Die klassische Taxibranche hat es nicht leicht in Zeiten von gesetzlichem Mindestlohn und rosinenpickender Konkurrenz aus der App-Economy

London, Paris, Berlin, Madrid – in ganz Europa blockierten Zehntausende Taxifahrer die Straßen aus Protest gegen die Taxi-App Uber. Sie fürchten um die Zukunft ihrer Branche, so Carsten Volker in seinem Artikel „Wir sind keine Dinosaurier„. »In Berlin nahmen Hunderte Taxifahrer an einer Sternfahrt teil, in Paris blockierten Tausende die Straßen zu den Flughäfen Orly und Charles de Gaulle. Beim größten Streik in London legten rund 10.000 Black Cabs das Regierungsviertel um den Trafalgar Square lahm.« Und das alles wegen einer App? Und was hat das alles mit dem Mindestlohn zu tun?

Die Proteste können den Eindruck verstärken, dass wir Zeuge werden eines massiven Angriffs auf das traditionelle Geschäftsmodell der Taxiunternehmen – manche Kritiker sprechen gerne vom Taxikartell – durch die zunehmende Konkurrenz durch Limousinenservices und nun auch noch durch eine App auf den Smartphones vieler (potenzieller) Kunden. Schon seit längerem ist die Taxibranche in Großstädten konfrontiert mit Vermittlern von Limousinenservices, die sich beispielsweise „Blacklane“ oder „My Driver“ nennen. Die Limousinendienste operieren überwiegend mit Festpreisen, was sie gerade für Firmen attraktiv macht. Interessant am Rande ist auch der Tatbestand, dass Daimler sich an dem Unternehmen Blacklane beteiligt hat, was zu erheblichen Spannungen zwischen dem bisherigen Hoflieferanten der Taxi-Unternehmen und den betroffenen Anbietern führt. Die neueste Zumutung ist  ist eine Smartphone-App, die den Namen „Uber“ trägt. Es handelt sich um ein Unternehmen aus San Francisco, das private Fahrer vermittelt. Unternehmen wie Uber kassieren für die Vermittlung 20 Prozent des Fahrpreises, die Kunden zahlen deutlich weniger als für eine reguläre Fahrt mit dem Taxi.

Nun muss man allerdings einschränkend – und zugleich problemverschärfend – anmerken, dass die neue Konkurrenz für das traditionelle Geschäftsmodell der Taxibranche keinen generellen Angriff auf diese darstellen kann, den sowohl die Limousinenservices wie auch Unternehmen wie Uber bieten ihre Dienstleistungen keineswegs flächendeckend an, sondern sie betreiben klassische „Rosinenpickerei“, da sie sich  fokussieren im wesentlichen auf die Großstädte. An ländlichen oder kleinen städtischen Regionen haben sie weitaus weniger bis gar kein Interesse. Aus dieser Konfiguration entsteht die erste Wettbewerbsverzerrung, die noch dadurch potenziert wird, dass sich die neuen Anbieter nicht an die zahlreichen Regulator Auflagen halten müssen bzw. sie meinen, dass diese nicht für sie gelten, darunter beispielsweise die Bindung der Taxiunternehmen an die Vorschriften des Personenbeförderungsgesetzes.

Unfaires Spiel mit den Taxifahrern, so hat Gernot Kramper seinen Kommentar zu den aktuellen Protesten überschrieben: »Es kann nicht sein, dass die traditionellen, alten Gewerbe mit tausend Vorschriften und Regeln geknebelt werden und ein neues Geschäftsmodell wie Uber, das letztlich die gleiche Dienstleistung anbietet, von diesen Spielregeln freigestellt wird.« Er plädiert für eine „Waffengleichheit“ zwischen den Kontrahenten, sieht aber auch, dass eine solche nur erreichbar wäre, wenn der Staat, insbesondere die hier relevanten Kommunen bislang existierende regulatorische Eingriffe zurücknehmen würde und wir alle als Kunden müssten uns bewusst sein, dass daraus das Ende verbindlicher Standards in diesem Bereich resultieren würde: »Einnahmen aus einer Taxilizenz würde es für die Kommunen nicht mehr geben … Eignungstest, Ortskenntnisse, Sprachfähigkeiten könnten die Gemeinden bei einer Freigabe auch kaum noch vorschreiben. Einheitliche Tarife gäbe es nicht mehr. Spezielle Versicherungen für die Insassen wären freiwillig. Das Motto: Der Markt wird es schon richten.« Die Hoffnung, dass es der Markt schon richten wird, haben offensichtlich auch andere, so beispielsweise Sidney Gennies in seinem Kommentar Das Taxigewerbe gerät unter Druck – zu Recht.

Zurück zu der Frage, was das nun alles mit dem Thema Mindestlohn zu tun haben könnte. Dazu der Artikel Zwischen Mindestlohn und Netz-Konkurrenz, in dem nicht nur auf die neue Konkurrenz hingewiesen, sondern auch der gleichzeitig ablaufende Prozess einer Auseinandersetzung mit dem gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde angesprochen wird:

Momentan verdienen Taxifahrer nach BZP-Angaben im Schnitt etwa 6,00 Euro bis 6,50 Euro die Stunde, bei angestellten Fahrern geschieht das meist über Umsatzbeteiligungen. „Das dürfte regional sehr schwanken“, erklärt Jan Jurczyk von der Gewerkschaft Verdi. Gehört hätten sie schon von Fällen, wo drei Euro in Mecklenburg-Vorpommern und acht Euro in Baden-Württemberg verdient worden seien. „Deswegen ist der Mindestlohn da so wichtig“, sagt Jurczyk. Für viele Taxifahrer würde er mehr Geld in der Tasche bedeuten.

