen Förderung vorgesehen ist, sehr wohl aber Prämiensteigerungen möglich sind und auch eintreten werden. Bösartig formuliert könnte man die steuerfinanzierte Zulage gleichsam als Lockmittel in solche Versicherungsverträge hinein verstehen. Der „Pflege-Bahr“ steht stellvertretend für die in der vergangenen Legislaturperiode so dominante „Playmobil-Sozialpolitik“, zu der beispielsweise auch das „Betreuungsgeld“ in Höhe von 100, später einmal 150 € pro Monat gehört, die für diejenigen geleistet werden, die keine öffentliche Kindertagesbetreuung in Anspruch nehmen.
Quelle der Abbildung: PKV

Der Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) hat aktuell die Präsentation der Geschäftszahlen 2013 unter die Überschrift „Rasantes Wachstum in privater Pflegevorsorge“ gestellt: «So wurden im Jahr 2013 allein 353.400 geförderte Pflegezusatzversicherungen abgeschlossen. Dazu kommen noch 174.100 ungeförderte Policen, sodass der Gesamtbestand an Pflegezusatzversicherungen um mehr als eine halbe Million auf insgesamt über 2,7 Millionen Versicherungen anstieg«, so die Jubelmeldung des Verbandes – schaut man sich allerdings die Relationen genauer an, dann offenbart sich, dass gerade einmal nur 3,4% der Pflegepflichtversicherten eine Pflegezusatzversicherung abgeschlossen haben, wie die vom PKV-Verband selbst veröffentlichte Abbildung zeigt.

Heike Haarhoff schreibt hierzu in ihrem Kommentar „Aus Flop mach Top„: »1,5 Millionen Neu-Verträge allein binnen des ersten Jahres, das war Bahrs – schriftlich verankertes – Versprechen … Jetzt stellt sich heraus: Gerade 400.000 Menschen haben einen „Pflege-Bahr“ abgeschlossen – nicht in den ersten 12, sondern in den ersten 14 Monaten seit Einführung. Das ist nicht nur weniger als ein Drittel des angepeilten Ziels. Das ist blamabel.« Und inhaltlich kritisiert sie: »Die Stiftung Warentest hat dem Pflege-Bahr unlängst jeglichen Zusatznutzen abgesprochen: Die staatlich geförderte Police biete keine finanziellen Vorteile gegenüber herkömmlichen Produkten der privaten Pflegeversicherung. Überdies, das beklagen Sozialverbände, schließen diejenigen Menschen mit hohem Pflegerisiko – also Arme und Kranke – den Pflege-Bahr gar nicht ab. Ihnen fehlt schlicht das Geld für den Eigenanteil. Aber auch die Einkommensstärkeren, die jetzt in die Privatvorsorge investieren, können nicht sicher sein, am Ende zu profitieren: Niemand weiß, wie sich die Prämien entwickeln. Ein vorzeitiges Aussteigen aber ist bei Risikoversicherungen stets mit extremen finanziellen Einbußen verbunden.«

Betrachtet man in diesem Kontext die Vereinbarungen in dem neuen Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD, dann wird verständlich, warum man tatsächlich von einer wirklichen „Wiederauferstehung“ des Gedankens der Kapitaldeckung innerhalb der Pflegefinanzierung sprechen kann und muss. Die Verwendung des Begriffs Wiederauferstehung soll daran erinnern, dass in der Anfangsphase der Pflegeversicherung von durchaus unterschiedlichen Seiten eine ergänzende Kapitaldeckung angesichts des besonderen Risikocharakters der Pflegebedürftigkeit vorgeschlagen bzw. gefordert wurde und es wurde darauf hingewiesen, dass man mit dieser ergänzenden Kapitaldeckung für die jüngeren Jahrgänge rechtzeitig anfangen müsse, um überhaupt Entlastungswirkungen haben zu können – aktuell wird allerdings darauf hingewiesen, dass der „richtige“ Zeitpunkt für eine solche ergänzende Teil Kapitaldeckung verpasst worden ist. 
Unter dem euphemistisch daherkommenden Terminus „Vorsorgefonds“ wurde seitens der Großen Koalition nicht nur vereinbart, erhebliche Mittel in den kommenden Jahren anzusparen, sondern aus Sicht des bisherigen Systems tatsächlich systemverändernd ist die Tatsache, dass dieser kapitalgedeckte Fonds über Beitragsmittel aus einer umlagefinanzierten Sozialversicherung gespeist werden soll. Das hat es nun wirklich noch nicht gegeben.

