Wenn sogar der Bundesrechnungshof mehr und nicht weniger fordert: Die Medizinischen Dienste der Krankenkassen (MDK) als unterfinanziertes Nadelöhr?

Immer wieder mal wird – meistens sehr kritisch – über die Arbeit der Medizinischen Dienste der Krankenkassen (MDK) berichtet. Da geht es um die Verweigerung einer „richtigen“ Einstufung der Pflegebedürftigkeit, da wird der Vorwurf in den Raum gestellt, dass der MDK gar nicht unabhängig sei, sondern nach der Pfeife der Kassen zu tanzen habe.

Auf der anderen Seite machen die MDK-Mitarbeiter jeden Tag unzählige Gutachten und Einstufungen, die für sehr viele Menschen eine zentrale Bedeutung haben. Und darunter sind sicher sehr viele, denen die tatsächliche Hilfsbedürftigkeit der Menschen wirklich ein Anliegen ist. Ohne Frage muss man davon ausgehen, dass eine solche Prüfinstanz schlichtweg notwendig ist, um den Zugang zu den Leistungen der Kranken- und Pflegekassen zu sortieren und zu steuern – was sie ebenfalls ohne Zweifel nach dem Bedarf der Menschen machen sollen.

Die MDK sind auf Landes-Ebene organisiert und mit knapp 9.000 Mitarbeitern der Begutachtungs-Dienstleister für die Kranken- und Pflegeversicherung. Und wir reden hier über eine Institution, dessen enorme sozialpolitische Bedeutung an einigen wenigen Zahlen erkennbar wird (hinter denen dann immer Einzelschicksale stehen):

Im Jahr 2016 wurden für die Krankenversicherung 5,8 Mio. Empfehlungen abgegeben, darunter 1,36 Mio. zur Arbeitsunfähigkeit, 651.000 zur Rehabilitation oder 268.000 zu Häusliche Krankenpflege, Haushaltshilfen und spezialisierte ambulante Palliativversorgung. 1,9 Mio. Begutachtungen zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit wurden 2016 gezählt. Hinzu kamen 2,522 Mio. geprüfte Krankenhausabrechnungen (bei 17 Mio. Krankenhausfällen insgesamt). Neben den vielen Einstufungen der Pflegebedürftigkeit ist der MDK auch für die Qualitäts-Prüfung der Pflegeheime und -dienste zuständig. Für 2016 wurden 25.300 Prüfungen von Pflegeeinrichtungen insgesamt ausgewiesen, darunter 12.100 Prüfungen ambulanter und 13.200 Prüfungen stationärer Einrichtungen. (Quelle: Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS): Die Arbeit der Medizinischen Dienste. Zahlen, Daten, Fakten 2016, Essen, August 2017). Die Zahl der Beschäftigten bei den MDK belief sich Ende 2016 auf fast genau 9.000, darunter 2.248 Ärzte und 2.928 Pflegekräfte als pflegefachliche Gutachter. Auf etwa 750 Mio. Euro belaufen sich die Ausgaben der Medizinischen Dienste der Krankenkassen.

Beeindruckende Zahlen und Größenordnungen. Und das hört sich nicht nur nach einer Menge (wichtiger) Arbeit an, das ist auch so.

Und dann wird man mit solchen Schlagzeilen konfrontiert: Medizinische Dienste der Krankenversicherung leiden unter Geld- und Personalmangel: Die Kritik des Bundesrechnungshofes an der mangelnden finanziellen Ausstattung „ist aus Sicht der Bundesregierung nachvollziehbar und wird grundsätzlich geteilt“, heißt es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion „Die Linke“.

»Der Bundesrechnungshof war 2012 bei einer Prüfung aller 15 MDK zu dem Ergebnis gekommen, dass die meisten dieser Einrichtungen in den Jahren 2009 bis 2011 nicht über ausreichende personelle Kapazitäten verfügten. Grund sei vor allem „der Zuwachs an Aufgaben“. Festgestellt und beschlossen würden die Haushaltspläne von den Verwaltungsräten. Die dort vertretenen Krankenkassen seien aber bestrebt, „die zu entrichtenden Umlagen aus kassenindividuellem Interesse möglichst niedrig zu halten. Mehrbedarfe wurden deshalb zurückgewiesen“, heißt es in der kleinen Anfrage.«

Der Artikel bezieht sich auf die Bundestags-Drucksache 18/13595 vom 19.09.2017: „Prüfung der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung durch den Bundesrechnungshof und möglicher Handlungsbedarf“, so ist die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Linken überschrieben.

In der Anfrage selbst wird aus einem Bericht des Bundesrechnungshofes an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags zitiert ( Bericht an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages nach § 88 Absatz 2 BHO über den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, Ausschussdrucksache 18(14)265). Normalerweise ist es so, dass der Bundesrechnungshof prüft und zu dem Ergebnis kommt, dass zu viel Geld ausgegeben und zu viel Personal beschäftigt wurde. In diesem Fall stellt sich das aber anders dar:

»Der Bundesrechnungshof kam 2012 durch eine Prüfung aller 15 Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) hinsichtlich ihrer Aufgabenwahrnehmung in den Jahren von 2009 bis 2011 zu dem Ergebnis, dass deren „Mehrzahl“ über „keine ausreichenden personellen Kapazitäten“ verfügte … Wichtiger Grund hierfür sei vor allem der Zuwachs an Aufgaben …, aus dem ein steigender Personal- und Finanzbedarf folgt. Dieser solle in den Entwürfen der jeweiligen Haushaltspläne dargestellt werden … Festgestellt und beschlossen werden die Haushaltspläne von den Verwaltungsräten. Die dort vertretenen Krankenkassen sind aber bestrebt, die „zu entrichtenden Umlagen aus kassenindividuellem Interesse möglichst niedrig zu halten“ … „Mehrbedarfe […] wurden deshalb zurückgewiesen“ … Die MDK waren daher „in vielen Fällen für die von ihnen zu bewältigenden Aufgaben nicht hinreichend finanziert“ … Es komme zu einer „angespannten Personalsituation“.«