Nach Einschätzung von Professor Stefan Sell könnte ein Mindestlohn aber auch noch mehr Konkurrenz ins Geschäft bringen. Weil er nicht für Selbstständige gelten würde, könnten mehr Fahrer in die Selbst- oder Scheinselbstständigkeit abtauchen, vermutet der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler von der Hochschule Koblenz. Sie würden finanziell nicht von der neuen Regel profitieren, aber den Taxifirmen Konkurrenz machen, die ihren Angestellten wie vorgeschrieben mehr pro Stunde zahlen müssten. „Das ist ein echtes Dilemma.“
Um das einordnen zu können, muss man einige Basisinformationen in Erinnerung rufen: Die 200.000 Taxifahrer Deutschlands gehören zu den am schlechtesten bezahlten Beschäftigten der Nation. Nun geht es aber eben gerade nicht „die“ Taxifahrer, sondern wir sind mit einer erheblichen Heterogenität der Beschäftigungsverhältnisse in der Taxibranche konfrontiert. Das reicht von den Angestellten Taxifahrern, die tatsächlich auf Vollzeitbasis diesen Beruf ausüben und davon leben müssen/sollen, über die Selbstständigen, die mit ihrem Taxi einem Gewerbe nachgehen bis hin zu nur punktuell bzw. temporär beschäftigten, die sich beispielsweise auf 450 €-Basis oder anderen Teilzeitverhältnissen ein Zubrot verdienen. Genau in dieser erheblichen Heterogenität der Beschäftigung innerhalb der Branche liegt nun ein zentrales Problem für die Umsetzung des zum 1. Januar 2015 geplanten Mindestlohns. Man kann sich das mit Blick auf die Stadt Frankfurt verdeutlichen, mit welchen Herausforderungen man konfrontiert sein wird: »In Frankfurt kommen auf 1.700 Taxis 1.100 Unternehmer. Das heißt: Ganz oft sitzt der Chef selbst hinterm Steuer. Für Unternehmer aber gilt der Mindestlohn nicht …  Doch auch … Angestellte finden sich in der Branche natürlich in großer Zahl. Neben zahlreichen Ein-Mann-Betrieben sind in Frankfurt auch Taxiunternehmen mit 30 und mehr Fahrzeugen am Markt. Alles in allem verdienen in der Stadt an die 4.500 Fahrer ihr Geld«, so Manfred Köhler in einem Artikel.

Auf der Seite der Beschäftigten gibt es trotz der schlechten Arbeitsbedingungen ein großes Arbeitsangebot, durch das ein erheblicher Lohndruck nach unten ausgeübt wird, beispielsweise durch Zuwanderer, die bereit sind, auch zu den untersten Bedingungen zu arbeiten, um überhaupt Fuß fassen zu können.

Wenn man jetzt – wie vorgesehen – zum 1. Januar 2015 einen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 € pro Stunde einführt, der dann auch für die angestellten Taxifahrer gelten wird bzw. soll, dann muss man sich darüber im klaren sein, dass das nicht einfach zu realisieren sein wird, um das noch positiv auszudrücken. Dies hängt zusammen mit den Besonderheiten der Branche, über die wir hier sprechen. Denn der Mindestlohn wird nur gelten für die angestellten Taxifahrer, währenddessen die zumeist Solo-Selbstständigen nicht unter den Geltungsbereich des Mindestlohnes fallen.
Um einmal konkret zu illustrieren, was das best: die bisherige Vergütung der Taxifahrer sieht im wesentlichen so aus, dass sie am Umsatz beteiligt sind, in der Größenordnung von 35 % bis 45 % der Tageseinnahmen. Wir haben es hier also mit einer Art Stücklohn zu tun. Nun gibt es Zeiten mit erfreulichen Umsätzen, in denen man das erwirtschaftet, was in den Randzeiten, wo weniger Betrieb ist, gleichsam als Zuschuss zur Wartezeit, die keine Einnahmen bringt, gebraucht wird. Angesichts des bestehenden sehr niedrigen Vergütungsniveaus ist es auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbar, dass der Verband der Taxiunternehmen fordert, dass die Preise für die Beförderungsleistung im Schnitt um mindestens 20 % angehoben werden müssen.

Unabhängig von der Tatsache, dass wir derzeit über 800 Tarifordnungen für Taxis in Deutschland haben und dass eine Änderung nicht in Monaten, sondern eher in Jahren vorstellbar sein wird, wäre die entscheidende Frage, zu welchen möglicherweise völlig ungeplanten Folgen  das führen wird, wenn die Mindestlohnregelung ab Januar des kommenden Jahres in der Taxibranche greifen muss. Das bereits heute vorhandenen, teilweise extreme Kostengefälle zwischen den einzelnen Taxiunternehmen wird sich erheblich erweitern. Denn der „normale“ Taxiunternehmer, der mehrere  angestellte Fahrer hat, muss diese nach dem Mindestlohn mindestens vergüten, während beispielsweise der Selbstständige mit Migrationshintergrund auf ein familiäres Netzwerk zurückgreifen kann, um sein Taxi zu betreiben. Es ist durchaus nicht unplausibel, dass wir als eine Folge der Mindestlohn-Einführung in der Taxibranche eine weitere Expansion des Modells der (Schein-) Selbstständigkeit erleben werden müssen.

Aber damit nicht genug. Stellen wir uns ein Taxiunternehmen in einer eher ländlich strukturierten Region vor und den Problemen solcher Unternehmen, bestimmte Dienstzeiten abdecken zu müssen, beispielsweise die Nachtzeiten. An diesem Beispiel kann man zeigen, dass der Mindestlohn als Stundenlohn definiert zu erheblichen Veränderungen auf der Angebotsseite führen wird. Denn in den ländlichen bzw. kleinen städtischen Regionen gibt es in der Nachtzeiten vielleicht ein oder zwei Nachfrager. Die aber zu dem Preis bedient werden müssen, der auch für die normalen Inanspruchnahmezeiten tarifiert worden ist. Und so teuer könnte man gar nicht die Taxifahrt machen, um die Stundensätze für einen normalen Taxifahrer in den Anzeigen bzw. in der Nacht gegenfinanzieren zu können. Das wird jetzt zwei Konsequenzen haben (müssen): Entweder werden die Taxiunternehmen ihre Dienstleistung in den Nachtstunden wenn nicht erheblich einschränken, dann vielleicht sogar grundsätzlich einstellen müssen. Dieses Phänomen kann man beispielsweise in anderen Mindestlohn-Ländern, die bereits seit vielen Jahren Erfahrungen haben sammeln können, beobachten. So gibt es beispielsweise in den Niederlanden in vielen Regionen nachts kein Taxi-Angebot mehr. Weil das schlichtweg nicht finanzierbar ist. Oder aber man greift zur Aufrechterhaltung des Angebots in diesen ungünstigen Zeiten auf „Selbstständige“ zurück, die ja bekanntlich nicht unter die Mindestlohnregelung fallen.

Aber auch wenn man den Forderungen des Taxi-Verbandes nachkommen würde, die eine Anhebung der Tarife um mindestens 20 % fordern, um den Mindestlohn umsetzen zu können, heißt das noch lange nicht, dass sich die Vergütungsbedingungen der Angestellten Taxi-Fahrer signifikant verbessern werden – dann nämlich nicht, wenn die Tariferhöhung für alle Taxi-Unternehmer gilt, damit also auch für diejenigen, die bereits seit Jahren Billigst-Arbeitskräfte beschäftigen oder die beispielsweise als Selbstständige agieren, denn die bekommen natürlich auch die angehobene Vergütung, ohne dass sie sich in dem gleichen Kostenkorsett befinden wie der Taxi-Unternehmer, der eine ganze Reihe an angestellten Mitarbeitern zu finanzieren hat. Damit wird die erhebliche Asymmetrie innerhalb der Branche weiter zugespitzt zugunsten der Billig-Anbieter.

