Von Jobcentern, nach denen nichts mehr kommt, zukünftigen Modellprogrammen, die bisherige Modellprogramme substituieren und dem ewigen Dilemma von Person und System oder Angebot und Nachfrage. Und von ganz unterschiedlichen Menschen

»Es gibt einen Anreiz, all jene zu vernachlässigen, bei denen eine Vermittlung eher unwahrscheinlich oder ausgeschlossen ist. Genau diese Leute werden aber in Zukunft das größte Problem sein.«
Einer von mehreren wichtigen Sätzen in einem Interview mit dem Jobcenter-Leiter von Gelsenkirchen, Reiner Lipka, das unter der bezeichnenden Überschrift „Wir versündigen uns“ veröffentlicht worden ist.

Der Hinweis auf die seiner Meinung nach falschen bzw. problematischen Anreize beziehen sich nicht auf irgendwelche Dritte, sondern auf die Institution, in der er selbst arbeitet: »… weil wir zu sehr auf die Arbeitslosenzahlen fixiert sind, tun wir im Moment zu oft das Falsche … Die Jobcenter in Deutschland konzentrieren sich darauf, so viele Menschen wie möglich in Arbeit zu bringen. Danach werden wir alle bewertet, es gibt Rankings: Je weniger Arbeitslose, desto besser.«

Aber er bleibt nicht im Abstrakten stecken, sondern verdeutlicht am Beispiel seiner Stadt Gelsenkirchen, dass es hier um Menschen geht, mit ihren eigenen Geschichten, zugleich eingebettet in eine Umgebung, die für viele der Betroffenen gar nicht erst den Hauch einer Chance eröffnen kann:

»Wenn Sie von hier durch die Fußgängerzone zum Bahnhof gehen, können Sie die Transferempfänger abzählen: Jede vierte Familie in Gelsenkirchen bekommt Hartz IV, viele davon seit Jahren. Wir haben in Gelsenkirchen durch den Wegfall der Zechen und Montanarbeitsplätze 60.000 Arbeitsplätze verloren. Danach hat die Stadt versucht, neue Branchen anzuziehen: Glasindustrie, Bekleidungsindustrie, Solartechnik. Das hat alles nicht funktioniert. Deshalb haben wir heute 75.000 sozialversicherungspflichtige Jobs und 32.000 Hartz-IV-Empfänger.«

Was das für den einzelnen Menschen bedeuten kann, illustriert Lipka an diesem Beispiel:

»Das ist … die 50-jährige alleinstehende Frau, die früher in der Bekleidungsindustrie gearbeitet hat und heute keine Stelle findet. McDonald’s nimmt sie nicht, weil sie dem Unternehmen nicht gut genug ist. Das Callcenter will sie nicht, weil ihre Sprachkompetenz nicht ausreicht. In die Gastronomie können wir nicht vermitteln, weil das Aussehen nicht dem entspricht, was der Arbeitgeber sich wünscht. Es ist doch zynisch, dieser Frau zu sagen: „Jetzt streng dich doch mal was an.“«

Oder wie wäre es mit den Männern, die jahrelang an der Blechpresse gearbeitet haben, die es heute nicht mehr gibt?

Das Gelsenkirchener Jobcenter muss sich eben nicht um „die“ Hartz IV-Empfänger kümmern, den „den“ Hartz IV-Empfänger gibt es nicht. Sondern vor Ort sieht es aus seiner Perspektive so aus:

»Von den 32.000 Hartz-IV-Empfängern können wir 8.000 gar nicht vermitteln, weil sie etwa krank sind oder als 18-Jährige noch zur Schule gehen. Bleiben 24.000. Die besten 6.000 davon können wir noch in Arbeit bringen, wenngleich oft nur für kurze Zeit. Im Durchschnitt sind die Leute fünf Monate beschäftigt, bis sie zu uns zurückkommen.«

Das stellt sich natürlich die Frage: Was tun? Wie kann, wie muss man sich als Jobcenter aufstellen?
Auch dazu hat er eine klare Meinung:

»Die Arbeitsvermittler sind doch heute längst nicht mehr nur Arbeitsvermittler. Sie sind Lehrer, Seelsorger, alles in einem. Die Bundesagentur stellt sich zwar noch immer auf den Standpunkt, dass wir Arbeitsvermittler nicht die Reparaturkolonnen der Republik sein können. Die Frage lautet aber: Wer soll es sonst sein? Nach uns kommt doch keiner. 40 Prozent aller Kinder, die in Gelsenkirchen geboren werden, wachsen in einer Hartz-IV-Familie auf. Ich würde gerne wissen: Was soll aus denen werden?«

Und das leitet über zu dem, was er an Handlungsnotwendigkeiten und Handlungsmöglichkeiten für die Arbeitsvermittlung im Jobcenter sieht.

Er plädiert zum einen deutlich für mehr öffentlich geförderte Beschäftigung: »Wir brauchen wieder mehr öffentliche Beschäftigung. Wenn die Unternehmen die Jobs nicht schaffen, muss es eben der Staat tun. Wir haben so viele Arbeitslose, die gerne etwas tun würden – sie wären so dankbar. Und wir sollten darüber nachdenken, ob reichere Kommunen nicht den ärmeren helfen können.«
Dies zu fordern ist wichtig und setzt einen Punkt – genau so wie die Stellungnahme des nordrhein-westfälischen Arbeitsministers Guntram Schneider (SPD):

»In NRW fehlen Möglichkeiten, Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose zu schaffen. Derzeit seien in NRW rund 300.000 Langzeitarbeitslose gemeldet, sagte Arbeitsminister Guntram Schneider (SPD) … Das sei etwa ein Drittel der bundesweit Betroffenen. „Wir haben eben andere Verhältnisse als in München oder auf der Schwäbischen Alb“, sagte Schneider dazu. Der Bund müsse mehr Mittel bereitstellen – vor allem für Nordrhein-Westfalen. Nötig seien Zehntausende Plätze im sogenannten sozialen Arbeitsmarkt.« (Quelle: Langzeitarbeitslosigkeit: Schneider fordert Hilfe vom Bund)

Die Problemlage in NRW schreit förmlich nach Initiativen in diesem Bereich: »NRW hat deutschlandweit die meisten Langzeitarbeitslosen: 40 Prozent der 777.000 Arbeitslosen waren Ende Juli bereits länger als ein Jahr ohne Arbeit. Die Bundesagentur für Arbeit sieht das Hauptproblem in der fehlenden Ausbildung. 60 Prozent der Langzeitarbeitslosen in NRW haben keine berufliche Ausbildung – bei Arbeitslosen unter 25 Jahren haben sogar 75 Prozent keine Berufsaubildung. „51 Prozent der Arbeitslosen suchen eine Helferstelle, wir haben aber insgesamt nur 15 Prozent Angebote für Ungelernte“, warnte  Werner Marquis von der NRW-Regionaldirektion der Bundesanstalt«, so Wilfried Giebels in seinem Artikel Fast jeder zweite Arbeitslose in NRW findet keinen neuen Job.