Das hat Folge, die vom Rechnungshof auch offen angesprochen wurden, u.a. aufgrund der fehlenden personellen Kapazitäten der Einsatz „externer Gutachterinnen und Gutachter“. Das hört sich unproblematischer an als es in Wirklichkeit ist:

Bei externen Begutachtungen komme es zur „Nutzung privat organisierter Begutachtungsunternehmen“ sowie zur „Einschaltung von ‚Sub-Gutachtern‘“, wodurch „nicht mehr nachvollziehbar ist, welche Person das Gutachten erstellt hat.“ Der Bundesrechnungshof sieht daher „die gesetzlich garantierte Unabhängigkeit des Medizinischen Dienstes gefährdet, wenn externe Gutachterinnen und Gutachter neben der Tätigkeit für den Medizinischen Dienst zugleich bei Leistungserbringern, etwa in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen, tätig sind“.

Wohlgemerkt, das sind keine neuen Erkenntnisse, sondern Ergebnis von Prüfungen im Jahr 2012. Die Ergebnisse des Prüfungsberichts von 2012 habe der Bundesrechnungshof „bereits in den Jahren 2013 und 2014 gegenüber den Medizinischen Diensten und dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) beanstandet“ – und das BMG hatte zugesagt, hier tätig zu werden. Dem ist aber nicht so passiert.

„In den Jahren 2015 und 2016 hat der Bundesrechnungshof die Umsetzung der vom BMG zugesagten Maßnahmen überprüft. […] Mit Blick auf die Tragweite seiner Feststellungen und einer nicht erkennbaren Verbesserung gegenüber der vorherigen Prüfung im Jahr 2012 hat der Bundesrechnungshof entschieden, den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages […] zu unterrichten“, so der Bericht des Rechnungshof.

In dem Rechnungshof-Bericht findet man den Hinweis, „dass die sämtlich unter Länderaufsichten stehenden Medizinischen Dienste in einem nicht ihrer Bedeutung für das Gesundheitswesen in Deutschland entsprechendem Maße verwaltet und finanziert wurden. Er fordert das BMG auf, seine nunmehr vorgeschlagenen Maßnahmen tatsächlich umzusetzen.“ Eine klare Ansage.

Und was antwortet nun die Bundesregierung auf die Vorwürfe?

»Die Kritik des Bundesrechnungshofs (BRH), dass die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) für ihre Aufgabenwahrnehmung nicht hinreichend finanziert sind und deshalb auf Mehrarbeit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie auch zunehmend regelhaft auf externe Gutachter zurückgreifen müssen, ist aus Sicht der Bundesregierung nachvollziehbar und wird grundsätzlich geteilt.«

Und man schiebt dann das hier nach: »Trotz der grundsätzlich berechtigten Kritik des BRH bleibt festzuhalten, der MDK ist arbeitsfähig.« Wie beruhigend.

Das ist es natürlich nicht. Die wirkliche Wirklichkeit wird dann wohl auch eher durch solche Schlagzeilen beschrieben: Die MDK-Gutachter werden knapp: »Die Medizinischen Dienste der Krankenkassen arbeiten am Anschlag.« Das auch, weil wir seit Anfang des Jahres bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit durch das Pflegestärkungsgesetz II einen Systemwechsel bekommen haben. Um feiner justieren zu können, wurden aus drei Pflegestufen fünf Pflegegrade. Und die Kriterien sind geändert worden, hin zu einer Erhebung der noch vorhandenen Selbständigkeit. Mit Beginn des laufenden Jahres schnellte die Zahl der Pflegebegutachtungen nach oben, weil mehrere hunderttausend Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, also zum Beispiel an einer Demenz erkrankte Menschen, seither Anspruch auf Leistungen aus der Sozialen Pflegeversicherung haben. Hinzu kommen anstehende gravierende Veränderungen bei den Qualitätssicherung-Prüfungen der Pflegeeinrichtungen, das Stich- oder Reizwort „Pflegenoten“ mag hie genügen.

Aber es scheint sich etwas zu tun: »Die Personalknappheit der Medizinischen Dienste wird ab November das Bundesgesundheitsministerium, die Länder und den Gesetzgeber beschäftigen. Zudem steht das Thema auf der Tagesordnung einer Arbeitssitzung der Aufsichtsbehörden der Sozialversicherungsträger ebenfalls im November.« Und aus dem BMG kommen weiterführende Signale:

»Im Gesundheitsministerium wird bereits an einem Gesetz gefeilt, das künftig den Einsatz externer Gutachter regeln soll … Zum einen wolle man „grundsätzlich erwägen“, eine Richtlinie zur Ermittlung des Personalbedarfs der Medizinischen Dienste zu erarbeiten. Gesetzlich geregelt werden sollen auch die Aufträge an externe Gutachter. Um die Unabhängigkeit der Medizinischen Dienste zu gewährleisten, wird der Ausschluss privatrechtlich organisierter Begutachtungsunternehmen aktuell zumindest nicht ausgeschlossen.«

Das muss auch in dem Kontext gesehen werden, dass den Medizinischen Diensten im dritten Pflegestärkungsgesetz weitreichende Kontrollrechte in der häuslichen Krankenpflege eingeräumt worden sind. Auslöser waren Betrugsfälle, die die Kassen möglicherweise bis zu eine Milliarde Euro gekostet haben könnten. Wobei sich das auf die häusliche Krankenpflege bezieht – aber auch aus der ambulanten Altenpflege wird immer wieder über hoch professionellen Abrechnungsbetrug berichtet. Dazu diese Hintergrund-Sendung des Deutschlandfunks vom 30.09.2017: Warum Abrechnungsbetrug in der Pflege so einfach ist. Wobei es in diesem Beitrag vor allem um die Altenpflege geht. Auch hier bestätigt der MDK, dass ihm Personal und Mittel für umfassende Kontrollen fehlen.