Auf der einen Seite wird man die erhebliche Kostensteigerung, die mit der Einführung eines Mindestlohns in Höhe von 8,50 € pro Stunde bei derzeit im Durchschnitt über alle gezahlten 6,85 € pro Stunde (mit einer erheblichen Varianz, die von 3 bis 4 € in ostdeutschen Bundesländern bis hin zu über 8 € in Baden-Württemberg reicht), nicht ohne eine entsprechend deutliche Erhöhung der Tarife, also der vom Staat gesetzten Preise für die Beförderungsdienstleistung, stemmen können, wenn überhaupt. Gleichzeitig aber kommen die höheren Preise auch den Anbietern von Taxi-Dienstleistungen zugute, die das als Selbstständige machen und insofern nicht an die Mindestlohn-Vorgaben gebunden sind.

Hier ist ein offensichtliches Dilemma angesprochen, für das bislang keine mir bekannte wirklich plausible Lösung vorgelegt worden ist.

Gott schütze die Praktikanten! Und die Rentner, die Zeitungsausträger und die studentischen Hilfskräfte. Ach, der Mindestlohn

„Die Frage, ob der Heilige Geist den Mindestlohn eingeführt hat, ist unter den Theologen nicht restlos geklärt“. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) am 05.06.2014 anlässlich der ersten Lesung des Mindeslohngesetzes im Deutschen Bundestag

Die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat in ihrer Rede vor dem Bundestag am 5. Juni 2014 unmissverständlich ausgeführt: »Der Mindestlohn kommt zum 1. Januar 2015. Das haben wir versprochen, und das wird gehalten. Ab dem 1. Januar 2017 gilt für alle Branchen ohne Ausnahme in Ost und West gleichermaßen ein Mindestlohn von 8,50 Euro.« Endlich ist also dieses Thema vom Eis, sollte man meinen. Wie immer in der Sozialpolitik lohnt ein genauerer Blick auf die Sache und natürlich haben die zahlreichen Gegner der Einführung eines gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohns keineswegs aufgegeben in ihrem Versuch, den Mindestlohn noch im laufenden Gesetzgebungsverfahren (weiter) aufzubohren. Wieso „weiter“ aufbohren? Weil die Formulierung der Ministerin etwas euphemistisch daherkommt, denn den Mindestlohn von 8,50 Euro wird es nicht geben für bestimmte Praktikanten, für alle Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr und für alle bislang Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten ihrer Beschäftigung (und für bestimmte Branchen erst ab 2017). Aber die Gegner des Mindestlohnes lassen nicht locker. Erneut werden weitere Ausnahmen gefordert. An die Spitze der Bewegung hat sich nun der ehemalige Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU), mittlerweile Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses im Bundestag, gestellt, der entsprechende Ausnahmen fordert für Praktikanten, Rentner, Zeitungsausträger und studentische Hilfskräfte.

Bleiben wir in einem ersten Schritt bei den bereits im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Ausnahmen vom angeblich „flächendeckenden“ Mindestlohn.

Da ist die Herausnahme der Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr. Bereits dieser Punkt wird heftig kritisiert, allerdings nicht nur von denjenigen, die keinerlei Ausnahmen zulassen möchten, sondern durchaus auch von Anhängern des Mindestlohns, die mit Blick auf andere Länder, vor allem auf die mit einem hohen Mindestlohn, argumentieren, dass es dort Ausnahmeregelungen für junge Menschen gibt, die teilweise bis über das 21. Lebensjahr hinausreichen. Grundsätzlich geht es hier um das mögliche Problem, dass die Aufnahme einer bezahlten Erwerbstätigkeit attraktiver daherkommt als die einer Ausbildung, denn für die Zeit der Berufsausbildung gelten die Mindestlohnbestimmungen nicht. Die fachwissenschaftliche Diskussionslage hierzu ist uneinheitlich, vgl. beispielsweise die Hinweise in dem Artikel Jobben statt Ausbildung? Am deutlichsten gegen eine Herausnahme der Jugendlichen aus der Anwendung des Mindestlohns hat sich das Wirtschaft- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung  ausgesprochen. Vgl. hierzu die Publikation Jugend ohne Mindestlohn? von Marc Amlinger, Reinhard Bispinck,und Thorsten Schulten, die im März 2014 veröffentlicht wurde. Darin findet man wichtige kritische Aspekte angesprochen:

»Die Ausnahme von Minderjährigen wird mit Hinweis auf die Diskrepanz zwischen Ausbildungsvergütung und unmittelbar erzielbarem Erwerbseinkommen gerechtfertigt, die für Jugendliche negative Anreize bedeuten könnten. Dieses Spannungsverhältnis besteht jedoch bereits heute in vielen Branchen – die Einführung eines Mindestlohns wird diese Situation nicht grundlegend verändern. Vielmehr wären von der Ausnahme Jugendlicher … fast ausschließlich junge Minijobber betroffen, die einen geringen Zuverdienst erwerben. Etwa drei Viertel dieser Altersgruppe geht weiterhin einer Ausbildung nach. Weitere Ausnahmeregelungen könnten in den typischen Tätigkeitsfeldern von Jugendlichen hingegen zu unerwünschten Verdrängungseffekten führen, durch die ältere Beschäftigte durch jüngere ersetzt werden« (Amlinger et al. 2014: 1).

Tatsächlich wird aus Ländern, in denen es altersabhängig nach unten abgestufte Mindestlöhne gibt, von typischen Verzerrungseffekten berichtet, denn Unternehmen erhalten einen Anreiz, gezielt ältere durch jüngere Arbeitnehmer zu ersetzen. »In den Niederlanden sind beispielsweise mehr als die Hälfte aller Beschäftigten in Supermärkten jünger als 23 Jahre und liegen damit unter der Altersschwelle, ab der der volle Mindestlohn gezahlt werden muss. Mit dem Erreichen dieser Altersgrenze verlieren jedoch viele der von vornherein nur befristet beschäftigten Jugendlichen ihren Job, da mit dem Übergang zum Erwachsenenmindestlohn eine erhebliche Lohnsteigerung einhergeht«, so Thorsten Schulten, einer der Verfasser der WSI-Studie, in einem Artikel in der taz.
Auf der anderen Seite sollte man zur Kenntnis nehmen, dass zahlreiche Praktiker aus der Jugendsozialarbeit durchaus die Gefahr sehen bzw. tagtäglich erleben, dass bestimmte junge Menschen eine lohnbedingte Präferenz für die Aufnahme irgendeiner Erwerbsarbeit auf der Ebene der Tätigkeiten von Ungelernten gegenüber einer Berufsausbildung haben. Und aus einer grundsätzlichen Perspektive ist es zumindestens diskussionsbedürftig, warum jemand ohne eine Berufsausbildung teilweise deutlich mehr Geld verdienen kann, als jemand, der eine Berufsausbildung macht, was ja bedeutet, dass neben der bereits anteiligen praktischen Arbeit auch noch im Regelfall eine Menge gelernt werden muss.