Noch sind die Details dieses tiefen Eingriffs in die Systematik einer umlagefinanzierten Sozialversicherung gar nicht geklärt, da wird das dann zusätzlich aufgeladen mit weiteren höchst umstrittenen Forderungen, konkret einer Differenzierung der Belastung zwischen Familien und Kinderlosen. So müssen jedenfalls die Ausführungen des gesundheitspolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jens Spahn, verstanden werden. Das Interview mit ihm ist überschrieben worden mit „Kinderlose sollen mehr Beiträge zahlen„. Auch Spahn betont den paradigmatischen Punkt der Koalitionsvereinbarung: »Zunächst einmal hat das Ganze eine hohe Symbolkraft: Zum ersten Mal sparen wir in der gesetzlichen Sozialversicherung ganz gezielt Geld, um uns auf die Alterung der Gesellschaft einzustellen. Das hat es bisher noch nicht gegeben und ist daher ein Wert an sich.«

Ab 2015 sollen jährlich 1,2 Mrd. Euro in den „Vorsorgefonds“ zurückgelegt werden – wohlgemerkt, aus Beitragsmitteln der „normalen“ Pflegeversicherten. Auf die kritische Vorhaltung, dass die auf diesen Weg angesparten Beträge kaum ausreichen werden, lässt Spahn dann die perspektivische Katze aus dem Sack:

»Wer sagt denn, dass wir künftig nicht mehr sparen? Ich werde mich jedenfalls dafür einsetzen, dass wir die Sparsumme für den Fonds mittelfristig erhöhen. Fair und gerecht wäre es, wenn vor allem die Kinderlosen einen größeren Beitrag zur Vorsorge leisten. Die Eltern, die künftige Beitragszahler großziehen, haben ihren Anteil ja schon geleistet. Ich kann mir daher vorstellen, dass wir den Beitragssatz für Kinderlose künftig weiter erhöhen und diese zusätzlichen Einnahmen dann in den Fonds stecken. Eine stärkere Belastung der Kinderlosen zur Entlastung der Familien sollte ein generelles Prinzip in der Sozialversicherung werden.«

So kann man sich das vorstellen – schrittweiser Ausbau der nunmehr verpflichtend eingeführten Teilkapitaldeckung innerhalb der Sozialversicherung und die von immer mehr geforderte stärkere Belastung der Kinderlosen umlenken in die Kapitaldeckung.

Bei Gelegenheit müsste die SPD dann schon mal die Frage beantworten, wie sie es selbst bewerten will, dass sie bis vor der Wahl das Konzept der „Bürgerversicherung“ propagiert hat und nach der Wahl eine weitaus stärkere Kapitaldeckung implementieren lässt, als es die schwarz-gelbe Koalition auch nur ansatzweise geschafft hat. Das hat schon eine gewisse Ironie.
Abschließend zur Kapitaldeckung ein Hinweis auf die private Kranken- und Pflegeversicherung, denn die kennen sich damit aus. In der Pressemitteilung zum Jahresergebnis 2013 teilt der PKV-Verband mit: »Einen Teil der Beiträge ihrer Kunden legt die Private Krankenversicherung auf dem Kapitalmarkt an. Aus diesem Geld werden die im Alter steigenden Gesundheitskosten der Versicherten finanziert. Diese Alterungsrückstellungen erhöhten sich bis Ende 2013 auf 190 Milliarden Euro – 164 Milliarden Euro in der Krankenversicherung und 26 Milliarden Euro in der Pflegeversicherung.« Das ist mal ein Sparstrumpf.