Und da wären wir wieder bei denen, die das finanzieren (müssen) – also die Kranken- und Pflegekassen. Von denen der MDK dann zugleich aber auch unabhängig sein muss bzw. sein soll. Da erinnert man sich dann an den Juni 2017, als die Online-Ausgabe der „Ärzte-Zeitung“ diesen Artikel veröffentlichte: Laumann will einen von den Kassen unabhängigen MDK. Gemeint ist der (damalige) Staatssekretär Karl-Josef Laumann, der Pflege- und Patientenbeauftragte der Bundesregierung. Mittlerweile ist er nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zum Arbeits- und Gesundheitsminister des Landes berufen worden.

Der MDK gehört in eine unabhängige Trägerschaft, so die damalige Vorgabe des Herrn Laumann. Er hatte darauf hingewiesen, dass der Dienst sein Budget statt von den Kassen direkt aus dem Gesundheitsfonds erhält. „Dann hängt der MDK nicht länger am Tropf der Kassen“.

Laumann steht mit dieser Forderung nicht allein: Auch Grüne wollen unabhängige Pflege-Gutachter, so bereits im Mai 2017 ein entsprechender Artikel. Allerdings weisen die Grünen auch darauf hin, dass es neben der Forderung in der nunmehr abgelaufenen Legislaturperiode keine substanziellen Schritte in diese Richtung gegeben habe. Die Krankenkassen und der Medizinische Dienst (MDK) selbst dagegen wehren sich gegen eine Neuorganisation ihres Gutachterwesens. Das muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden: »Bisher können laut Gesetz bis zu 25 Prozent der MDK-Verwaltungsratsmitglieder hauptamtlich bei den Kranken- und Pflegekassen angestellt sein. Zudem erlässt der GKV-Spitzenverband Richtlinien für den MDK.«

Handlungsbedarf wird von ganz unterschiedlichen Seiten erkannt – es bleibt abzuwarten, ob und wann sich etwas tun wird. Aber über eines sollte man sich keinen Illusionen hingeben – wenn der MDK vor dem Hintergrund der zahlreichen – und alle für sich dringenden – Aufgaben weiter so knapp gehalten wird, dann muss das Auswirkungen haben auf die, die über den MDK den Zugang zu bestimmten Leistungen bekommen (wollen bzw. müssen).

Der Tanz um die Pflegenoten und die schwierige Frage nach der Qualität „der“ Pflege

„Als ich noch zur Schule ging, konnte man eine Fünf in Mathe nicht durch Singen ausgleichen. Aber in Heimen geht das.“ 


(Staatssekretär Karl-Josef Laumann, Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung, zitiert nach Pflege-TÜV ist Laumann ein Dorn im Auge).

Das mit Noten ist ja so eine Sache – wir alle haben unsere eigenen, mehr oder weniger oder gar nicht schönen Erfahrungen und Assoziationen, wenn wir an den Notenraum von 1 bis 6 (zurück)denken. Aber davon abgesehen verstehen wir alle, was es bedeutet, eine 1 oder eine 4 oder gar eine 5 – zumeist in roter Signalfarbe – testiert zu bekommen. Und genau daran wollte man anknüpfen, als man das Anliegen hatte, die Ergebnisse von Qualitätsprüfungen der Pflegeheime und Pflegedienste, die vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) durchgeführt werden, für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen verständlich, übersichtlich und vergleichbar zu machen. Eine an sich gute Sache. Und seit 2009 werden Pflegenoten (vgl. dazu www.pflegenoten.de) nach dem Muster der Schulnoten (allerdings hört das bei der 5 auf) vom MDK verteilt. Diese Pflegenoten sollen nicht nur den Verbraucher informieren, Transparenz schaffen und die Auswahl eines Pflegedienstes und Heimes erleichtern. Sie sollen auch für Qualität sorgen, denn und auf den ersten Blick durchaus plausibel: Wer kann es sich schon leisten, dass eine schlechte Note über seine Einrichtung veröffentlicht wird?

Wie passt dann aber so eine Nachricht in diese schöne kompakte Notenwelt? In dem Artikel Umstrittenes Bonner Heim geschlossen vom 06.02.2015 wurde berichtet: Es geht um das Seniorenheim Haus Dottendorf der Dortmunder Betreibergesellschaft Senator GmbH in Bonn. »Die Bonner Heimaufsicht hatte im Januar gefährliche Mängel in der Pflege festgestellt. Im Dezember waren zwei Bewohner in der Einrichtung zu Tode gekommen, die Staatsanwaltschaft nahm die Ermittlungen auf. Die Heimaufsicht beschloss eine Teilschließung, bei der zunächst Bewohner mit den Pflegestufen zwei und drei umquartiert wurden. Nachdem erneut Mängel in der Pflege auftauchten, entschied die Aufsicht die komplette Schließung.« Die erfolgte dann im Februar 2015.