Interessanterweise ist bei der Diskussion über mögliche Ausnahmen von Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen bislang nie eine Lösung diskutiert worden, die so aussehen könnte, dass junge Menschen beispielsweise bis zum 21. Lebensjahr dann nur ein abgesenkter Mindestlohn zugestanden wird, wenn sie über keine anerkannte Berufsausbildung verfügen. Damit könnte man durchaus ein zumindest „pädagogisches“ Signal senden.

Auf große Kritik und teilweise heftige Irritationen im Lager der Mindestlohnbefürworter ist die nach den Verhandlungen zwischen SPD und Union in den Gesetzentwurf der großen Koalition aufgenommene Ausnahmeregelung für die ersten sechs Monate eine Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen, die in dieser Zeit dann nicht unter den Mindestlohn fallen. Davon ist nicht nur eine kleine Gruppe betroffen und darüber hinaus gibt es mehr als massive Zweifel an der Sinnhaftigkeit der vorgesehenen Ausnahmeregelung. Man muss diesen Punkt wahrscheinlich so sehen, wie er zustande gekommen ist: Vor dem Hintergrund der massive Widerstände in den Reihen der Union und dem enormen Druck seitens der Wirtschaftsverbände hat die sozialdemokratische Bundesarbeitsministerin hier gleichsam ein „Bauernopfer“ geliefert bzw. liefern müssen, was allerdings zugleich auch viel sagt über die Wahrnehmung „der“ Langzeitarbeitslosen.
Die offizielle Begründung für die Herausnahme der Langzeitarbeitslosen in den ersten sechs Monaten ihrer Beschäftigung aus der Mindestlohnregelung stellt ab auf eine dadurch erreichbare Erhöhung bzw. überhaupt erst Ermöglichung der Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt. Offensichtlich geht es hier um die den Langzeitarbeitslosen zugeschriebene bzw. unterstellte geminderten Leistungsfähigkeit. An dieser Stelle darf und muss man allerdings fragen, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, eine alternative Lösung über den Weg der Lohnkostenbezuschussung zu gehen. Denn wenn es „nur“ die eingeschränkte Produktivität der Langzeitarbeitslosen wäre, die auf Seiten der Arbeitgeber ein Einstellungshindernis darstellen, dann könnte man an dieser Stelle ordnungspolitisch durchaus unproblematisch mit (zeitlich begrenzten) individuellen Lohnkostenzuschüssen arbeiten.

Neben der durchaus nicht unplausiblen Gefahr, dass einige schwarze Schafe unter den Arbeitgebern die neue Ausnahmeregelung als Teil ihres Geschäftsmodells im Sinne von Lohndumping missbrauchen können, muss man zwei zentrale Kritikpunkte besonders herausstellen:

  1. Wie auch die Jugendlichen werden die Langzeitarbeitslosen vollständig aus dem Geltungsbereich des angeblich flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes herausgenommen. Anders formuliert: Sie werden in den Lohnbereich unter den vorgesehenen 8,50 € „entlassen“, ohne dass irgendeine Haltelinie nach unten definiert wird. Wenn man denn schon eine Differenzierung vornehmen will bzw. möchte, dann hätte man sich die Verwendung von abgesenkten Mindestlohnschwellen vorstellen können – so wie in allen anderen Mindestlohnländern, die nicht nur einen Mindestlohn haben. Die arbeiten alle mit prozentual abgesenkten besonderen Mindestlöhnen, beispielsweise für Jugendliche. So aber gibt es nun bei uns überhaupt keine Grenze nach unten für diese Personengruppen. Auf die Spitze getrieben wird das Ganze dadurch, dass die derzeit vorgesehene Regelung die Langzeitarbeitslosen betreffend quasi zu einer „Doppelförderung“ der aus tarifvertragliche Sicht „schlechten“ Arbeitgeber führen kann: Zum einen werden sie gefördert über den Tatbestand, dass in den ersten sechs Monaten eine Beschäftigung keine Lohnuntergrenze besteht und zum anderen ist es jedenfalls nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht ausgeschlossen, dass sie dann auch noch für die Einstellung des Langzeitarbeitslosen einen Lohnkostenzuschuss seitens der Arbeitsagentur bzw. des Jobcenters bekommen können.
  2. Besonders problematisch ist die Tatsache, dass „ironischerweise“ von der Ausnahmeregelung bei den Langzeitarbeitslosen gerade die Unternehmen profitieren (können), die nicht tarifgebunden sind, denn die tarifgebundenen Unternehmen haben gar nicht die Möglichkeit, von dieser Ausnahmeregelung Gebrauch zu machen, es sei denn, auf der tarifvertraglichen Ebene wird ihnen das eröffnet, was allerdings höchst unwahrscheinlich ist. Das hat schon was – ein Gesetz, dass die sozialdemokratische Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles mit dem programmatisch daherkommenden Titel „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ versehen hat, führt im Ergebnis dazu, dass gerade die tarifungebundenen Unternehmen sich erneut bestätigt fühlen müssen hinsichtlich ihrer Entscheidung, auf eine Tarifbindung zu verzichten oder aus dieser zu fliehen, denn das macht sich hier jetzt als Vorteil gegenüber den tarifgebundenen Unternehmen bemerkbar.

Fazit: Bereits die im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Ausnahmeregelungen sind nicht unproblematisch, um das einmal nett auszudrücken. Aber die Gegner einer flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnregelung lassen nicht locker und fordern gleichsam im Dauerfeuer auf die Bundesarbeitsministerin weitere Ausnahmen von dem Mindestlohn ab 2015/2017.

Immer wieder werden dabei die „Praktikanten“ genannt. Da wird in einem Artikel in der FAZ gar von einem Angriff auf die Generation Praktikum gesprochen und auch die WirtschaftsWoche macht sich große Sorgen: Arbeitgeber fürchten Wegfall von Praktikumsplätzen. Konkret geht es um den § 22 im Gesetzentwurf von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Darin steht, dass der Mindestlohn von 8,50 Euro je Stunde auch für Praktikanten gelten soll, wenn das Praktikum länger als sechs Wochen dauert und es freiwillig gemacht wird.  Ebenfalls nicht erfasst vom Mindestlohn – und für die nun einsetzende Debatte um mögliche Umgehungsstrategien besonders relevant (vgl. hierzu z.B. den Beitrag So umgehen Firmen Mindestlohn bei Praktikanten) – sind Praktikanten, die ein Praktikum verpflichtend im Rahmen einer Schul-, Ausbildungs- oder Studienordnung leisten.