Hintergrund der Forderung nach mehr öffentlicher Beschäftigung ist die Berichterstattung über erhebliche Kürzungen im Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung (über die übrigens schon seit langem fundiert auf der Website O-Ton Arbeitsmarkt informiert wird), so beispielsweise in dem FAZ-Artikel Regierung fördert Langzeitarbeitslose weniger, der sich auf die Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Brigitte Pothmer von den Grünen stützt:

»Während vor vier Jahren noch gut 350.000 Langzeitarbeitslose etwa mit geförderten Arbeitsgelegenheiten oder sogenannter Bürgerarbeit auf eine neue Beschäftigung vorbereitet wurden, waren es zur Jahresmitte 2014 nur noch 136.000 … Die seinerzeit von der schwarz-gelben Regierung beschlossenen Einschnitte haben sich nach dem Regierungswechsel fortgesetzt: Allein seit Mitte 2013 ging die Zahl der geförderten Stellen um 26.500 oder gut 16 Prozent zurück.«

An dieser Stelle kann und muss man dann aber auch die Frage stellen, warum denn die nordrhein-westfälische SPD, die ja in der deutschen Sozialdemokratie nicht ganz unbedeutend ist, nicht viel stärker bei den Koalitionsverhandlungen auf Schritte hin zu einer anderen und für mehr öffentlich geförderte Beschäftigung gedrängt hat. Die SPD hat aber bei den Koalitionsverhandlungen im vergangenen Jahr dieses Thema nicht mal ansatzweise verfolgt, offensichtlich waren Mindestlohn und „Rente mit 63“ wesentlich wichtiger und kräftezehrender, obgleich sie noch bis zur Bundestagswahl in der Opposition heftig für einen „sozialen Arbeitsmarkt“ geworden hat. Die Kritik an dem bisherigen Nichtstun der sozialdemokratischen Bundesarbeitsministerin Nahles im Bereich der Förderung von Langzeitarbeitslosen ist wohl mittlerweile in Berlin angekommen und das Ministerium versucht nun, beruhigend zu wirken, was man bekanntlich am besten dadurch macht, dass man energische Aktivitäten – ankündigt, die am besten auch noch von Dritten bezahlt werden (müssen). Dann kommen solche Artikel auf den Markt: Andrea Nahles plant neues Programm für Langzeitarbeitslose. Zum Jahresende. Natürlich lohnt es sich, nicht nur die Überschriften, sondern weiter im Text zu lesen: »Das Bundesarbeitsministerium will dem zum Jahresende auslaufenden Förderprogramm „Bürgerarbeit“ für Langzeitarbeitslose ein neues nachfolgen lassen. Das neue Programm im Rahmen des Europäischen Sozialfonds (ESF) solle im Herbst vorgestellt werden, sagte eine Sprecherin des Ressorts am Freitag in Berlin.« Also im Klartext: Ein altes Programm fällt weg, ein neues ist auf dem Weg.

Unbestreitbar hat sich der Problemdruck dergestalt weiter erhöht, dass wir eine nicht wegzudiskutierende Verfestigung und Verhärtung der Langzeitarbeitslosigkeit beobachten müssen, eine dauerhaft exkludierte Gruppe von Arbeitslosen, für die dann auch noch parallel die Förderangebote eingedampft worden sind. Hinzu kommt, dass das Förderrecht für Maßnahmen im SGB II in den vergangenen Jahren weiter restriktiv ausgestaltet wurde seitens des Gesetzgebers, mit der Folge, dass vieles Sinnvolles gar nicht gemacht werden darf und das, was man noch machen darf, dadurch, dass es ganz weit weg sein muss vom „normalen“ Arbeitsmarkt, nicht unbedingt integrationsfördernd wirkt, was man aber bei Bedarf, z.B. wenn man sparen will, den Maßnahmen wieder in die Schuhe schieben kann.

Ein aktuelles Beispiel für dieses perfide Vorgehen liefert bezeichnenderweise jemand, der ganz genau weiß, wie das läuft – Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit (BA) und für das SGB II zuständig: »Die geförderten Arbeitsgelegenheiten, im Volksmund „Ein-Euro-Jobs“ genannt, führten, statistisch gesehen, in weniger als zehn Prozent der Fälle zu einem erfolgreichen Einstieg in eine sozialversicherungspflichtige Arbeit. „Sie führen eher zu einer Parallelarbeitswelt“, sagte Alt«, wenn man dem Artikel Regierung fördert Langzeitarbeitslose weniger von Dietrich Creutzburg folgt. Nein, Herr Alt, so geht das nicht. Das ist eine bewusste Schützenhilfe für die Regierung wider besseren Wissens, denn: Die beklagte Parallelarbeitswelt wird doch von den förderrechtlichen Vorgaben des Gesetzgebers und der Umsetzung in den Jobcentern verursacht, man denke hier nur an die Auswirkungen von „Wettbewerbsneutralität“ und „Zusätzlichkeit“, eine Kritik, die von 99,1% der Experten, die sich in diesem Bereich wirklich auskennen und arbeiten, bestätigt werden wird. Und das weiß auch der Herr Alt. Und zweitens: Gerade die Arbeitsgelegenheiten („Ein-Euro-Jobs“) sollen/müssen auf Zielgruppen unter den Langzeitarbeitslosen angewendet werden, bei denen es oftmals aufgrund ihrer „Vermittlungshemmnisse“, wie das im Amtsdeutsch heißt, gar nicht um eine kurz- oder vielleicht mittelfristige Integration in eine „richtige“ Erwebsarbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt geht und gehen kann, sondern um Vorstufen, die mal hoffentlich dort enden, also um eine Stabilisierung der Erwerbsfähigkeit. Dann müsste man aber den „Erfolg“ dieser Maßnahmen ganz anders messen und darf das nicht reduzieren auf eine Zielgröße, die gar nicht mit der Maßnahme verbunden war. So was nennt man Rosstäuscherei.

Von interessierter Seite werden solche zusammengebogenen „Argumente“ gerne benutzt, um eine ziemlich uninformierte Sicht auf die Dinge unter die Leute zu bringen. So kann man bei Dietrich Creutzburg lesen, der extra einen Kommentar unter dem bezeichnend-zynischen Titel „Produktiver Stellenabbau“ verfasst und veröffentlicht hat: »… was die alte Regierung aus Union und FDP im Zuge eines Sparpakets begonnen hatte, setzt die neue Regierung mindestens bis dato fort. So viel Konsequenz verdient Respekt. In der aktuellen Arbeitsmarktlage gibt es … auch keinen Grund, Arbeitslose massenhaft in Beschäftigungstherapien fest- und damit aus der Arbeitslosenstatistik herauszuhalten.«

Aber abschließend wieder zurück zu Reiner Lipka vom Jobcenter in Gelsenkirchen. Er hat Ideen und probiert diese auch aus, wie man anders umgehen kann mit den Langzeitarbeitslosen – zugleich ist das ein lehrreiches Beispiel für ein letztendlich nicht lösbares Grunddilemma von Arbeitsmarktpolitik, wenn sie denn fokussiert wird (bzw. werden muss) auf die „Angebotsseite“ des Arbeitsmarktes, also auf die Arbeitnehmern und die Arbeitslosen und gleichzeitig kaum oder keine Instrumente auf der Nachfrageseite hat, also bei den Arbeitsplätzen.

Lipka bezieht sich explizit auf den aus dem angelsächsischen Raum kommenden „Work-first“-Ansatz, keineswegs eine irgendwie neue Erfindung (vgl. dazu beispielsweise bereits den Beitrag Der „Work first“-Ansatz für erwerbsfähige Leistungsberechtigte im SGB II, der 2011 in der Zeitschrift G.I.B-Info veröffentlicht worden ist oder auch die Darstellung bei Frank Nitzsche: „Es ist Ihr Job, einen Job zu finden“. Positive Bilanz nach 18 Monaten Modellprojekt „Ansätze zur Aktivierung und berufliche Eingliederung als eigenständige Dienstleistung der Jobcenter“ in NRW, in: G.I.B. Info, Heft 2/2013, S. 28 ff.). Lipka präsentiert uns das wieder mit handfesten Beispielen aus der Praxis. Wenn man mit den Menschen redet und ihnen zuhört, dann kommt oft raus, dass die Probleme ganz andere sind: Gewichtsprobleme, Schuldenprobleme:

»Ich halte es zum Beispiel für unfair, eine stark übergewichtige Kundin oder Kunden immer wieder zu einer Bewerbung im Einzelhandel zu schicken. Das ist für sie ein Spießrutenlauf. Es ist besser, zuerst bei ihren persönlichen Problemen zu helfen. Wir bieten deshalb mittlerweile Kurse in Ernährungsberatung, Farb- und Stilberatung oder Kosmetik an. Wir haben sogar schon Walking-Stöcke besorgt … Eine Frau hat neulich 45 Kilo abgenommen, jetzt hat sie eine Stelle als Erzieherin gefunden.«

Es spricht ein weiteres Problem an: Dass ein Hartz-IV-Empfänger oft wenig mobil ist.