Was das mit unserem Thema zu tun hat: »Wie fast alle Einrichtungen in Deutschland hatte das Haus Dottendorf zuletzt die Bestnote 1,0 erhalten.« Ganz offensichtlich ist es gar nicht das Problem, dass eine Einrichtung vor das Problem gestellt wird, eine schlechte Note ausweisen zu müssen. Der bundesweite Durchschnitt der meist auf der ersten Seite des MDK-Prüfberichts veröffentlichten Noten liegt derzeit bei 1,3. Die Spitzennoten kommen zustande, weil pflegerische Mängel zum Beispiel durch gute Küche und Freizeitangebote ausgeglichen werden können.

Die Vorgänge um das Bonner Heim mit der Spitzen-Benotung war dann wieder einmal Auslöser einer politischen Debatte, die Pflegenoten grundsätzlich in Frage zu stellen. Anfang Februar dieses Jahres wird beispielsweise der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Jens Spahn, in dem Artikel Pflegenoten vor dem Aus? mit en folgenden Worten zitiert: „Aus heutiger Sicht muss man feststellen, dass das System der Pflegenoten gescheitert ist. Das System der Pflegenoten hat bei maximalem Aufwand und Ärger bisher nichts, aber auch gar nichts gebracht“, so Spahn.
In diesem Artikel findet man schon alle Ingredienzien der aktuellen und durchaus kontroversen Debatte über Sinn und Unsinn der Pflegenoten. Die in der großen Koalition mitregierenden Sozialdemokraten halten von einer „Fundamentalkritik“ nichts und die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Hilde Mattheis, warnt vor einer „Verteufelung“ des Instruments.

»Die Opposition übt ebenfalls heftige Kritik an den Pflegenoten: „Das System der Pflegenoten ist gescheitert. Und das war von Anfang an absehbar. Es ist schwierig, die Frage nach guter Qualität zu einer Verhandlungssache zu machen“, sagte Elisabeth Scharfenberg, pflegepolitische Sprecherin der Grünen … „Wir fordern eine sofortige Aussetzung der Veröffentlichung der Pflegenoten“, so Scharfenberg. Sie schlägt ein unabhängiges und multidisziplinär besetztes Institut für Qualität in der Pflege vor, das die künftigen Qualitätsanforderungen in der Pflegeentwickeln soll.«

Aber auch diese Position wurde vorgetragen: „Das Aussetzen der Pflegenoten ist der falsche Weg, weil damit die Transparenz für lange Zeit auf Eis gelegt würde“, so wird Peter Pick vom Medizinischen Dienst zitiert.

Ebenfalls im Februar dieses Jahres wurde erkennbar, in welche Richtung die Entwicklung geht: Pflegeorganisationen wollen mitreden, so die Überschrift eines Artikels. Sozialverbände wie der SoVD und VdK sowie der Bundesverband der Verbraucherzentralen hatten sich gegenüber der Bundesregierung positioniert: „Den Pflege-TÜV abzuschaffen, wäre fahrlässig“, so wird SoVD-Präsident Adolf Bauer zitiert. Aber: „Bereits der Verzicht auf die Gesamtnote wäre ein großer Schritt nach vorn. Denn dann wird es schwieriger, schlechte Bewertungen zu verschleiern.“

Genau das hat dann der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, aufgegriffen. Notensystem ist am Ende, so kurz und bündig Anno Fricke in der Ärzte Zeitung in einem Bericht über den Vorstoß von Laumann: »Der Pflege-TÜV wird umgekrempelt: Das umstrittene Notensystem soll nächstes Jahr abgeschafft werden, ein neues Bewertungssystem kommt aber nicht vor 2018 … Das umstrittene Bewertungssystem für Pflegeheime soll zum 1. Januar ausgesetzt werden. Eine entsprechende Regelung hat der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Staatssekretär Karl Josef Laumann (CDU) … angekündigt.«

Diese Ankündigung kann man im Original hier nachlesen: Endlich gute Pflege erkennen – Neues Konzept für den Pflege-TÜV, so ist die Pressemitteilung von Laumann überschrieben. Zu Beginn des kommenden Jahres soll zunächst ein Pflegequalitätsausschuss errichtet werden, der bis Ende 2017 ein neues Qualitätsprüfungs- und Veröffentlichungssystem ausarbeiten soll. Laumann schlägt vor, den Ausschuss beim Pflegebevollmächtigten anzusiedeln – also bei sich selbst. Statt der wenig aussagefähigen Gesamtnoten soll spätestens ab kommendem Januar eine Kurzzusammenfassung der Prüfergebnisse auf dem Deckblatt der Prüfberichte stehen.

Wie aber stellt sich Laumann eine Neukonzeption des Pflege-TÜV vor?