Löhr, Peitsmeier und Ritter zitieren in ihrem Artikel z.B. Florian Haller, Chef der Münchner Agentur Serviceplan, der größten inhabergeführten Werbeagentur in Deutschland: » Derzeit bekommen die Praktikanten 600 Euro im Monat, die meisten bleiben drei bis sechs Monate. Für Haller steht fest: Wenn der Gesetzentwurf mit der besagten Praktikanten-Regel durchgeht, wird es bei Serviceplan keine Praktika mehr geben. „Das Praktikum ist tot“, sagt Haller. „Die Politik macht gerade eine tolle Institution kaputt.“«

»Nun ist das mit der „tollen Institution“ so eine Sache«, stellen die Verfassers des Artikels selbst in den Raum. Gerade in der so genannten „Kreativbranche“ basieren ganze Geschäftsmodelle letztendlich auf der Nutzung teilweise oder vollständig unentgeltlicher Arbeitskraft von jungen Menschen, die sich über diesen Einsatz einen Einstieg in ein hart umkämpftes Beschäftigungsfeld erhoffen:
»Berichte über Unternehmen, die Lücken in der Belegschaft mit Jahrespraktikanten füllen, die vollen Arbeitseinsatz für geringe Gehälter erwarten, mit der vagen Aussicht auf eine feste Stelle, haben erst den Begriff der „Generation Praktikum“ geprägt, und dann die Politik auf den Plan gerufen.«  Ganz offensichtlich geht es hier um erhebliche Größenordnungen: 600.000 Praktikanten sind gegenwärtig an einem durchschnittlichen Werktag in der deutschen Wirtschaft im Einsatz.

Vor diesem Hintergrund kommt es prima facie erst einmal sympathisch und durchgreifend rüber, wenn die Bundesarbeitsministerin Nahles mit diesen Worten zitiert wird:  „Ich werde das Modell der „Generation Praktikum“ beenden“. Zur Begrifflichkeit vgl. auch den ZEIT-Artikel „Generation Praktikum“ von Matthias Stolz aus dem Jahr 2005. Nun gibt es wie so oft im Leben einen Unterschied zwischen dem, was man will und dem, was man bekommt. So kann es auch in diesem Fall ausgehen.

Die Position sicher vieler Arbeitgeber, bei denen Praktikanten weniger als billige Arbeitskräfte zum Einsatz gebracht werden, illustriert dieses Zitat: „Praktikanten machen uns Arbeit und stören den normalen Ablauf. Und dafür sollen wir ihnen nun auch noch den Mindestlohn bezahlen? Das ist doch Unfug“, erregt sich Martin Kannegießer, der Inhaber der Maschinenbaufirma Herbert Kannegießer GmbH im ostwestfälischen Vlotho und lange Jahre Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall.

An dieser Stelle wird ein grundsätzliches Problem erkennbar: Wenn die Praktikanten tatsächlich überwiegend, teilweise ausschließlich zur Wertschöpfung in dem Unternehmen eingesetzt werden, was durchaus der Fall sein kann/wird, wenn es sich um ausgebildete Fachkräfte nach einem Studium handelt, die beispielsweise kostenlos in einer Marketing-Agentur arbeiten und sich dort voll einbringen, dann bedeutet die Nicht-Einbeziehung in die Mindestlohnregelung tatsächlich, dass hier ein eigener, für die Unternehmen höchst attraktiver Niedrig- bzw. Gar-kein-Lohnsektor geschaffen wird. Dadurch können sich diese Unternehmen erhebliche Kostenvorteile gegenüber ihren Konkurrenten verschaffen. Auf der anderen Seite muss man aber auch sehen, dass eine „richtige“ Beschäftigung von Praktikanten bedeutet, dass man tatsächlich von der betrieblichen Seite her gesehen einen erheblichen Aufwand hat, da den Praktikanten ja etwas beigebracht werden soll und dadurch die Arbeit von Normalbeschäftigten gebunden wird.

Letztendlich geht es hier um ein nicht auflösbares Dilemma zwischen „zu lange“ und „zu kurz“: So argumentieren Vertreter aus der Politik, dass die Unternehmen ja die Dauer ihrer Praktika reduzieren könnten, statt der jetzt üblichen drei bis sechs Monate das Reinschnuppern auf sechs Wochen begrenzen. Ausgeschlossen, so die Replik aus der Wirtschaft, zu groß wäre der Aufwand der Einarbeitung, zu gering die Einblicke der Praktikanten in den Unternehmensalltag.

Zweifellos wird es erhebliche Kollateralschäden geben – wenn man vom bestehenden System ausgeht und dieses fortführen möchte. Zu erwarten ist, dass viele „freiwillige Orientierungspraktika“ von Unternehmen so gut wie nicht mehr angeboten werden, weil sie zu teuer sind und viele Firmen werden ihr Angebot eindampfen müssen.

Theoretisch könnte man dann eine halbwegs ausbalancierte Lösung finden, wenn es gelingt, die Laufzeit von Praktikanten-Verträgen an der Unterscheidungslinie Noch-nicht-ausgebildet und Bereits-fertig-ausgebildet zu ziehen (vgl. hierzu auch den Argumentationsansatz in dem Artikel Wider die Praktikanten-Ausbeutung von Nadia Pantel). Das mag für viele Fallkonstellationen genügen, um den Bereich der Ausbeutung von Praktikanten zu regulieren, denn die wird vor allem bei denjenigen stattfinden, die schon über eine entsprechende und damit nutzbare Qualifikation verfügen. Auf der anderen Seite muss man sich dann aber auch darüber bewusst sein, dass es in ganz bestimmten Branchen, die bislang auf diesem Rekrutierungsweg marschiert sind, erhebliche Verwerfungen geben wird. Dies wird vor allem die so genannte „Kreativwirtschaft“ treffen, wo bereits heute die Beschäftigungsverhältnisse durch eine außerordentliche Prekarität charakterisiert sind.

Auch und gerade die Medien werden mit dem Thema konfrontiert. Simone Schmollack hat das in ihrem Artikel mit dem treffenden Titel Generation Kurzzeitpflege am Beispiel der taz angesprochen: »In der Hauptredaktion in Berlin arbeiten jeden Monat bis zu 15 Praktikanten in allen Ressorts. Sie sind durchschnittlich acht Wochen im Haus und erhalten eine Aufwandsentschädigung von 200 Euro monatlich.« Diese Modelle werden dann nicht mehr funktionieren, was vielleicht auch die offene Aggressivität erklärt, mit der Martin Reeh seinen Kommentar in der taz dazu überschrieben hat: Bornierte Sozialdemokraten: »Dabei ist es richtig, dass sich die Bundesregierung des Praktikantenunwesens annimmt. Aber die Regelung, nach der Praktikanten, die sich noch in einer Ausbildung befinden, keinen Mindestlohn erhalten müssen, alle anderen aber schon, ist falsch. Sie wird alle, die nach ihrem Studium nicht sofort einen Arbeitsplatz finden, ebenso aufs Jobcenter befördern wie Studienabbrecher und Menschen, die einen beruflichen Neuanfang wagen.«