»Wir geben finanzielle Anreize  an Arbeitslose, für Arbeitsaufnahmen außerhalb der Stadtgrenzen. Und wir versuchen es mit neuen Ideen: Wir besorgen manchen Arbeitslosen zum Beispiel seit Kurzem einen Mietwagen, drei Monate lang. Die sind dann stolz wie Oskar, wenn wir ihnen den Schlüssel in die Hand drücken. Die kommen nach Hause und sagen: Schau mal, mein eigener Dienstwagen. Den habe ich vom Jobcenter … Wir haben das 200 Mal gemacht bisher, nur einmal ist einer für eine Spritztour nach Süddeutschland durchgebrannt. Das Entscheidende ist doch, dass wir die Menschen ermutigen, ihre Probleme anzugehen.«

Man könnte die Liste der Beispiele aus diesem Handlungszusammenhang noch lange erweitern. Allerdings ist es natürlich so, dass diese modern daherkommende Ansätze auch an die Systemgrenzen des gegebenen Arbeitsmarktes stoßen. Anders formuliert: Wenn – aus welchen Gründen auch immer – schlichtweg zu wenig Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, dann kann man noch so viel an den Menschen rumfummeln und sie wieder motivieren und sie vielleicht sogar begeistern, es ist wie mit einer Brücke, die man über einen Fluss baut – das andere Ufer muss auch erreichbar sein. Deshalb ist immer auch die Nachfrageseite des Arbeitsmarktes hoch relevant – und sei es – worauf Lipka ja auch hinweist – in Form einer vernünftigen öffentlich geförderten Beschäftigung.

Offizielle Arbeitslose statistisch auf der Flucht, viele tatsächliche Arbeitslose im Niemandsland der Nicht-Zählung und viel wichtiger: Die Baustelle Hartz IV zwischen vielen kleinen geplanten Änderungen und dem Ruf nach einer grundsätzlichen Reform

„Die Arbeitslosigkeit ist allein aus jahreszeitlichen Gründen angestiegen. Der Arbeitsmarkt steht insgesamt stabil da.“ Mit diesen Worten wird der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-J. Weise, anlässlich der Präsentation der neuen Arbeitsmarktzahlen für den Juli 2014 in der Pressemitteilung Der Arbeitsmarkt im Juli 2014: Arbeitslosigkeit steigt allein aus jahreszeitlichen Gründen zitiert. Dann wird die Zahl genannt, die im Anschluss durch die Medien geistert: 2.871.000 Arbeitslose gibt es. Aber eigentlich sind es mehr. Denn einige Zeilen später weist die BA selbst darauf hin, dass es 3.756.000 Personen sind, was ja ein paar mehr sind als die erstgenannte Zahl. Die BA nennt das dann „Unterbeschäftigung“ und da sind eben auch die enthalten, die sich „in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit“ befinden, aber natürlich weiterhin arbeitslos sind. Aber damit noch nicht genug. Während die meisten Medien immer noch nicht einmal bis zu dieser, die Wirklichkeit schon etwas besser abbildenden Zahl der Arbeitslosen vordringen, sondern bei den niedrigeren 2,8 Millionen hängen bleiben, kann man der Verlautbarung der BA eine noch größere Zahl entnehmen, die dann vollends zu verwirren scheint und gleichzeitig zu dem hier besonders interessierenden Thema Hartz IV überleitet.

»Die Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld II in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) lag im Juli bei 4.395.000 … In der Grundsicherung für Arbeitsuchende waren 1.963.000 Menschen arbeitslos gemeldet … Ein Großteil der Arbeitslosengeld II-Bezieher ist nicht arbeitslos.« Wir werden auch darüber informiert, wie es zu dieser Lücke kommen kann: »Das liegt daran, dass diese Personen erwerbstätig sind, kleine Kinder betreuen, Angehörige pflegen oder sich noch in der Ausbildung befinden.« Wir haben also neben den 909.000 Arbeitslosen, die sich (noch) in der Arbeitslosenversicherung befinden, nicht nur fast 4,4 Mio. erwerbsfähige Menschen, die Arbeitslosengeld II bekommen, obgleich nur eine Minderheit von ihnen als offizielle Arbeitslose geführt werden, sondern mit Blick auf das Grundsicherungssystem kommen noch mehr als 1,7 Mio. nicht erwerbsfähige Leistungsempfänger hinzu, die Sozialgeld bekommen, vor allem Kinder. Zusammen macht das 6,1 Millionen Menschen im Hartz IV-System. Die Abbildung der BA verdeutlicht etwas die Verhältnisse. Und dieses System soll nun – wieder einmal – vom Gesetzgeber an mehreren Stellen verändert werden, während gleichzeitig der Sozialverband Deutschland (SoVD) eine umfassende Hartz-Reform fordert.

Weniger Bürokratie, strengere Auflagen – so hat Rainer Woratschka seinen Artikel betitelt und will damit bereits in der Schlagzeile auf die Ambivalenz hinweisen, die sich mit den derzeit diskutierten und im Herbst in das Gesetzgebungsverfahren einzubringenden Änderungen einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe der Arbeits- und Sozialministerkonferenz unter Beteiligung von Kommunen und Bundesagentur für Arbeit verbindet. Die Liste der geplanten Rechtsvereinfachungen, die das Bundesarbeitsministerium während des Sommers in Gesetzesform gießen soll, umfasst 36 Punkte. Für die derzeit mehr als 6,1 Mio. Hartz IV-Empfänger verbergen sich hinter diesen Punkten mehr Großzügigkeit, aber auch schärfere Vorgaben. Das generelle Ziel der Veränderungen sei angeblich, mehr Zeit für die Betreuung der Arbeitsuchenden in den Jobcentern freizuschaufeln, wogegen man ja nun erst einmal nichts haben kann. Beginnen wir mit einigen positiven Veränderungen des bestehenden Rechts:

»Die Pfändbarkeit von Hartz-IV-Bezügen soll künftig generell ausgeschlossen und nicht mehr Einzelprüfungen unterzogen werden, bei denen man ohnehin fast immer zu dem gleichen Ergebnis kam. Und auch die Sanktionen bei sogenannten „Pflichtverletzungen“ sollen entschärft werden. So ist künftig nur noch ein einheitlicher Minderungsbetrag pro Fall und unabhängig von etwaigen Wiederholungen vorgesehen. Und gesonderte Sanktionsregeln für unter 25-Jährige soll es auch nicht mehr geben. Damit kommen die Regierenden einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zuvor, das die bisherigen Sonderregeln womöglich kassiert hätte.«

Aber es gibt auch eine andere Seite der neuen Änderungsvorschläge:

»Tatsächlich mündet mancher Vorschlag zur Beseitigung unsinniger Detailhuberei für Betroffene auch in eine Verschärfung. So soll die Regelung, Hartz- IV-Bezieher beim Umzug in eine teurere Wohnung selbst dann auf den Differenzkosten sitzen zu lassen, wenn die neue Unterkunft von Größe und Preis her als „angemessen“ eingestuft wird, nun auch auf diejenigen ausgeweitet werden, die in eine „unangemessene“ Wohnung ziehen. Auch sie sollen nicht mehr die „angemessenen“, sondern nur noch die Kosten ihrer früheren, billigeren Wohnung erstattet bekommen … Auch Nachzahlungen aufgrund von Grundsatzurteilen, mit denen die bisherige Verwaltungspraxis korrigiert wird, soll es künftig seltener geben. Die Politik will vermeiden, dass die Jobcenter „massenhaft Leistungen rückwirkend neu berechnen müssen“.«

Die Kritik an diesem Sammelsurium lässt nicht lange auf sich warten: Von einem „Apparatschik-Klein-Klein“ und der puren Glättung von Verwaltungsabläufen spricht beispielsweise Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband und der sozialpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, Wolfgang Strengmann-Kuhn wird mit den Worten zitiert, der Ertrag der Arbeitsgruppe sei „mehr als dürftig“.