Zum 1. Januar 2016 soll eine Pflegequalitätsausschuss eingerichtet werden, der ein neues Qualitätsprüfungs- und Veröffentlichungssystem für Pflegeeinrichtungen berät und als Richtlinie beschließt. In diesem Ausschuss müssen neben den Einrichtungs- und Kostenträgern künftig auch die Verbände der Pflegebedürftigen und der Pflegeberufe gleichberechtigt mit Stimmrecht vertreten sein. Der Pflegequalitätsausschuss erhält eine gesetzliche Frist bis 31. Dezember 2017, um die Richtlinie für ein neues Qualitätsprüfungs- und Veröffentlichungssystem zu erlassen, wenn er das nicht schafft, dann kann das Bundesgesundheitsministerium auf dem Wege der Ersatzvornahme eine solche in die Welt setzen. Und dann kommt in der Pressemitteilung des Pflegebevollmächtigten eine aufschlussreicher Passus:

»Der Pflegequalitätsausschuss wird bei seiner Arbeit durch ein neu zu gründendes Pflegequalitätsinstitut mit unabhängigen Wissenschaftlern unterstützt … Das Institut muss schlank sein und aus bereits vorhandenen Mitteln finanziert werden.«

Das hört sich nicht beruhigend an. Ein „schlankes“ Institut, das „aus bereits vorhandenen Mitteln finanziert werden“ muss. Was soll da angesichts der Komplexität des Thema herauskommen?

Natürlich haben sich die Bedenkenträger sogleich zu Wort gemeldet: Dem neuen, geplanten Pflegequalitätsausschuss begegnen die gesetzlichen Krankenkassen mit Skepsis, wie man dem Artikel  GKV pocht auf Staatsferne entnehmen kann. »Der GKV-Spitzenverband reklamiert die Zuständigkeit für eine Reform des Bewertungssystems für Pflegeheime für sich …  dem GKV-Spitzenverband sollte im Rahmen einer Richtlinienkompetenz der Auftrag erteilt werden, für die Pflegetransparenz die Kriterien der Veröffentlichung einschließlich der Bewertungssystematik zu entwickeln.«

Zur Einordnung sollte man wissen: »Für die Entwicklung des aktuell geltenden Bewertungssystems wurden der GKV-Spitzenverband, die kommunalen Spitzenverbände, Sozialhilfeträger und 14 Pflegeverbände mit unterschiedlichen Interessenslagen an den Verhandlungstisch gezwungen. Ihre Entscheidungen über ein Bewertungssystem müssen seither einstimmig gefällt werden. Das lässt wunderliche Kompromisse blühen … nach wie vor werden die Transparenzkriterien dieses Marktes in der beschriebenen Konstellation reguliert. Das musste schief gehen.«, so Anno Fricke in seinem Artikel Eine Ad hoc-Reform überfordert das System.

Wenn man sich den – wohlgemerkt – Vorschlag von Laumann anschaut, wie eine Neukonzeption des Pflege-TÜV erfolgen soll, dann wird schnell erkennbar, dass die von Fricke kritisch beschriebene Konstellation fortgeschrieben und sogar angereichert werden soll um „Verbände der Pflegebedürftigen und der Pflegeberufe“, was die Komplexität weiter erhöhen würde.

An dieser Stelle sei der Hinweis erlaubt, dass eine fundamentale Infragestellung des Systems der Pflegenoten keine neue Erkenntnis ist, sondern wertvolle Zeit für einen anderen Ansatz verloren wurde. Am 31. März 2011 veröffentlichte der bekannte Pflegeexperte Thomas Klie ein Moratorium Nein zu Pflege-Noten mit 10 Argumenten. Daraus nur einige Aspekte:

»Die Qualitätsprüfungen und die Pflegenoten sollen auf wissenschaftlich fundierter Basis ermittelt werden – so der Gesetzgeber. Selbst die Pflegekassen gestehen ein, dass es derzeit keine validen Grundlagen für Qualitätsindikatoren hinsichtlich der Ergebnisqualität in der Pflege gibt … Über die Kriterien in den Transparenzberichten und die Pflegenoten sollen sich Pflegekassen und Pflegeheime und -dienste verständigen. Sie sind Pflegesatzparteien. Sie verfolgen jeweils auch ökonomische Interessen. Sie sind nicht die geeigneten Akteure, um unabhängig relevante Kriterien für die Lebens- und Versorgungsqualität zu definieren. Den state-of-the-art, den Stand der Künste, kann man nicht im Konsens zwischen Kostenträger, Leistungsträger und Leistungserbringer verhandeln … Es ist ordnungspolitisch falsch, die Leistungsträger, die Pflegekassen, mit der Aufgabe des Verbraucherschutzes zu betrauen. Notengebung außerhalb der Schule ist nicht Sache des Staates, sondern Sache eines unabhängigen Verbraucherschutzes. Den Pflegekassen ist in Fragen der Pflege eine hochproblematische Omnipotenz zugeordnet, die angesichts ihrer begrenzten Leistungen und ihrer fiskalischen Steuerungsinteressen unangemessen ist … Qualitätsprüfungen und insbesondere die Pflegenoten führen zu einer Aufmerksamkeitsverlagerung sowohl in den Diensten und Einrichtungen als auch in der Öffentlichkeit. Für relevant wird das erklärt, was geprüft wird. Pflegedienste und Heime lernen, wie man gute Noten erzielt, und dies unabhängig von den Qualitätseffekten für die Pflegebedürftigen. Der bürokratische Aufwand ist enorm, der Aussagewert der Pflegenoten in der Tendenz immer unbedeutsamer … Die Prüflogik führt zu einer gefährlichen Konzentration auf eine Pflege, die im Zentrum nicht mehr der Beantwortung der komplexen Situationen und Bedürfnisse Pflegebedürftiger gilt, sondern sich an den Erfordernissen von Prüfsituationen und –katalogen ausrichtet … Der bürokratische Aufwand, der mit den Qualitätsprüfungen verbunden ist, ist gigantisch. Nicht nur die Pflegedokumentation – unbestritten wichtig als professionelles Arbeitsmittel in der professionellen Pflege – wird mit Blick auf die Qualitätsprüfungen zum Zeitfresser, auch die Prüfungen selbst und die Auseinandersetzung mit den Prüfinstanzen binden Zeit und mindern die Zuwendung für den Menschen, um den es geht. Der Aufwand für die Qualitätsprüfungen und die Ermittlung von Pflegenoten steht in keinem Verhältnis zum Ertrag für die auf Pflege angewiesenen Menschen.«

Es gab also von Anfang an und frühzeitig eine fundierte mehrdimensionale Kritik an den Pflegenoten, aus der sich schon längst hätte ableiten lassen müssen, dieses System einzudampfen.