Nun können die Befürworter einer rigiden Ausgestaltung der Praktikanten-Problematik immer noch an dieser Stelle argumentieren, dass das sicherlich einige Geschäftsmodelle zerstören wird, aber das sei nun mal der Preis dafür, dass man eine möglichst mit wenigen Ausnahmen versehene Regelung bekommt. Und die Unternehmen werden sich schon an die neuen Rahmenbedingungen anpassen. An dieser Stelle muss dann allerdings auch auf die Bereiche hingewiesen werden, die beispielsweise im kulturellen oder sozialen Beschäftigungsfeld angesiedelt sind und die kaum oder gar keine Erlöse auf dem „Markt“ erwirtschaften (können) und damit letztendlich auf öffentliche Förderung angewiesen sind, die bekanntlich oftmals mehr als prekär ist. In diesen Bereichen gibt es überhaupt gar keine Möglichkeit, auch wenn man möchte, Praktikanten auch nur annähernd adäquat zu entlohnen, vor allem diejenigen nicht, die nach einem Studium über einen Praktikum in der Einrichtung versuchen, einen Fuß in die Tür zu bekommen. Man kann das verständlicherweise kritisieren und als ein parasitäres Modell verwerfen, denn es basiert darauf, dass die Betroffenen das Einkommensrisiko privatisieren und sich über andere Quellen finanzieren. Aber man kann es drehen und wenden wie man will, die bislang vorgesehene Regelung bei der Praktikanten wird zu erheblichen Rückgängen an Praktikumsmöglichkeiten in diesen Sektoren führen müssen.

Es sei an dieser Stelle nur kursorisch darauf hingewiesen, dass die derzeitige Debatte über Notwendigkeit und Missbrauch von Praktikanten gerade in der so genannten „Kreativwirtschaft“ wahrlich kein ausschließlich deutsches Problem darstellt. In der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 3. Juni 2014 berichtete Jürgen Schmieder unter der prägnanten Überschrift „Albtraumfabrik“: »Für Praktika in Hollywood gibt es selten Geld – dafür locken unbezahlbare Kontakte. Doch die Produktionsfirmen nutzen die Freiwilligen oft nur aus. Seit ein Hospitant vor Gericht zog, bangt die mächtige US-Filmindustrie … Für Aufsehen sorgt vor allem der Fall von Eric Glatt, der im Jahr 2010 als Praktikant bei der Produktion „Black Swan“ mit Natalie Portman gearbeitet und die Produktionsfirma Fox Searchlight Pictures später wegen Verstößen gegen den Fair Labor Standards Act (FLSA) verklagt hat. Mittlerweile wurde gar eine Sammelklage zugelassen, bei der es nicht mehr nur um Bezahlung und Schadensersatz geht, sondern auch darum, wie die Unterhaltungsindustrie und auch andere Branchen mit Praktikanten umzugehen haben.« Auch in den USA geht es ganz grundsätzlich um die Frage: Wer profitiert von so einem Praktikum? „Die Gesetzgebung ist eindeutig“, sagt Ross Perlin, Autor des Buches „Intern Nation“: „Wenn ein Praktikum bei einer Firma mit Gewinnabsicht unbezahlt ist, dann muss sich dieses Unternehmen um ein pädagogisches Umfeld kümmern.“ Er schätzt, dass es in den Vereinigten Staaten etwa 500.000 Praktika gibt, die gegen diese Regel verstoßen – und dass dadurch die Unternehmen etwa zwei Milliarden US-Dollar pro Jahr sparen.

Nun gibt es weitere Forderungen nach Ausnahmeregelung beim vorgesehenen Mindestlohn. So erwähnt Ramsauer (CSU) auch die Rentner, die Zeitungsausträger und die studentischen Hilfskräfte. Wenn wir mal von den studentischen Hilfskräften absehen, die in den meisten Bundesländern bereits heute Stunden Vergütung bekommen, die oberhalb des vorgesehenen Mindestlohns liegen, sind die beiden anderen Personengruppen ein interessantes Beispiel:

  • Die Forderung, die Zeitungsausträger vom Mindestlohn auszunehmen, muss man wohl als Kniefall vor den Zeitungsverlegern und damit immer noch überaus gewichtigen Meinungsmacherinnen einordnen. Wenn das für viele andere Bereiche – man denke hier an das Gaststättengewerbe (vgl. dazu den Beitrag Mindestlohn zwingt Wirte zum Umdenken) – gelten soll, dann gibt es keinen Grund, gerade die Gruppe der Zeitungsausträger davon auszunehmen. Außer, man möchte die Verleger für sich gewinnen.
  • So richtig problematisch wird es bei der Forderung, Rentner von der Anwendung des Mindestlohnes auszunehmen. Würde man dieser Forderung entsprechen, dann besteht die überaus realistische Gefahr, dass ein riesiger Niedriglohnsektor eigener Art in den kommenden Jahren vor unseren Augen entstehen wird. Das Ganze muss im Zusammenhang gesehen werden mit den derzeitigen Überlegungen in Richtung auf eine „Flexi-Rente“. Ganz offensichtlich geht es einigen Akteuren darum, der Wirtschaft den Zugang zu billigen erwerbstätigen Rentnern zu eröffnen. Vor dem Hintergrund der enorme Absenkung des Rentenniveaus sowie des Zustroms in den kommenden Jahren von Menschen, die aufgrund ihrer Erwerbsbiografie in die Altersarmut rutschen werden, gibt es hier ein Jahr für Jahr enorm wachsendes „Potenzial“ an nutzbaren älteren Arbeitskräften, die dann zu deutlich günstigeren Bedingungen beschäftigt werden können als „normale“ Arbeitnehmer. Vor diesem Hintergrund ist von einer Herausnahme „der“ Rentner aus dem Geltungsbereich des Mindestlohns dringend abzuraten.

In der Gesamtschau der Argumente gibt es viele Gründe, die dafür sprechen, die Ausnahmeregelungen auf ein Minimum zu begrenzen.
Weiterhin offen bleiben drei zentrale Fragen, die mit dem Mindestlohn verbunden sind:

(1) Zum einen geht es um die besondere regionale Betroffenheit in den Gegenden, in denen ein teilweise deutlich unter dem vorgesehenen Mindestlohn liegendes Lohnniveau weit verbreitet ist. Es geht also um weite Teile Ostdeutschlands. Die folgende Sichtweise illustriert die Problemwahrnehmung: Der gesetzliche Mindestlohn sei ein größerer Schritt als der von der Pferdekutsche zur Kraftdroschke, so wird ein Taxiunternehmen in dem Artikel Firmen im Osten fürchten Mindestlohn zitiert. Konkret:

„Es wird gefeilscht, bis das Blut kommt“, sagt der Unternehmer Lutz Möbius aus Zeitz im Süden Sachsen-Anhalts über seine Kundschaft. Taxifahrten, Kleintransporte oder Kurierdienste – mit rund 24 Mitarbeitern bietet der 55-Jährige alles rund um den Transport. Vier bis sechs Euro die Stunde bekommen seine Fahrer, je nach Auftragslage. Ein Mindestlohn von 8,50 Euro sei in der strukturschwachen Region nicht hereinzuholen. „Das haut einem die Füße weg“, sagt Möbius.
»Nach einer Analyse des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle verdiente 2011 jeder vierte Beschäftigte in den neuen Ländern und Ost-Berlin weniger als 8,50 Euro die Stunde. In Westdeutschland war es dagegen nur jeder achte. Eine jüngere Untersuchung der IHK Halle-Dessau – die die Arbeitgeber und nicht die Arbeitnehmer befragte – kommt zum Ergebnis, dass in den Mitgliedsunternehmen rund 15 Prozent der Beschäftigten unter Mindestlohn-Niveau verdienen. Der Bau sei kaum betroffen, im Gastgewerbe aber rund die Hälfte aller Beschäftigten.«

 Diese Ausgangslage wird natürlich dazu führen, dass für viele Unternehmen, deren Stundenlöhne derzeit zwischen vier und fünf Euro schwanken, eine gesetzlich verordnete Anhebung auf 8,50 Euro in der Stunde wie ein schwerer externer Schock auf der Kostenseite wirken wird. Da hilft es auch nicht, wenn man mir durchaus begründbaren wissenschaftlichen Argumenten herausstellt, dass mittel- und langfristig die Regionen im Osten unseres Landes nur dann aus der Niedriglohnfalle herauskommen können, wenn sich die Löhne nach oben bewegen. Man hätte durchaus differenzierter über ein Übergangsszenario für Ostdeutschland sprechen müssen, bevor sich die politische Zahl 8,50 Euro verselbständigt hat. Jetzt wird es um Schadensbegrenzung gehen müssen.

(2) Damit durchaus in einem Zusammenhang stehend ist die Diskussion um die konkrete Höhe des vorgesehenen gesetzlichen Mindestlohns – hier allerdings aus einer anderen, nicht aus der Kostenperspektive der Unternehmen, sondern aus dem Blickwinkel der betroffenen Arbeitnehmer. Immer wieder gibt es Forderungen nach einem höheren gesetzlichen Mindestlohn. Dafür mag es gute Gründe geben, die allerdings abgewogen werden müssen mit der Frage, wie man die Einführung eines solchen Instruments hin bekommt, ohne große Schäden im bestehenden System zu verursachen. Für die Merkwürdigkeiten dieser Debatte ein kleines Beispiel: Dass die Linke einen Mindestlohn von 10 Euro fordert, ist bekannt. Aber das wird jetzt noch mal getippt, wenn man dieser Meldung folgt: Wohlfahrtsverband fordert Mindestlohn über 13 Euro: »Zur Verhinderung von Altersarmut ist nach Ansicht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ein Stundenlohn von deutlich über 13 Euro erforderlich. „Der Mindestlohn muss deutlich steigen“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Ulrich Schneider, der „Passauer Neuen Presse“. Die Gefahr der Altersarmut bestehe vor allem bei Langzeitarbeitslosen, für die es ein Beschäftigungsprogramm geben müsse.« Da wird ja nun einiges durcheinander geworfen. Schaut man auf die Facebook-Seite von Ulrich Schneider, dann findet man dort den folgenden Beitrag von ihm:

»… dann bringen wir doch noch mal Schwung in die Debatte …. auch wenn man redlicherweise sagen muß, daß ich den Mindestlohn in dem Gespräch mit der Passauer Neuen Presse gar nicht explizit gefordert habe, sondern eigentlich nur darauf hinwies, daß man über 13 Euro Stundenlohn brauche, um angesichts des sinkenden Rentenniveaus überhaupt eine Chance zu haben, mit seiner Rente über Sozialhilfeniveau zu landen …«

Bei aller Sympathie für den Mindestlohn an sich, hier scheint jemand – immerhin der Hauptgeschäftsführer eines nicht unbedeutenden Wohlfahrtsverbandes – aus einer medialen Selbstverliebtheit über die Wirkung seiner Worte gleichsam mit dem Feuer zu spielen, denn allen halbwegs mit Vernunft gesegneten Beteiligten muss doch klar sein, dass man in der derzeitigen Situation nicht ernsthaft einen Mindestlohn von 13 € pro Stunde fordern kann, so gerne man das jedem wünschen würde. Der eigentliche Ansatzpunkt an dieser Stelle wäre auch weniger das Hochschrauben des gesetzlichen Mindestlohns, sondern eine kausale Therapie dergestalt, dass man an dem – übrigens trotz Rentenpakets weiter fortbestehenden – Absinken des Rentenniveaus ansetzt und hier eine Veränderung herbeiführt. Denn das Problem, dass man einen so hohen Stundenlohn braucht, um überhaupt eine Rente zu bekommen, die oberhalb der Mindestsicherung liegt, entspringt der politisch gesetzten Reduktion des Rentenniveaus.

(3) Von wesentlich wichtigerer Bedeutung wäre – gerade wenn man aus ökonomisch durchaus nachvollziehbaren Gründen nicht so hoch bei Mindestlohn einsteigen kann, wie man eigentlich möchte – die Frage, wie sich der Mindestlohn in den vor uns liegenden Jahren weiter entwickeln wird.  Hierfür soll es bekanntlich eine Mindestlohnkommission geben. Hinsichtlich der Aufgabe und der Besetzung dieser Kommission hat es einige Diskussion bereits im Vorfeld gegeben. Nunmehr gibt es eine interessante „Große Koalition“ zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften, denn die  möchten die Höhe des Mindestlohns am liebsten künftig unter sich aushandeln. »Nur alle zwei Jahre soll nach dem Willen der Tarifpartner die Lohnuntergrenze angepasst werden, und zwar immer automatisch in der Höhe der vorangegangenen Tarifabschlüsse«, berichtet Karl Doemens in seinem Artikel Mindestlohn ist kein Anhängsel und wünscht sich richtigerweise: »Hoffentlich bleibt die schwarz-rote Koalition hart« in ihrer Ablehnung dieses durchsichtigen Vorschlags. Man müsste ansonsten wirklich die Frage stelle, wozu man dann noch eine Kommission bräuchte. Bereits die „abgespeckte“ Variante in dem Gesetzentwurf hat – leider – nicht mehr viel mit dem zu tun, was wir beispielsweise in Großbritannien mit der „Low Pay Commission“ oder in Australien mit der „Fair Work Commission“ haben.