„Klein-klein“ und „mehr als dürftig“ hinsichtlich der vorgeschlagenen Änderungen im SGB II muss man auch vor dem Hintergrund der folgenden Überschriften lesen: Hartz-IV-Bilanz »niederschmetternd«Bankrotterklärung oder Verband zieht verheerende Hartz-IV-Bilanz. Das hört sich nicht gut an. Hintergrund dieser Artikel ist ein neues Positionspapier des Sozialverbands Deutschland (SoVD):

Sozialverband Deutschland (SoVD): Neuordnung der Arbeitsmarktpolitik. Inklusion statt Hartz IV, Berlin, Juli 2014

Verfasserinnen des Papiers sind Ursula Engelen­-Kefer und Gabriele Hesseken. Es sind vor allem drei Punkte, um die herum der Sozialverband seine Forderungen sortiert:

  1. Arbeitslose Menschen dürfen nicht länger als Menschen mit Defiziten betrachtet und ausgesondert werden. Die Stärkung ihrer Kompetenzen und Fähigkeiten muss im Vordergrund der künftigen Arbeits­marktpolitik stehen. Dies erfordert ein ausreichendes Angebot an qualifizierter Arbeit mit fairer Ent­lohnung und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen.
  2. Langzeitarbeitslose Menschen, die über einen längeren Zeitraum erwerbstätig waren und Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt haben, müssen finanziell besser gestellt werden. Für sie muss es eine zusätzliche Geldleistung zu „Hartz IV“ geben, um ihr Armutsrisiko abzufedern.
  3. Die Vermittlung und Betreuung von Langzeitarbeitslosen ist erheblich zu verbessern. Die Betreuungs­-, Vermittlungs­- und Eingliederungsleistungen sind für sämtliche Arbeitslosen allein bei der Bundesagentur für Arbeit anzusiedeln.

An dieser Stelle kann keine Gesamtauseinandersetzung mit der Gesamtheit der SoVD-Vorschläge geleistet werden, aber an zwei aus den Vorschlägen herausgegriffenen Beispielen soll durchaus kritisch aufgezeigt werden, dass es sich weniger um eine fundamentale Hartz-Reform handelt, die hier gefordert wird, sondern eher um ein „add on“-Modell, bei dem also auf das weiter bestehende System etwas raufgepackt werden soll und zugleich werden alte Schlachten hinsichtlich der Frage, wer denn nun die Hartz IV-Empfänger „betreuen“ soll – die Bundesagentur für Arbeit oder die Kommunen oder beide zusammen – erneut zugunsten des „Arbeitsamtsmodells“ auf die Tagesordnung gesetzt, was sicher auch damit zu tun hat, dass eine der Verfasserinnen Ursula Engeln-Kefer ist, die früher jahrelang als stellvertretende DGB-Bundesvorsitzende innerhalb der Bundesanstalt für Arbeit im Verwaltungsrat gewirkt hat. Diese einseitige Positionierung für die BA erscheint irgendwie etwas gestrig.

Vorweg allerdings sei besonders hervorgehoben, dass ein Paradigmen- und Perspektivenwechsel mit Blick auf die betroffenen Menschen im Grundsicherungssystem eingefordert wird und es werden konkrete Veränderungsvorschläge gemacht, die weit über das hinausgehen, was wir seitens der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Kenntnis nehmen müssen. Damit wird hier die besondere Problematik adressiert, dass eine leider immer größere Gruppe von langzeitarbeitslosen Menschen offensichtlich auf Dauer exkludiert werden vom Arbeitsmarkt und man gleichzeitig die Förderbedingungen und die dafür zur Verfügung stehenden Mittel immer weiter begrenzt hat, wodurch sich in den Jahren seit 2010 zunehmend ein Teufelskreis der „Verfestigung“ und der „Verhärtung“ von Langzeitarbeitslosigkeit herausgebildet hat.

Nun aber zu den beiden – exemplarischen – Anfragen an die Reformvorschläge:

Auf der Seite 20 des Positionspapiers findet man diesen Hinweis: „Öffentlich geförderte Beschäftigung weiterentwickeln“. Und ein erster Blick scheint zu belegen, dass hier eine der ansonsten nur wenigen die öffentlich geförderte Beschäftigung befürwortende Positionierungen erfolgt: »Besonders schwer haben es Langzeitarbeitslose, die trotz erheblicher Vermittlungsbemühungen der Arbeitsverwaltung derzeit kaum noch Aussicht darauf haben, in den ersten Arbeits­markt integriert zu werden. Der SoVD setzt sich für die Schaffung öffentlich geförderter und sozial­ versicherungspflichtiger Beschäftigung mit tarif­- bzw. ortsüblichen Löhnen für diesen Personenkreis ein. Diese müssen die Ein­-Euro­-Jobs ersetzen. Es muss ein Anspruch auf eine sozialversicherungs­pflichtige öffentlich geförderte Beschäftigung geschaffen werden, um die Beschäftigungsfähigkeit der benachteiligten Personengruppen zu verbessern, ihre Qualifikationen zu erweitern und damit ihre Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Die Annahme einer öffentlich geför­derten Beschäftigung mit Sozialversicherungspflicht muss freiwillig sein.« So weit, so gut. Dann aber fällt das Papier in den alten Geist der auf dem Kopf stehenden öffentlich geförderten Beschäftigung zurück, denn es wird gefordert: »Um der latenten Gefahr der Verdrängung von regulärer Arbeit durch öffentlich geförderte Beschäftigung entgegenzuwir­ken, sind nur solche Beschäftigungsverhältnisse zu fördern, in deren Rahmen wettbewerbsneutrale, zusätzliche und im öffentlichen Interesse liegende Arbeiten erledigt werden.« Also Wettbewerbsneutralität – übrigens erst mit der letzten restriktiven Ausgestaltung des Förderrechts von einer untergesetzlichen Norm „geadelt“ durch die direkte Implementierung im Gesetz – wird seit Jahren von sehr vielen Experten und vor allem Praktikern als eine der zentralen Ursachen dafür identifiziert, dass wir konfrontiert werden mit teilweise hanebüchen ausgestalteten Maßnahmen, die so weit weg sein müssen vom ersten Arbeitsmarkt, dass sie mit großer Sicherheit auch den Betroffenen kaum neue Perspektiven eröffnen können. Hier sind die Forderungen des SoVD weit hinter dem zurückgeblieben, was seit Jahren im Fachdiskurs debattiert und entwickelt worden ist.

Das zweite Beispiel betrifft die Forderung, – so könnte man es scheinbar zynisch formulieren, hier aber erst einmal ohne irgendeinen Unterton gemeint – ein „Zwei-Klassen-System“ innerhalb der Grundsicherung einzuführen. Und diese Forderung wird intuitiv bei vielen Menschen auf eine zustimmende Wahrnehmung stoßen, die sich vor allem speist aus der tiefen Verankerung des Äquivalenzprinzips in der deutschen Kollektivseele. Der SoVD fordert (S. 26-31) zahlreiche Verbesserungen im bestehenden Arbeitslosengeld II-System, um dann eine weitere, neue Komponente vorzuschlagen: das »Arbeitslosengeld II Plus«. Dazu erfahren wir:

»Der SoVD fordert die Einführung einer zusätzlichen unbefristeten Geldleistung („Arbeitslosen­geld II Plus“), die neben dem Arbeitslosengeld II gewährt wird und im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosengeld I beansprucht werden kann. Mit dem Arbeitslosengeld II Plus soll anerkannt wer­ den, dass die ehemaligen Arbeitslosengeld I­Empfänger bzw. die ­empfängerinnen durch oftmals langjährige Erwerbstätigkeit einen erheblichen Beitrag zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung geleistet haben. Mit dem Arbeitslosengeld II Plus soll gleichzeitig ein Teil der Einkommenseinbußen ausgeglichen werden, die regelmäßig beim Übergang vom Arbeitslosengeld I in den Bezug von Arbeitslosengeld II entsteht. Der Höhe nach muss sich das Arbeitslosengeld II Plus vor allem an dem zuvor bezogenen Arbeitslo­sengeld I orientieren. Dabei könnte als Richtschnur für die Höhe des Arbeitslosengeldes II Plus der ehemalige befristete Zuschlag dienen. Dieser errechnete sich im ersten Bezugsjahr aus zwei Drit­teln der Differenz zwischen dem vormaligen Arbeitslosengeld I zuzüglich Wohngeld und dem nach Bedürftigkeit zustehenden Arbeitslosengeldes II. Gleichzeitig war er auf Höchstbeträge beschränkt, nämlich auf 160 Euro für Alleinstehende, 320 Euro für Paare plus 60 Euro für jedes minderjäh­rige Kind. Im Gegensatz zum ehemaligen befristeten Zuschlag, der nach einem Bezugsjahr halbiert wurde, sollte das Arbeitslosengeld II Plus in voller Höhe und zeitlich unbefristet gewährt werden.« (S. 31 f.)
Man will also für eine bestimmte Gruppe unter den Leistungsempfängern deren monetäre Besserstellung durch Zuschläge auf die weiterhin bestehende Grundsicherungsleistung. Die wird zwar hinsichtlich der Leistungshöhe kritisiert, nicht aber als solche in Frage gestellt, was aber auch bedeutet, dass man akzeptiert, dass es sich um eine bedürftigkeitsabhängige Fürsorgeleistung handelt. Offensichtlich will man gleichsam einen „Echoeffekt“ aus dem Versicherungssystem in das Grundsicherungssystem verlängern und das nicht nur für eine bestimmte wie auch immer definierte Übergangsphase, sondern dauerhaft soll dieser Zuschlag fließen. Da kann man schon auf die Idee kommen, dass es hier noch einen erheblichen Diskussionsbedarf gibt.

Ob „Klein-klein“ oder aber die Verbesserungsvisionen des Sozialverbands Deutschland – offensichtlich wird der jetzt anstehende 10. Geburtstag von Hartz IV nicht der letzte bleiben.

Das große Durcheinander auf der Hartz IV-Baustelle. Sanktionen verschärfen oder ganz abschaffen, mit (noch) mehr Pauschalen das administrative Schreckgespenst Einzelfallgerechtigkeit verjagen oder den „harten Kern“ der Langzeitarbeitslosen aus dem SGB II in das SGB XII „outsourcen“?

Das derzeitige Durcheinander im breiten Strom der Berichte über (geplante) Veränderungen im Hartz IV-System kann man beispielhaft an den Überschriften dieser beiden Artikel ablesen: Jobcenter sollen schneller bestrafen, so die taz, während Katharina Schuler in der Online-Ausgabe der Zeit schreibt: Hartz IV soll unbürokratischer werden. »Die Bundesregierung will die Hartz-IV-Gesetzgebung entrümpeln. Härtere Sanktionen sind nicht geplant – im Gegenteil.« Die Boulevard-Presse (vgl. beispielsweise die Berliner B.Z. mit der Schlagzeile Hartz IV-Schluffis: Einen Termin geschwänzt, direkt Hartz IV gekürzt: »Härteres Durchgreifen geplant: Bund und Länder einigen sich auf neue Sanktionsregeln für Arbeitslose ab 2015«) hat mal wieder was in die Welt gesetzt im bekannten Brustton der „So-ist-es“-Botschaft (auch als „BILD sprach zuerst mit dem Toten“-Modus des Boulevards bekannt), was die einen für bare Münze nehmen und die anderen zu korrigieren versuchen. So Katharina Schuler, die darauf hinweist: »Den „Schluffis“ geht es längst an den Kragen. Denn schon heute müssen Hartz-IV-Empfänger, die zum Beispiel unentschuldigt einen Termin verpassen, mit einer zehnprozentigen Kürzung des Regelsatzes von derzeit 391 Euro rechnen, beim zweiten Mal können es dann schon 20 und beim dritten Mal 30 Prozent sein. Bei anderen Verstößen wie etwa der Ablehnung eines Arbeitsangebots ist sogar eine sofortige Kürzung um 30 Prozent möglich.« Das ist korrekt dargestellt und das kann man im SGB II nachlesen (zu der 10-Prozent-Kürzung bei Meldeversäumnissen im § 32 SGB II und zu der 30-60-100-Prozent-Kürzung vgl. den § 31a SGB II: Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen, vgl. auch die Erläuterungen zu den Sanktionen seitens der Bundesagentur für Arbeit).

In dem erwähnten § 31a SGB II findet sich auch die gesetzliche Grundlage für die weitaus härtere  Sanktionierung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Denn in dem Absatz 2 dieses Paragrafen heißt es: »Bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, ist das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung nach § 31 auf die für die Bedarfe nach § 22 zu erbringenden Leistungen beschränkt. Bei wiederholter Pflichtverletzung nach § 31 entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig.« In einfacher Sprache: Den Jüngeren wird gleich beim ersten Mal – außer die Übernahme der Kosten für eine angemessene Unterkunft und Heizung – die gesamte Regelleistung wegsanktioniert und auch die Unterkunftskosten können gestrichen werden beim zweiten Mal, so dass die Betroffenen dann vollständig ausgesteuert sind aus dem Grundsicherungssystem (vgl. dazu auch Am Ende bleibt der Lebensmittelgutschein von Thomas Öchsner).

Es ist sicherlich vielen bekannt, dass es seit langem eine Bewegung gibt, die fordert, dass grundsätzlich auf Sanktionierung im SGB II-System verzichtet wird. Öffentlichkeitswirksam hat sich hier Inge Hannemann positioniert, die über eine Petition, die Ende 2013 von mehr als 90.000 Bürgern unterschrieben wurde, die Möglichkeit bekam, vor dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages für einen Verzicht auf Sanktionen im Grundsicherungssystem zu werben. Allerdings derzeit ohne Erfolg. Über die entsprechende Sitzung des Petitionsausschusses berichtet der Deutsche Bundestag unter der Überschrift Kein Verzicht auf Sanktion bei ALG II:

»Ein gänzlicher Verzicht auf Sanktionen beim Arbeitslosengeld II (ALG II) wird von der Bundesregierung abgelehnt. Es gäbe dann keine Möglichkeit mehr, darauf hinzuwirken, dass diejenigen, die die Leistungen in Anspruch nehmen wollten, „auch zur Mitwirkung verpflichtet sind“, sagte die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Gabriele Lösekrug-Möller (SPD), am Montag während einer öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses. Es werde erwartet, dass Termine wahrgenommen und Unterlagen beigebracht werden. Ebenso, dass auf Angebote zur Weiterbildung regiert wird und Vorschläge zur Beschäftigung angenommen werden, sagte Lösekrug-Möller. „Unser Sozialgesetzbuch erwartet eigene Anstrengungen“, betonte sie.«

Dazu die Gegenposition der Sanktionsgegner:

»Nach Aussage der Petentin Inge Hannemann werden Menschen durch Leistungskürzungen in existenzielle Not – „bis hin zur Obdachlosigkeit“ – getrieben … Zudem hätten Sanktionen ihren Erfahrungen nach auch keinen positiven Effekt, so Hannemann, die selbst Mitarbeiterin in einem Jobcenter ist. Es sei ein Skandal, dass die Jobcenter in die Rolle von Erziehungsberechtigten für Volljährige gedrängt würden. Außerdem verstoße die Sanktionierung gegen die durch das Grundgesetz gewährte Sicherung des gesetzlich festgelegten soziokulturellen Existenzminimums, befand die Petentin und verwies auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts, in denen festgelegt worden sei, dass das Existenzminimum „zu jeder Zeit und in jedem Fall sichergestellt werden muss“.«

Die gesamte Sitzung des Petitionsausschusses zum Thema Sanktionen kann hier als Video angeschaut werden:

Wer sich vertiefend mit dem Thema auseinandersetzen möchte, dem sei an dieser Stelle die folgende Studie empfohlen:

Oliver Ehrentraut, Anna-Marleen Plume, Sabrina Schmutz und Reinhard Schüssler: Sanktionen im SGB II. Verfassungsrechtliche Legitimität, ökonomische Wirkungsforschung und Handlungsoptionen. Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2014

In der aktuellen Debatte taucht das Thema Sanktionen erneut auf – mit Blick auf die offensichtlichen Erfolge, die Widersprüche und Klagen gegen dieses Instrument haben: Erfolgreiche Klagen gegen Hartz-IV-Sanktionen, so ist ein Artikel von Martin Greive überschrieben. 2013 wurden mehr als eine Million Sanktionen gegen Bezieher von Hartz IV ausgesprochen. Gerichte haben bei 42 Prozent aller Klagen gegen Sanktionen dem Arbeitslosen recht gegeben: Von 6.367 entschiedenen Klagen wurden 2.708 vollständig oder teilweise zugunsten der Betroffenen entschieden. Ähnlich die Situation auf der Ebene der Widersprüche: »Von 61.498 Widersprüchen gegen Sanktionen bei Hartz IV wurden 22.414 vollständig oder teilweise zugunsten der Betroffenen entschieden. Das sind mehr als 36 Prozent.«

Eine wichtige Hintergrundinformationen zu den Auslösetatbeständen für Sanktionen im SGB II-System: Viele Menschen werden ob bewusst oder unbewusst an die Verweigerung eines Jobangebots denken, wenn sie hören, dass ein Arbeitsloser sanktioniert wird. Das ist aber nicht der Fall. In dem O-Ton Arbeitsmarkt-Beitrag Mehr Sanktionen gegen „Hartz IV“-Bezieher wegen Arbeitsverweigerung? finden wir die folgende Aufklärung: » 2012 wurden rund 1.025.000 Sanktionen gegen „Hartz IV“-Bezieher verhängt … Grund hierfür sind aber keineswegs häufigere Ablehnung von Jobangeboten oder mangelnde Eigeninitiative bei der Jobsuche. Tatsächlich beruht der Zuwachs vollständig auf Terminversäumnissen.« Meldeversäumnisse waren 2012 die Ursache für rund 70 Prozent der Sanktionen. Und weiter erfahren wir: »Kürzungen, die wegen der Ablehnung von Jobangeboten oder aufgrund mangelnder Kooperation bei der Arbeitssuche ausgesprochen wurden, haben über die letzten Jahre sogar kontinuierlich abgenommen.«

Man kann es drehen und wenden wie man will – beim Thema Sanktionen ist man letztendlich mit unauflösbaren Dilemmata konfrontiert:

  • Zum einen kann man Sanktionen, die bis zum vollständigen Entzug jeglicher Leistungen reichen können (zur Größenordnung dieses Extremfalls: im Durchschnitt des vergangenen Jahres wurde 8.900 Anspruchsberechtigten Hartz IV komplett gestrichen, darunter etwa 5.000 Menschen unter 25 Jahre, so Thomas Öchsner in seinem Artikel mit Bezug auf Daten der Bundesregierung) grundsätzlich in Frage stellen, wenn man als Referenzpunkt für diese Überlegung davon ausgeht, dass es sich ja um das sicherzustellende Existenzminimum handelt, das dann entzogen wird, also man schickt jemanden unter die eigentlich sicherzustellende unterste Haltelinie des Sozialstaates. Für diese kritische Infragestellung von Sanktionen könnte man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts heranziehen mit seinem wichtigen Urteil vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09), wo das BVerfG bereits in den Leitsätzen von einem „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ spricht. In der Pressemitteilung des Gerichts zu dem Urteil – Regelleistungen nach SGB II („Hartz IV- Gesetz“) nicht verfassungsgemäß – heißt es dann: »Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind … Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat.« Konkretisierung und Aktualisierung beziehen sich zum einen auf die Notwendigkeit einer systematischen und damit nachvollziehbaren Operationalisierung der Regelleistungen (Zitat aus dem Urteil: »Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen … in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen«, Rdz. 139) und zum anderen auf die laufende Anpassung an die Entwicklungen in der Gesellschaft, in der die Leistung eingebettet ist, um Teilhabe sicherstellen zu können, was immer ein relatives Konstrukt ist. In dem Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2010 findet man unter der Randziffer 137 die folgende Formulierung: »Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.« Nun wird in vielen Beiträgen vor allem in Internet-Foren der Betroffenen immer wieder Bezug genommen auf diese Entscheidung der BVerfG aus dem Jahr 2010 und es wird argumentiert, damit sei jede Form der Sanktionierung untersagt. Dies wird allerdings von maßgeblicher juristischer Seite zurückgewiesen, die eine so weitreichende Ableitung aus dem damaligen Urteil nicht erkennen können. Stellvertretend für viele sei hier nur aus der Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages vom 06.06.2011 zitiert, wo es auch schon um Anträge im Bundestag auf Einstellung der Sanktionspraxis ging. Nach Auffassung des Deutschen Richterbundes (DRB) hat »das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) … die geltenden Sanktionsregelungen (einschließlich der schärferen Sanktionen für unter 25-jährige) in seinem Urteil vom 09.02.2010 … nicht als unvereinbar mit dem in diesem Urteil aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG abgeleiteten Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums angesehen.« Die nachfolgende Begründung für diese Positionierung erschließt sich nur dem Juristen. Aber eine andere Stelle ist hier interessant: »Allerdings weist das BVerfG in seinem Urteil vom 09.02.2010 auch auf den aus dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminiums abgeleiteten Grundsatz hin, dass der gesetzliche Leistungsanspruch so ausgestaltet sein muss, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt … Das heißt, dass Sanktionen nicht dazu führen dürfen, dass Hilfebedürfige etwa hungern müssen oder obdachlos werden … Das absolute Existenzminimum siedelt der Gesetzgeber bei 70 % der geltenden Regelleistung (zuzüglich Kosten der Unterkunft und Heizung) an … Die vollständige Streichung vom Hilfeempfänger zur Bestreitung seines Existenzminimums benötigter Grundsicherungsleistungen ist vom geltenden Recht daher nicht vorgesehen.« Fazit: Offensichtlich ist es gar nicht einfach, ein eindeutiges verfassungsrechtliches Votum gegen jede Form der Sanktionierung abzuleiten, auf alle Fälle aber können die extremen Formen der Sanktionierung als unzulässig kategorisiert werden und sie müssten unbedingt eingestellt werden.
  • Ein zweites Dilemma kann auf einer ersten Ebene als ein gleichsam „pädagogisches“ Problem beschrieben werden. Möglichkeit und Realität von Sanktionierung können und müssen verstanden werden als Disziplinierungsinstrumentarium gegenüber den (potentiellen bzw. tatsächlichen) Hilfeempfängern. Hätte man überhaupt keine Sanktionierungsmöglichkeit, dann würden auch diejenigen, die sich jeglicher Mitwirkung bzw. Zusammenarbeit verweigern, die Leistung bekommen (müssen). Damit aber landen wir auf der eigentlichen, der zweiten Ebene des Dilemmas: Konsequent zu Ende gedacht würde das bedeuten, dass die gesamte bedürftigkeitsabhängig ausgestaltete Architektur der Grundsicherung ins Wanken geraten würde. Hinzu kommt, dass eine wesentliche Säule in dem grundlegenden System von „Fördern und Fordern“ in sich zusammenstürzen würde, zumindestens wenn man – provozierend formuliert – Anhänger der „schwarzen Pädagogik“ ist: Dahinter steht die große Sorge, dass die Seite des Forderns nicht mehr durchgesetzt werden kann. Es lässt sich auch so formulieren: Wenn man ehrlich ist, geht es hier im wahrsten Sinne des Wortes um die Systemfrage.
  • Es gibt eine – nicht kleine – Gruppe, die sich nicht entscheiden will bzw. kann für ein Entweder-Oder in der Sanktionsfrage. Aus dieser Perspektive wird die gegenwärtige Sanktionierungspraxis überaus kritisch gesehen, nicht nur wegen den existenziellen Auswirkungen, die diese Maßnahmen auf die betroffenen Menschen haben, sondern auch aus einer pragmatischen Perspektive hinsichtlich des überaus großen Aufwandes, den man betreiben muss, sowie der wohl offensichtlich zahlreichen Fehler im administrativen System, denn anders lassen sich die bereits zitierten Befunde hinsichtlich der Erfolgswahrscheinlichkeit von Widersprüchen und Klagen gegen Sanktionsentscheidung nicht erklären. Gleichzeitig wird von dieser Seite – und das völlig zu Recht – kritisch vorgetragen, dass Sanktionen als letztes Mittel auf der Seite des Forderns nur dann ihre Berechtigung haben könnten, wenn die Seite des Förderns nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht gut ausgebaut ist. Genau davon können wir aber überhaupt nicht ausgehen, ganz im Gegenteil mussten wir in den vergangenen Jahren – bei erheblichen qualitativen Probleme hinsichtlich der Ausgestaltung des konkreten Förderung – eine massive Absenkung jeglicher Förderung gerade für diejenigen Langzeitarbeitslosen sehen, die dringend der Hilfestellung bedürfen und von denen viele diese auch suchen (vgl. dazu den Beitrag Hartz IV-Langzeitbezieher: Drei Viertel seit mindestens einem Jahr ohne Förderung). Man kann eine „pragmatisch-pädagogisch“ fundierte Position zwischen den beiden Polen des Entweder-Oder auch mit dem folgenden Satz als Ausgangspunkt für die tatsächliche Ausgestaltung des praktischen Handelns bestimmen: »Cutting unemployment benefits to force people to find jobs is like cutting Medicare to force people to get healthy«, so John T. Harvey in dem Beitrag The Unemployed: Victims Or Villains? Damit ist eine Menge gesagt.

Doch weiter im Thema „Durcheinander“ auf der Hartz IV-Baustelle. Die hohe Erfolgsquote von Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide bringt Kommunen und Jobcenter in Erklärungsnot und die reagieren natürlich darauf: Gemeinden fordern einfachere Hartz-IV-Gesetze, können wir beispielsweise lesen. Da wird z.B. Gerd Landsberg, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, mit den Worten zitiert: „Viele komplizierte Berechnungen der Einzelansprüche sollten durch die Möglichkeit der Pauschalierung vereinfacht werden.“ Und mit dieser Position steht er nicht allein. An der gleichen Front agiert Heinrich Alt, Mitglied des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit, der mit dieser Aussage zitiert wird:

»Wenn ich etwas ändern oder mir etwas wünschen könnte, wäre es, der ursprünglichen Idee der Grundsicherung zu folgen, und die vielen Einzelleistungen zu Pauschalen zusammenzuführen. Wir neigen in Deutschland dazu, jedem Einzelfall gerecht werden zu wollen, alles bis ins Detail zu regeln.«

Das hört sich doch erst einmal richtig gut an. Wer kann schon etwas gegen Vereinfachung und Entbürokratisierung haben? Wie immer treibt sich der Teufel im Detail herum. Wenn Heinrich Alt von der „ursprünglichen Idee der Grundsicherung“ spricht, dann meint er den Paradigmenwechsel, den man vollziehen wollte und partiell auch vollzogen hat beim Übergang vom alten BSHG zum SGB II. An dieser Stelle kann nur darauf hingewiesen werden, dass in der alten Welt des BSHG neben einem Regelsatz und so genannten Mehrbedarfszuschlägen zahlreiche einmalige Leistungen zur Abdeckung individueller Bedarf vorhanden waren. Der Paradigmenwechsel beim Übergang zum SGB II bestand darin, dass man bis auf wenige Ausnahmen die Leistungen zur Abdeckung des Hilfebedarfs so weit wie möglich pauschalieren wollte und deshalb hat man die bisherigen Einmalleistungen, die sich natürlich ganz unterschiedlich verteilt haben, in die neue Regelleistung nach dem SGB II „einpauschaliert“.

Der ganze Pauschalierungsansatz ist charakterisiert durch eine erhebliche Ambivalenz: Zum einen eröffnet Pauschalierung den Hilfeempfängern mehr Autonomie und weniger starke Asymmetrien gegenüber dem Amt bzw. dem Sachbearbeiter, der in der Vergangenheit Leistungen gewähren konnte – oder eben auch nicht. Insofern kann man davon sprechen, dass Pauschalierung durchaus eine freiheitsfördernde Funktion haben kann. Auf der anderen Seite muss man zugleich in Rechnung stellen, dass Pauschalierung immer auch neue Ungerechtigkeiten produzieren muss: Wenn wir beim Beispiel SGB II bleiben, dann wäre zum einen die so genannte „Anspar-Illusion“ zu nennen. Darunter ist folgendes zu verstehen: Wenn die einmaligen Leistungen in die Regelleistung eingebaut werden, dann bedeutet das zwangsläufig, dass die Hilfeempfänger einen Teil der Geldleistung, die sie bekommen, zurücklegen müssen, um dann über das Geld verfügen zu können, wenn der Tatbestand eintritt, der früher mit einer einmaligen Leistung seitens des Sozialamtes gegenfinanziert wurde. Das hört sich einfacher an als es ist. Selbst wenn wir einmal davon ausgehen, was nicht unbedingt der Realität entspricht, dass die Hilfeempfänger wirklich einen Teil ihrer Regelleistung ansparen, dann müssen sie für ganz viele Sachverhalte, die in der Vergangenheit einmalige Leistung ausgelöst haben, ausreichend Zeit haben, die Beträge überhaupt einsparen zu können. Was aber passiert, wenn auch bei einem gutwilligen Hilfeempfänger bereits im zweiten oder dritten Monat der Tatbestand anfällt, der eigentlich eine einmalige Leistung erfordert, die aber bei weitem nicht abgedeckt werden kann aus den Beträgen, die man bis zu diesem Zeitpunkt zurücklegen konnte? Neben der so genannten „Anspar-Illusion“ sind wir in diesem Bereich mit einem zweiten Dilemma konfrontiert: das klassische „Durchschnittsdilemma“. Darunter muss man verstehen, dass Durchschnitte immer das Problem haben, dass einige (bzw. je nach Streuung durchaus viele) unter bzw. über dem Durchschnittsbetrag liegen.

Gerade bei den einmaligen Leistungen muss das zwangsläufig der Fall sein, denn es gab Hilfeempfänger, die früher so gut wie gar keine einmaligen Leistung haben beziehen können, während in anderen Fallkonstellationen erhebliche einmalige Leistungen angefallen sind. Im Ergebnis bedeutet das, dass diejenigen, die in der Vergangenheit kaum einmalige Leistungen in Anspruch genommen haben, durch die „Einpreisung“ in die allgemeine Regelleistungen gleichsam einen „Gewinn“ machen konnten, während bestimmte Personen bzw. Haushalte, die in der Vergangenheit überdurchschnittlich viele einmalige Leistungen bezogen haben, im neuen System schlechter gestellt worden sind. Und für diese Personen ist die Reduktion der Einzelfallgerechtigkeit zu Gunsten einer pauschalen Abdeckung ein echtes Problem.

Es kann an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, dass wir die gleiche Problematik in einem anderen Teilbereich des SGB II-Bereichs haben, der zugleich die „Hitliste“ der Klagen vor den Sozialgerichten anführt: Gemeint ist hier die Übernahme der „angemessenen Kosten der Unterkunft“. Die – vor allem für die Betroffenen – einfachste Variante wäre natürlich, wenn die tatsächlich anfallenden Kosten übernommen werden, die je nach Region und Kommune stark voneinander abweichen können. Allerdings würde man damit durchaus unangenehme Nebenfolgen produzieren können: Wenn die Vermieter wissen, dass die gesamten Kosten von Harz IV-Empfängern übernommen werden, dann setzt man einen starken Anreiz, dass Vermieter – vor allem die, die mit den Hilfeempfängern ein profitables Geschäftsmodell betreiben (wollen) – die Mietpreise nach oben treiben, denn es gibt ja quasi keinen Deckel auf dem Topf, der diese Bewegung stoppen könnte. Die andere Möglichkeit wäre, statt den tatsächlich anfallenden Kosten den Hilfeempfängern eine Pauschale in die Hand zu drücken mit der Aufforderung, sich eben selbst um die Angelegenheit zu kümmern. Entweder haben sie dann Glück oder aber sie sind mit der Situation konfrontiert, dass sie die tatsächlich anfallenden Kosten mit der Pauschale nicht abdecken können. Ohne das zu vertiefen können wir uns alle sicherlich regionale bzw. kommunale Wohnsmarktlagen vorstellen, in denen man gar keine Chance hat, eine günstigere Wohnung zu finden und insofern auf den höheren Kosten sitzen bleiben würde, wenn wir uns in einem „harten“ Pauschalierungssystem bewegen.

Zum Abschluss dieses Beitrags soll noch auf eine weitere Sau, die schon seit längerem durch das SGB II-Dorf getrieben wird, hingewiesen werden. Und auch hier wieder taucht Heinrich Alt von der BA auf. Der hat bereits vor einiger Zeit beispielsweise dieses Interview gegeben: „Einige sind mit Fordern und Fördern überfordert“. Dort findet sich der folgende Passus:

»Es stellt sich für mich aber die Frage, ob wirklich jeder im dem System betreut wird, das für ihn die beste Unterstützung bietet. Einige Hartz-IV-Empfänger sind vielleicht in der Sozialhilfe besser aufgehoben, im Zweifelsfall vielleicht sogar in einer Behindertenwerkstatt.«

Ganz offensichtlich geht es hier den „harten Kern“ der Langzeitarbeitslosen im Grundsicherungssystem. Es handelt sich hierbei um mehrere hunderttausend Menschen, die bereits seit Jahren im Leistungsbezug und keiner Erwerbsarbeit nachgegangen sind (vgl. für Ansätze einer systematischen Bestimmung der Größenordnung die Studie von Tim Obermeier; Stefan Sell und Birte Tiedemann: Messkonzept zur Bestimmung der Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung. Methodisches Vorgehen und Ergebnisse der quantitativen Abschätzung (= Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 14-2013), Remagen, 2013). Die meisten dieser Menschen sind mit mehreren so genannten „Vermittlungshemmnissen“ belastet, so dass man realistischerweise davon ausgehen muss, dass der größte Teil von ihnen auch mittel- und langfristig nicht in die Nähe eines Arbeitsplatzes auf dem so genannten „ersten Arbeitsmarkt“ kommen werden. Gerade mit Blick auf diese Personengruppe wird von vielen Experten und Praktikern seit Jahren gefordert, endlich vernünftige Beschäftigungsangebote zu organisieren, um damit nicht nur Teilhabe zu ermöglichen, sondern auch die ganzen enormen Folgekosten zu reduzieren, die aufgrund der absolut zerstörerischen Wirkung von Langzeitarbeitslosigkeit anfallen und anfallen werden. Aber statt sich dieser Aufgabe endlich zu stellen, gibt es ganz offensichtlich den strategischen Ansatzpunkt, diese aus Sicht der betroffenen Institution mehr als „unangenehmen“ Personen aus dem System zu entfernen und in das Sozialhilfesystem (SGB XII) gleichsam „auszulagern“, wo sich dann die Sozialämter der Kommunen um sie kümmern sollen, müssen, dürfen – das ganze scheint er dem Ansatz des „aus den Augen, aus dem Sinn“ zu folgen. Aber wenn Heinrich Alt von der BA schon die „ursprünglichen Ziele“, die mit dem Grundsicherungssystem verfolgt wurden, dann gerne heranzieht, wenn es ihm passt: Einer der zentralen Bausteine der Vorschläge der Hartz-Kommission bestand daraus, bei der aus ihrer damaligen Sicht zukünftigen Gestaltung der Arbeitsmarktdienstleistungen sicherzustellen, dass alle Arbeitsuchenden „aus einer Hand“ betreut und versorgt werden. Daraus ist bekanntlich nichts geworden, sondern in der Gemengelage der Umsetzung in einem föderalistischen System wie bei uns ist am Ende eine Auftrennung in die so genannten „Rechtskreise“ SGB III und SGB II herausgekommen, zugleich über Jahre hinweg belastet durch einen erbittert geführten Kampf um die Frage der institutionellen Zuständigkeit im Harz IV-Bereich (Stichwort „Kommunalisierung“ versus „Zentralisierung“). Nun haben wir nicht nur wie früher Arbeitsämter und Sozialämter, sondern Arbeitsagenturen, Jobcenter als gemeinsame Einrichtungen von Arbeitsagentur und Kommunen sowie Jobcenter in alleiniger kommunaler Zuständigkeit. Nicht ohne Grund wird diese rechtliche wie auch institutionelle Aufspaltung auch als „Achillesferse“ der deutschen Arbeitsmarktpolitik bezeichnet. Eine Umsetzung der Vorschläge von Heinrich Alt würde diese „Achillesferse“ noch weitaus stärker ausprägen.

Kann man überhaupt angesichts dieses großen Durcheinanders von konkreten Vorschlägen zur Veränderung des Hartz IV-Systems bis hin zu den zahlreichen Dilemmata, auf die man bei einem genaueren Blick in das Grundsicherungssystem stoßen muss, irgendeinen roten Faden erkennen, der einem helfen kann, das Dickicht zu durchdringen?

Bis zu einem gewissen Grade kann man das durchaus. Nach meiner Wahrnehmung geht es letztendlich bei vielen einzelnen Fragen um die Tatsache, dass das Grundsicherungssystem nach SGB II als ein „nicht bedingungsloses Grundeinkommen“ ausgestaltet worden ist. Gerade der Tatbestand, dass es sich eben um ein „nicht bedingungsloses“ Grundeinkommen handelt, führt in vielerlei Hinsicht dazu, dass zahlreiche Regulierungen eingeführt bzw. erweitert werden müssen, um die Bedingungen in dem System zu prüfen, zu steuern, zu sanktionieren. Konsequent zu Ende gedacht würde mehr Pauschalierung im Sinne einer radikalen Pauschalierung der Hilfeansprüche am Ende zu einem „bedingungslosen Grundeinkommen“ führen müssen, allein schon aus administrativen Gründen der Abwicklung. Um ein solches gibt es ja bereits seit längerem eine intensive Debatte – nicht nur bei uns in Deutschland, sondern sogar in einem Land wie der Schweiz, wo das Thema Gegenstand einer Volksabstimmung wird. Das wäre nun ein ganz eigenes und angesichts seiner Komplexität wirklich vertiefend in einem separaten Beitrag zu behandelndes Thema, aber soviel sei an dieser Stelle angemerkt: Auch ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ wird in die gleiche Gefahrenzone hinein laufen müssen, in die man gelangt, wenn man auf eine radikale Pauschalierung im bestehenden SGB II-System setzt: Die Gefahr, dass man die volle Härte eines einfachen Systems zu spüren bekommt. Man zahlt zwar eine bedingungslose Leistung aus, was im Vergleich zum gegenwärtigen Zustand für die Betroffenen erst einmal eine deutliche Verbesserung auf der Leistungsseite darstellen würde, weil sie dann nicht mehr den zahlreichen Prüfungen und Kontrollen der den Anspruch auslösenden oder diesen zum Erlöschen bringenden Bedingungen ausgesetzt wären, aber aus vielfältigen, hier nicht diskutierbaren Gründen, müssen wir plausibel davon ausgehen, dass die Leistung insgesamt auf einem „überschaubaren“ Niveau angesiedelt werden würde (bzw. im bestehenden Harz IV-System bereits ist). Spätestens dann würde sich auch einen bedingungslosen Grundeinkommen dieselben Ungerechtigkeits-Anfragen stellen, wie wir sie heute schon im System des eben „nicht bedingungslosen Grundeinkommens“ zur Kenntnis nehmen müssen.