Und wieder zurück in die Gegenwart: Der von vielen sicher begrüßte Vorstoß des Pflegebeauftragten der Bundesregierung hinsichtlich einer Aussetzung der Pflegenoten zum 1. Januar 2016 und dem beschriebenen Verfahren einer Neukonzeption stößt nicht nur auf den Widerstand innerhalb der eigenen Regierung, also bei der SPD, sondern die Aufgabe eines „Systemwechsels“, der allerdings nur in Aussicht gestellt wird, weil noch gar kein anderes System entscheidungsreif vorliegt, muss bewältigt werden in einem sehr schwierigen Umfeld, in dem sich die Pflege befindet. Der Streit über den Pflege-TÜV versperrt die Sicht auf die eigentliche Reformbaustelle, meint Anno Fricke. Er sieht das eingebettet in diese Herausforderungen – wobei er Pflege nicht nur begrenzt auf die Altenpflege:

1. »Es gibt keine einheitliche Vorstellung von der Qualität, die Pflege leisten sollte. Die Aufteilung des Pflegekomplexes auf mehrere Sozialgesetzbücher verhindert Pflegepolitik aus einem Guss.« Beispiel: »Der Gemeinsame Bundesausschuss kann Qualitätssicherungsvorgaben zum Beispiel für die Dekubitusprophylaxe in Krankenhäusern beschließen, in die Altenpflege- oder Rehabilitationseinrichtungen hinein reicht sein Einfluss nicht.«

2. »Um Qualität herzustellen, bedarf es Personal, Arbeitszeit und Material. Die ersten beiden Güter sind äußerst knapp. In den Krankenhäusern verändern sich die Personalschlüssel kontinuierlich zuungunsten der Pflege.« Und die Perspektiven sind düster: »Spätestens 2018, so die Berechnungen, werde dem Pflegearbeitsmarkt die Luft ausgehen.«

3. »Den Pflege-TÜV zu streichen bringt nicht über Nacht ein neues Bewertungssystem hervor. Es ist richtig, die Gesamtnoten in Frage zu stellen … Im Gespräch ist nun, eine Gruppe von Pflegewissenschaftlern ein neues Notenschema ausarbeiten zu lassen. Mit dem nach dem Bielefelder Wissenschaftler Dr. Klaus Wingenfeld benannten Modell liegt allerdings schon eine im Feldversuch erprobte Alternative vor. Es stützt sich auf eine Reihe von Indikatoren zur Messung von Ergebnis- und Lebensqualität.« Zum Wingenfelder Modell vgl. beispielsweise die Studie Entwicklung und Erprobung von Instrumenten zur Beurteilung der Ergebnisqualität in der stationären Altenhilfe aus dem Jahr 2011.

4. »Kosten und Nutzen von Qualität in der Pflege sind höchst unterschiedlich verteilt … Von der Steigerung der Qualität hat der Anbieter jedoch nicht direkt etwas. Den Nutzen heimsen die Gepflegten und die Krankenkassen ein, die weniger Geld für Krankenhauseinweisungen und Arztbehandlungen aufwenden müssen. Hier liegt Potenzial für Wettbewerb über leistungsorientierte Vergütungen für Einrichtungen mit ausgewiesen hoher Qualität … «

Fazit: Weg mit den Pflegenoten? Experten uneins, so auch die Überschrift eines Artikels, der über eine entsprechende Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestages berichtet. Während die Fraktion der Grünen die unmittelbare Aussetzung der Pflegenoten fordern, warnt der GKV-Spitzenverband vor einer Abschaffung der Noten: »Dann bestünde die Gefahr, dass Verbraucher mehrere Jahre keine Anhaltspunkte hätten, um Einrichtungen zu vergleichen. Auch der Sozialverband VdK plädierte dafür, „nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten“. Prüfungen seien wichtig zum Schutz der Menschen.«

Wie auch immer das ausgehen wird, absehbar ist eine nächste Runde der mehr als mühsamen Erarbeitung von Prüfungskriterien in einem ähnlichen, sogar noch erweiterten institutionellen Setting, das auch schon den ersten Versuch produziert hat. Und vielleicht wird es auch zu einer stärkeren „Verstaatlichung“ dergestalt kommen, dass das Bundesgesundheitsministerium mit dem Damoklesschwert der „Ersatzvornahme“ hantieren kann.

Aber das alles verbleibt gewissermaßen im bestehenden System – und das bewegt sich in den gängigen Vorstellungen von Qualität als eine Komposition aus Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. Beschränkt man sich darauf, dann wird man in der Pflege (aber auch in vielen anderen Bereichen der personenbezogenen Dienstleistungen) immer wieder mit dem dilemmatischen(?) Grundproblem konfrontiert werden, wie man denn die Ergebnisqualität abbilden kann. An dieser Stelle stehen auch andere Bereiche, hier sei nur beispielhaft auf die Diskussion über „Qualität der Krankenhausbehandlung“ hingewiesen. Dazu die Gesprächssendung Auf Herz und Nieren: Lässt sich die Qualität von Krankenhäusern messen? (SWR, 21.05.2015), u.a. mit Dr. Christof Veit, dem Leiter des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG), das eine wichtige Rolle in der zukünftigen Qualitätsmessung im Gesundheitswesen einnehmen soll und wird.

Man kann sicher noch mehr optimieren, genauer werden und besser messen. Keine Fragen. Aber ein Grundzweifel bleibt. Es ist erwartbar, dass die Systeme sich in diese Richtung werden entwickeln müssen – aber ist das auch wirklich anstrebenswert? Besteht nicht die Gefahr, dass die eigentlichen Qualitätsfragen dadurch gar nicht mehr gestellt, geschweige denn beantwortet werden können, weil sie nicht zugelassen sind in dem immer enger eingezäunten Gelände dessen, was wir messen?
Dieser Grundzweifel findet Nahrung in dem folgenden der zehn Punkte, die der Pflegeexperte Thomas Klie in seinem Moratorium Nein zu Pflege-Noten aus dem Jahr 2011 so formuliert hat:

»Das Konzept der Pflegenoten basiert auf einem Verständnis von Pflege als marktgängige Dienstleistung. Ein solches Verständnis von Pflege greift sowohl fachlich als auch gesellschaftlich und kulturell zu kurz. Es reflektiert nicht das, was lebensweltlich für Menschen mit Pflegebedarf individuell bedeutsam ist, was es an unterschiedlichen kulturellen Prägungen zu respektieren gilt, was im Gesetz als zu entwickelnde Kultur des Helfens verankert ist. Es sieht nicht den auf Pflege angewiesenen Menschen als Koproduzent und vernachlässigt die Qualitätsverantwortung von Angehörigen und Bürgerschaft. Pflege ist mehr als Dienstleistung. In der Pflege zeigt sich die Solidaritätsbereitschaft und Mitverantwortung von Angehörigen und Bürgerinnen und Bürgern. Die Pflegenoten reduzieren Pflege auf eine Dienstleistung, gaukeln eine Souveränität der Kunden vor und gehen an den zentralen – infrastrukturellen – Entwicklungsaufgaben vorbei.«

Pflege-TÜV: Die Pflegenoten werden abgeschafft. Gut. Und jetzt?

Es war tatsächlich kein Aprilscherz, als der Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Staatssekretär Karl-Josef Laumann, am 1. April mitteilen ließ: »Die Pflegenoten werden durch eine gesetzliche Regelung zum 1. Januar 2016 ausgesetzt, da sie keinen echten Qualitätsvergleich zwischen Einrichtungen ermöglichen.« Weg damit. Angesichts der Tatsache, dass die bundesdeutsche Durchschnittsnote über alle Einrichtungen mit hervorragenden 1,3 ausgewiesen wird, bekommt dieses Vorhaben den Charakter einer konsequenten Entscheidung, denn was sagt denn so etwas noch wirklich aus? Haben wir wirklich paradiesische Qualitätszustände in den Pflegeeinrichtungen, was diese Bewertung nahelegt? Was ist dann mit den unzähligen Berichten über teilweise eklatante Pflegemissstände? Alles nur Ausnahmen? Wohl kaum.

Vor diesem Hintergrund wurde die Ankündigung von vielen begrüßt: Notensystem ist am Ende, so ist ein Bericht dazu in der Ärzte Zeitung überschrieben. Zugleich findet man da aber auch den Hinweis: »Das umstrittene Notensystem soll nächstes Jahr abgeschafft werden, ein neues Bewertungssystem kommt aber nicht vor 2018.« Als „Übergangslösung“ wird eine gesetzliche Regelung in Aussicht gestellt, nach der Kassen und Pflegeeinrichtungen die Prüfergebnisse des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen in der bisherigen Form weiterhin veröffentlichen sollen, allerdings ohne die viel kritisierte Durchschnittsnote. Man kann an dieser Stelle schon die Frage aufwerfen, warum das Notensystem erst zum 1. Januar 2016 eingestellt und nicht sofort suspendiert wird.

2009 wurde das Notensystem eingeführt. Und steht seitdem in der Kritik. »Das System ermöglicht  selbst Heimen mit erheblichen Mängeln, eine gute Gesamtnote zu erzielen. Denn die Dutzenden Kriterien zur Notenvergabe sind untereinander nicht gewichtet«, so Berit Uhlmann in ihrem Artikel Pflegenoten werden wieder abgeschafft. Es geht immerhin um 77 Einzelwerte, die in einen Topf geworfen werden. »Die Spitzennoten kommen zustande, weil pflegerische Mängel zum Beispiel durch gute Küche und Freizeitangebote ausgeglichen werden können. Erst im Februar war in Bonn ein Pflegeheim wegen unhaltbarer Pflegemängel geschlossen worden, das mit einer Einser-Note für sich werben konnte«, so Anno Fricke in seinem Artikel. Ein anderes Bild: »Es wirkt so, als hätte der Bundestag vor mehr als 50 Jahren die Stiftung Warentest mit der Vorgabe aus der Taufe gehoben, nie ein Produkt schlechter als gut zu bewerten«, verdeutlicht Anno Fricke in dem Artikel Eine Ad hoc-Reform überfordert das System.
Aber was soll an die Stelle dessen gesetzt werden, was bislang über den Pflege-TÜV mit Notensystem erreicht werden sollte?

Eine der Lebensweisheitsempfehlungen lautet: Wenn man nicht mehr weiter weiß, dann gründet man einen Arbeitskreis. Offenbar will man diesem Motto auch diesmal eine Bühne geben:

»Zum 1. Januar 2016 soll ein „Pflegequalitätsausschuss“ gegründet werden, der Kriterien für künftige Heim-Prüfungen erarbeitet. In diesem Ausschuss sollen auch die Verbände der Pflegebedürftigen und der Pflegeberufe gleichberechtigt vertreten sein … Das Gremium wird bei seiner Arbeit durch ein neu zu gründendes „Pflegequalitätsinstitut“ mit unabhängigen Wissenschaftlern unterstützt. Bis Ende 2017 soll der Ausschuss seine Vorschläge vorlegen«, so Uhlmann in ihrem Artikel.

Zu dem angekündigten neuen „Pflegequalitätsinstitut“ kann man beim Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung lesen: »Das Institut muss schlank sein und aus bereits vorhandenen Mitteln finanziert werden.«

Der Pflegebeauftragte skizziert den zu gründenden Arbeitskreis so: »Zum 1. Januar 2016 wollen wir deshalb einen Pflegequalitätsausschuss errichten, der ein neues Qualitätsprüfungs- und Veröffentlichungssystem für Pflegeeinrichtungen berät und als Richtlinie beschließt. In diesem Ausschuss müssen neben den Einrichtungs- und Kostenträgern künftig auch die Verbände der Pflegebedürftigen und der Pflegeberufe gleichberechtigt mit Stimmrecht vertreten sein.« Es geht also primär um eine institutionelle Veränderung, inhaltliche Fragen sollen an das zu schaffende Gremium delegiert werden. Aber die kurze Beschreibung offenbart natürlich auch schon eine erwartbare und aus der Vergangenheit bekannte Schwachstelle dieses Ansatzes, denn es sind vorrangig Interessenvertreter, die in dem Gremium platziert werden und dort natürlich versuchen müssen, ihre eigenen Interessen zu vertreten. Wozu das bereits in der Vergangenheit geführt hat, wird an dem folgenden Zitat erkennbar, entnommen dem Beitrag „Ungenügend“ von Udo Ludwig et al. aus der Print-Ausgabe des SPIEGEL (Heft 15/2015, S. 46):

»Der CDU-Sozialexperte Willi Zylajew plädiert dafür, beide Seiten, Kassen wie Heime, aus der Überprüfung herauszuhalten. Die Politik solle über ein neues Bewertungssystem bestimmen, „die Selbstverwaltung ist gescheitert“. Zylajew, früher in der Caritas zuständig für mehrere Pflegeheime, hatte im Jahr 2008 für die Union den Pflege-TÜV mit ausgehandelt. Vernünftige Vorschläge seien damals untergegangen, etwa die Forderung nach unangekündigten Kontrollen abends und an den Wochenenden.«

Steht so etwas wieder vor der Tür? Überraschend wäre das nicht. Ein Teil der Akteure beginnt sich bereits zu positionieren: »Der GKV-Spitzenverband will die Entwicklung eines neuen Pflege-TÜVs dominieren«, meldet die Ärzte Zeitung in einem Artikel. Ganz unbescheiden plädiert man dafür, dass »dem GKV-Spitzenverband … im Rahmen einer Richtlinienkompetenz der Auftrag erteilt werden (sollte), für die Pflegetransparenz die Kriterien der Veröffentlichung einschließlich der Bewertungssystematik zu entwickeln.« Gegen dieses Dominanzstreben regt sich natürlich sofort der Widerstand der Anbieter von Pflegeleistungen, die aus ihrer Sicht verständlich an der Entwicklung und gesetzgeberischen Definition von messbaren Qualitätskriterien beteiligt werden wollen.
Insofern überraschen solche Frontstellungen nicht, von denen der SPIEGEL berichtet:

»Interessenvertreter haben ihre Wünsche bereits formuliert. Die Pflegekassen wollen, dass der Einfluss der Heimträger beschnitten wird: Es gebe keine objektiven Noten, wenn die Kontrollierten mitentscheiden dürfen, wie und was kontrolliert wird. Die Vertreter der Pflegeheime dagegen möchten die Macht der Kassen beschneiden: Die Prüfer des Medizinischen Dienstes der Pflegekassen seien schon mächtig genug – und denen gehe es nicht um Qualität, sondern um Kostensenkung.«

Bereits im Jahr 2008 wurde der Wissenschaftler Klaus Wingenfeld von der Universität Bielefeld beauftragt, ein alternatives Bewertungsmodell zu entwerfen. 250 Pflegeheime in Deutschland wenden es heute an. »„Wir beurteilen nicht die Dokumentationsarbeit der Mitarbeiter, sondern das Ergeb- nis der Pflege, indem wir uns alle sechs Monate die Akten der Pflegeheimbewohner ansehen“, sagt Wingenfeld. Auch die Statistiken jeder Einrichtung würden ausgewertet, etwa über Stürze und Druckgeschwüre, ganz wichtig sei zudem, wie sich die Mobilität der Bewohner entwickelt habe. Am Ende stehe eine von drei Bewertungen: unterdurchschnittlich, durchschnittlich, überdurchschnittlich.« Er könne sich vorstellen, »dieses System durch Sterne zu ersetzen, wie bei Hotels. In den USA habe sich ein Fünfsternesystem bewährt.«

Wie dem auch sei und was immer als neues System auf die Welt gebracht wird – man muss sich wohl eingestehen, dass eine wirkliche Qualitätssicherung nur von innen durch eine Internalisierung bem Personal und in der Unternehmenskultur sowie zugleich durch permanente Begleitung von außen, also vor allem durch Angehörige und durch kommunale „Kümmerer“, erreicht werden kann.