Toilettenfrauen sind keine „Trinkgeldbewacherinnen“, sondern Reinigungskräfte. Das musste mal gesagt werden. Von einem Gericht. Andere Gerichte sehen das anders: „Eine Toilettenfrau ist keine Putzfrau“. Was denn nun? Also ab in die Niederungen der Rechtsprechung

Toilettenfrauen sind Reinigungskräfte – ja klar, wird man jetzt denken. Aber so einfach ist es dann doch nicht, wie so oft, wenn wir es mit Rechtsprechung zu tun haben.
Im vorliegenden Fall geht es um einen Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg (L 9 KR 384/12): Die Richter haben entschieden, dass angestellte Toilettenfrauen nach Tarif bezahlt werden müssen. Das LSG hat eine Entscheidung des Sozialgerichts Berlin bestätigt, nach der angestellte Toilettenfrauen keine „Trinkgeldbewacherinnen“, sondern Reinigungskräfte sind mit der Folge, dass für sie der Tarifvertrag des Gebäudereinigerhandwerks gilt.

Über den zugrundeliegenden Sachverhalt erfahren wir aus der Pressemitteilung des  Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg:

»Im September 2009 führte die Deutsche Rentenversicherung Bund eine Betriebsprüfung bei einem Berliner „Reinigungsservice“ durch, der sich auf die Betreuung von Kundentoiletten in Einkaufszentren, Warenhäusern und ähnlichen Einrichtungen spezialisiert hat. Im Ergebnis forderte die Rentenversicherung für den Prüfzeitraum 2005 bis 2008 rund 118.000 Euro an Sozialversicherungsbeiträgen nach. Der Betrieb habe zahlreichen bei ihm angestellten Toilettenfrauen nicht den laut Tarifvertrag des Gebäudereinigerhandwerks geschuldeten Mindestlohn von rund 6 bis 8 Euro gezahlt, sondern lediglich zwischen 3,60 und 4,50 Euro. Für die Lohndifferenz müssten die Versicherungsbeiträge nachgezahlt werden.«

Die Begründung des LSG für diese – allerdings noch nicht rechtskräftige – Entscheidung:

»Ein Betrieb, der sich verpflichte in Warenhäusern und Einkaufszentren Kundentoiletten sauber zu halten und hierbei Trinkgelder einnehme, sei ein Reinigungsbetrieb, so das Landessozialgericht. Die bei ihm angestellten Toilettenfrauen seien schwerpunktmäßig Reinigungskräfte und nicht lediglich (wie behauptet) Bewacherinnen von Trinkgeldtellern. Für sie gelte daher der Tarifvertrag des Gebäudereinigerhandwerks. Die Höhe der geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge berechne sich deshalb nach den tarifvertraglich vorgeschriebenen Mindestlöhnen und nicht nach den erheblich niedrigeren tatsächlich gezahlten Löhnen.«

Und das Gericht geht noch einen Schritt weiter:

»Nach Auffassung des Landessozialgerichts spricht viel dafür, dass in der Geschäftspraxis … auch ein Betrug gegenüber dem Toilettennutzer und „Trinkgeldspender“ liege; denn dieser gehe regelmäßig davon aus, das Trinkgeld unmittelbar der anwesenden Reinigungskraft zukommen zu lassen, die es tatsächlich aber vollständig an den Toilettenpächter abzuführen habe.«

Bevor man sich zu früh freut über diese Entscheidung, die wie gesagt noch nicht rechtskräftig ist, denn die Revison beim BSG wurde zugelassen, sei an dieser Stelle auf eine andere Schlagzeile hingewiesen, der man eine ganz andere Sichtweise entnehmen kann: „Eine Toilettenfrau ist keine Putzfrau„, so die zusammenfassende Bewertung eines anderen Urteils im März dieses Jahres: Damals hatte das Hamburger Arbeitsgericht geurteilt: Nur eine Toilettenfrau, die tatsächlich auch den Großteil ihrer Arbeitszeit mit Reinigungsarbeiten zubringt, hat Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn als Putzfrau. Die Klage einer Toilettenfrau auf Zahlung des Mindestlohns wurde abgewiesen. Die Frau habe nicht beweisen können, dass sie mehr als die Hälfte ihrer Arbeitszeit mit der Reinigung von WC-Räumen beschäftigt gewesen sei.

»Die 58-jährige Klägerin hatte dem Subunternehmen eines Hamburger Kaufhauses Lohndumping vorgeworfen und gefordert, dass ihr früherer Arbeitgeber sie im Nachhinein als Reinigungskraft anerkennt. Damit hätte ihr rückwirkend der tarifliche Mindestlohn zugestanden. Einschließlich Prämien habe seine Mandantin in manchen Monaten lediglich etwa 4,30 Euro pro Stunde verdient, erklärte der Anwalt der Frau … Sie hatte ein halbes Jahr lang in Vollzeit bei der Servicefirma gearbeitet. Fast die ganze Zeit über habe sie dabei die Toiletten eines Kaufhauses gereinigt. Für 40 Stunden wöchentlich erhielt sie von dem Subunternehmen einen vereinbarten Grundlohn von 600 Euro brutto im Monat.«

Bei dieser Entscheidung ist also ein anderes Gericht zu einer anderen Auffassung gekommen als nun das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg. Und die Problematik ist auch Gegenstand anderer Verfahren gewesen. Im Februar dieses Jahres wurde auf der Facebook-Seite von Aktuelle Sozialpolitik über diesen Beitrag berichtet: Interclean: Schmutziger Krieg im Centro Oberhausen. Daraus das folgende Zitat:

»Erst im Januar stand Barkowski vor Gericht, weil eine “Toilettenfrau”, die den von Barkowski kreierten Beruf der “Trinkgeldaufsicht”, auch “Sitzerin” genannt, ausübte, einen Anteil am Trinkgeld einklagte … “Sitzer” werden eigens eingestellt, um den Teller mit dem vermeintlichen Trinkgeld zu bewachen. Sie erhalten 5,20 Euro die Stunde, während das Personal, das tatsächlich die Toiletten reinigt 9,31 Euro pro Stunde erhält. So muss für die “Sitzer” nicht der Mindestlohn in der Gebäudereinigung bezahlt werden (z.Z. in NRW 9,31 Euro). Die Einnahmen vom Teller (das sollen pro Tag bis zu 300,- Euro, vor Weihnachten aber auch schon mal 8000,- Euro sein) fließen zu 100% an Interclean. Die Beschäftigten sehen davon nichts. Lediglich im Eingangsbereich wird mit einem Schild darauf aufmerksam gemacht, dass das “Tellergeld” zum Unterhalt der Toiletten diene. Die meisten Kunden dürften aber trotzdem davon ausgehen, dass es sich um ein Trinkgeld handelt, das unmittelbar den Reinigungskräften zugute kommt.«

„Trinkgeldaufsicht“, auch „Sitzerin“ genannt – die Phantasie mancher Arbeitgeber bei der Konstruktion von Bypass-Strategien zur Umgehung minimaler Auflagen scheint grenzenlos, der semantische Schwachsinn auch.

So bleibt zu hoffen, dass die klare Entscheidung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg Bestand behalten wird. Aber wie heißt es auch im Volksmund: Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand.