Taxifahrer eingeklemmt zwischen dem Mindestlohn ante portas, (Schein)Selbständigkeit und einer App. Und die deutsche Gurke ist auch noch in Gefahr

Je näher die Realität des gesetzlichen Mindestlohns kommt, um so mehr Problematisierungen aus einzelnen Branchen gelangen in das mediale Rampenlicht. Immer wieder gerne als Beispiel werden die Taxifahrer angeführt. „Mindestlohn bringt Unruhe ins Taxigewerbe„, so ist ein aktueller Artikel überschrieben: »Die meisten Taxifahrer erhalten einen Anteil am Umsatz, nicht einen Stundenlohn. Dem Mindestlohn entkommt die Branche damit aber nicht – mit womöglich unangenehmen Folgen für die Kundschaft«, so Manfred Köhler. »Die Taxibranche fürchtet den Mindestlohn, manche Unternehmen haben Angst vor einer Pleite« schreibt Thomas Öchsner  in seinem Artikel „Überleben am Steuer„. »Die 200.000 Taxifahrer Deutschlands gehören zu den am schlechtesten bezahlten Beschäftigten der Nation. 87 Prozent von ihnen arbeiten zu einem Niedriglohn. Im Durchschnitt kommt der Mann oder die Frau hinter dem Steuer eines Taxis auf 6,85 Euro pro Stunde.«
Manfred Köhler berichtet über seine Recherchen aus dem Taxigewerbe, dass man sich dort gegenwärtig recht missmutig mit den Folgen der gesetzlichen Lohnuntergrenze von 8,50 Euro, die 2015 in ganz Deutschland eingeführt werden soll, beschäftigt. Durchaus bezeichnend ist diese Feststellung: »Die erste, unangenehme Folge ist schon, dass auf einmal so viele wissen wollen, was denn Taxifahrer eigentlich verdienen. Welche Verträge sie haben. Wie eigentlich überhaupt das ganze Taxigewerbe organisiert ist.«

Die scheinbar banale Frage danach erweise sich, so Köhler, wie ein Stich ins Wespennest. Die eine Seite der Branche: »Alle Taxen in einer Farbe. Gut durchorganisierte Taxizentralen. Hoheitlich festgelegte Tarife.« Aber wer sich für die andere Seite der Branche interessiert, »wer nach den Arbeitsbedingungen fragt, bekommt bemerkenswert unscharfe Auskünfte.« Köhler nähert sich dieser Schattenseite am Beispiel der Stadt Frankfurt:

»In Frankfurt kommen auf 1.700 Taxis 1.100 Unternehmer. Das heißt: Ganz oft sitzt der Chef selbst hinterm Steuer. Für Unternehmer aber gilt der Mindestlohn nicht …  Doch auch … Angestellte finden sich in der Branche natürlich in großer Zahl. Neben zahlreichen Ein-Mann-Betrieben sind in Frankfurt auch Taxiunternehmen mit 30 und mehr Fahrzeugen am Markt. Alles in allem verdienen in der Stadt an die 4.500 Fahrer ihr Geld, wie zu hören ist.«

Und auch angestellte Fahrer sind nicht annähernd unter einem Dach zu vereinen – da gibt es die, die von dem Taxifahrer-Job ihren Lebensunterhalt bestreiten bis hin zu den vielen Aushilfen, die teilweise nur ein paar Stunden pro Woche nebenbei jobben. Und auch bei denen, die ein Taxi in Vollzeit fahren, gibt es solche mit halbwegs normaler Arbeitszeit und eben andere, die 16 Stunden am Tag hinter dem Steuer sitzen. Vor allem »… Zuwanderer sehen es als Chance, rasch an Geld zu kommen. Der Ausländer, ein Rumäne vielleicht, der Tag für Tag durch Frankfurt fährt, der unter äußerst dürftigen Umständen wohnt – hier hat er einen mäßig bezahlten Job, zu Hause ist er der König, der mehr verdient als alle sonst im Dorf.«

Eine besondere Problematik hinsichtlich der Frage, wie sich der Mindestlohn auswirken wird, ist die vorherrschende Art und Weise der Vergütung:

»Entlohnt werden die Fahrer … in der Mehrzahl nach Umsatz. 35 bis 45 Prozent der Tageseinnahmen können sie behalten … Deutlich kleiner scheint die Gruppe zu sein, die einen Stundenlohn bekommt. Mal ist von 6,50 Euro die Rede, mal von 7,10 Euro. Tarifvertrag? Natürlich nicht. Jedenfalls keinen aktuellen. Viele Fahrer hätten 450-Euro-Jobs, heißt es noch.«

Das Bundesarbeitsministerium kann kein Problem erkennen, denn der Mindestlohn gelte auch dort und dann, wenn eine Umsatzbeteiligung gewährt wird. Diese müsse halt so hoch sein, dass der Mindestlohn pro Stunde erreicht wird. Wenn es so einfach wäre, man denke hier nur an die vielen Zeiten, in denen der Umsatz tatsächlich so niedrig ist, dass allein die mindestlohnkonformen Personalkosten diesen bei weitem übersteigen würden.

Der Deutsche Taxi- und Mietwagenverband schlussfolgert angesichts des Kostenschubs im Gefolge der Umsetzung des Mindestlohns: Taxifahrten müssen teuerer werden, der erforderliche Anstieg der Tarife wird auf 20 bis 25 Prozent geschätzt.

Das nun wieder hört sich einfacher an als es ist.

Denn erstens muss hier beachtet werden: »Taxipreise legen die Städte und Landkreise fest. Mehr als 800 Tarifordnungen gibt es in Deutschland. Bis die alle geändert sind, kann es Jahre dauern, wenn die Stadt- und Kreisräte überhaupt bereit sind, den Bürgern die drastischen Preissteigerungen zuzumuten«, so Thomas Öchsner in seinem Artikel.

Und zweitens muss man natürlich in Rechnung stellen, dass eine solche Preisanhebung auch auf dem Markt durchsetzbar sein muss. Nun handelt es sich bei Taxifahrten zumindest teilweise um ein substitutives Gut und entsprechend sind Nachfragerückgänge – vor allem bei einer so deutlichen Anhebung der Beförderungspreise – plausibel zu erwarten, weil die Kunden ausweichen (können bzw. auch budgetbedingt müssen).

Hinzu kommt: Die geforderte Erhöhung der Tarife um 20 bis 25 Prozent geht davon aus, dass die Kostensteigerungen durch die Einführung des Mindestlohnes erforderlich sei – nur gilt der lediglich für die angestellten Fahrer, nicht aber für die vielen Selbständigen, die in der Branche tätig sind. Das an sich schon gegebene Gefälle zwischen den Polen des Geschäftsmodells einer selbständigen Selbstausbeutung und dem einer Beschäftigung von angestellten Fahrern unter Beachtung der arbeits- und sozialrechtlichen Bedingungen wird sich noch weiter vertiefen.

Köhler bringt in seinem Artikel die Gemengelage auf den Punkt und zitiert den Vorsitzenden der Taxi-Vereinigung Frankfurt am Main, Hans-Peter Kratz: »… eine Tariferhöhung werde zwangsläufig zu einer niedrigeren Nachfrage führen … bevor die Fahrer ohne Arbeit dastehen, werden sie schauen, dass sie ins Lager der Selbständigen wechseln. Dem widerspricht nun Thomas Schmidt. Er vertritt das Taxigewerbe in der Vollversammlung der IHK Frankfurt. Das wäre ja Scheinselbständigkeit, sagt Schmidt.«

Kann es da überhaupt eine Lösung geben? Wahrscheinlich wird es sich irgendwo in der Mitte einpendeln, also man wird die Gebührensätze für die Taxinutzung schrittweise anheben und gleichzeitig wird man die Umsatzbeteiligung mit einem Basis-Stundenlohn kombinieren, um formal den Mindestlohn und seine Anforderungen einhalten zu können.

Das ändert aber nichts an dem angesprochenen Dilemma der Wettbewerbsverzerrung zwischen dem Selbständigkeits- und dem Angestelltenmodell – aber das gilt auch für viele andere Bereiche und insofern werden wir nicht nur im Taxigewerbe nach Einführung des Mindestlohnes Zeuge werden einer Ausbreitung von Scheinselbständigkeit.

Und als wenn das nicht alles schon genug wäre, wird das Taxigewerbe derzeit auch noch an einer anderen grundsätzlichen Front herausgefordert: Gemeint ist hier der Angriff auf das traditionelle Geschäftsmodell der Taxiunternehmen – manche Kritiker sprechen gerne vom Taxikartell – durch die zunehmende Konkurrenz durch Limousinenservices und nun auch noch durch eine App auf den Smartphones vieler (potenzieller) Kunden.

»Ein neuer Trend mischt aktuell das Taxigewerbe auf, besonders in der deutschen Hauptstadt. 7.600 Taxen und 15.000 Fahrer sind in Berlin unterwegs, viele der Unternehmer oder der angestellten Chauffeure kommen aber aufgrund des großen Wettbewerbs nur schwer über die Runden. Und jetzt biegt auch noch eine Konkurrenz um die Ecke, die mit Unterstützung von mächtigen Konzernen wie Sixt oder Daimler das Feld neu aufrollt. Gemeint sind die neuen Vermittler von Limousinenservices, die sich „Blacklane“ oder „My Driver“ nennen«, so Pascal Brückmann in seinem Kommentar. Die Limousinendienste operieren überwiegend mit Festpreisen, was sie gerade für Firmen attraktiv macht. Interessant am Rande ist auch der Tatbestand, dass Daimler sich an dem Unternehmen Blacklane beteiligt hat, was zu erheblichen Spannungen zwischen dem bisherigen Hoflieferanten der Taxi-Unternehmen und den betroffenen Anbietern führt (vgl. dazu diesen Artikel).

Die neueste Zuspitzung in diesem Angriff auf das klassische, manche werden sagen tradierte Geschäftsmodell der Taxi-Branche ist eine Smartphone-App und trägt den Namen „Uber„. Es handelt sich um ein Start-Up aus San Francisco und vermittelt private Fahrer per Smartphone-App:

»Via GPS gibt man einfach seinen Standort ein, und die App sucht einen Fahrer in der Nähe. Man kann dann nicht nur sehen, wer der Fahrer ist und wie er von anderen bewertet wurde, sondern auch, wie lange es noch dauert, bis er da ist. Bezahlt wird ebenfalls per App, 20 Prozent des Fahrpreises gehen an Uber. Das Konzept erinnert an Angebote wie die Mitfahrzentrale oder Flinc, nur dass Uber eigene Fahrer hat, die dieser Arbeit hauptberuflich nachgehen. Bei der Mitfahrzentrale stellen hingegen in der Regel Privatleute Fahrten ein, die sie ohnehin machen wollen – und für die sie die Spritkosten senken wollen, indem sie noch jemanden mitnehmen«, kann man dem Artikel „Der Kampf um die Taxis“ entnehmen. Uber ist auch nach Berlin expandiert und hat sogleich den Widerstand der Branche zu spüren bekommen, die darin eine „rechtswidrige gewerbliche Personenbeförderung“ sehen.

Mittlerweile wird der Kampf gegen die neue (und ungleiche) Konkurrenz auch vor Gericht ausgetragen. Das Landgericht Berlin hat dem amerikanischen Limousinenservice Uber per einstweiliger Verfügung untersagt, „im Bundesland Berlin mittels der Smartphone App Uber taxenähnlichen Verkehr zu betreiben“, so der Artikel „Berliner Gericht verbietet Limousinenservice Uber„. Aber: Das Unternehmen Uber hat angekündigt, alle Rechtsmittel auszuschöpfen und das an sich erfolgreiche Taxi-Unternehmen verzichtet derzeit auf die Vollstreckung der Unterlassungsverfügung aus Angst vor Schadensersatzklagen.

Aber abschließend wieder zurück zum anstehenden Mindestlohn. Nicht nur die Taxifahrer sind davon betroffen – auch in anderen Branchen erhebt sich ein entsprechendes Wehgeklage. Nehmen wir die deutsche Gurke, die – folgt man einem Teil der Berichterstattung – kurz vor dem Exitus steht: „Die deutsche Gurke ist in Gefahr„, so immerhin eine Überschrift in der seriösen FAZ.
Die Feldgurkenernte ist ein saisonales Geschäft, für die man im Juli und August einen Schwung arbeitsamer Helfer braucht. »Die Arbeit auf dem sogenannten Gurkenflieger ist hart: Auf dem breiten Ausleger eines Treckers schweben die Pflücker auf dem Bauch liegend über das Feld. Deutsche lassen sich dafür schon lange nicht mehr gewinnen.« Also sind seit Jahren Saisonarbeiter aus Polen und anderen osteuropäischen Ländern in diesem Bereich tätig. In dem Artikel wird der Landwirt Walter Jäger aus Hückelhoven am Niederrhein zitiert, der Gurken anbaut und von solchen Saisonarbeitern ernten lässt:

»Bisher zahlte Jäger seinen Erntehelfern rund 7 Euro die Stunde. Doch nach dem Willen der Bundesregierung soll er ihnen vom kommenden Jahr an den neuen Mindestlohn von 8,50 Euro gewähren. „Das würde bedeuten, dass unsere Lohnkosten schlagartig um rund ein Fünftel steigen“, rechnet der Landwirt vor … Jäger liefert seine geernteten Gurken direkt an das Unternehmen Stollenwerk in Düren, wo das junge Gemüse sogleich weiterverarbeitet wird. Aber damit ihm Stollenwerk höhere Preise zahlen könnte, müsste es dem Familienbetrieb seinerseits gelingen, gegenüber dem Einzelhandel deutlich höhere Preise durchzusetzen. Jäger bezweifelt, dass dies möglich ist. „Aldi, Lidl, Edeka & Co halten da den Daumen drauf.“ Selbst der deutsche Marktführer im Geschäft mit Gewürzgurken, die Carl Kühne KG aus Hamburg, kann sich nicht vorstellen, künftig 50 bis 80 Cent mehr für jedes Glas verlangen zu können.«

Die Produzenten bewegen sich auf sehr unsicherem Terrain. Bleiben wir bei den Gurken:

»Wie schmal der kalkulatorische Grat ist, lässt sich an den Cornichons ablesen. Diese kleineren Gurken bezieht Kühne schon zum größten Teil aus der Türkei, weil deren Ernte wegen der geringen Größe des Gemüses verhältnismäßig viel Handarbeit erfordert. „Das lohnt sich für die deutschen Bauern nicht.“ Anders verhält es sich bei den klassischen großen Gewürzgurken. Diese bezieht Kühne noch zu 80 Prozent von heimischen Bauern.«

Auch hier stellt sich natürlich die Frage nach einem Ausweg aus dem angeblichen bzw. tatsächlichen Dilemma: Eine Möglichkeit wäre, wenn der Mindestlohn von 8,50 Euro nicht schon Anfang 2015, sondern stufenweise erst bis Ende 2016 eingeführt werden müsste. Aber auch bei diesem Beispiel kann man zwei Einwände vortragen:

  • Zum einen gibt es bereits heute nicht wenige Landwirte, die ihren Saisonarbeitern gerade aufgrund der existenziellen Abhängigkeit von der Ernte in einem kurzen Zeitraum des Jahres so ordentliche Entgelte zahlen, dass der Mindestlohn von 8,50 Euro kein Thema ist. Diese andere Seite illustriert der Deutschlandfunk-Beitrag „Gesetz zum Mindestlohn – 8,50 Euro für (fast) jeden“ von Tonia Koch am Beispiel des Gartenbaubetriebs von Erwin Faust in Saarlouis: »Ohne die rumänischen Mitarbeiter, die im Schnitt jeweils vier Monate vor Ort sind, könne der Betrieb einpacken, sagt Erwin Faust. Er brauche vor allem Kontinuität und Leute, die wissen, was zu tun sei auf dem Feld und in den Gewächshäusern … „und da machen wir auch Lohnkonzessionen, weil am Ende die Leistung auch herausspringt. Das Problem ist, wir müssen anstinken gegen die, die die Leute in den Container stecken und fürs halbe Geld arbeiten lassen. Was heißt das letztendlich? Die Supermärkte lachen sich kaputt, die Discounter lachen sich kaputt, weil sie billiges Zeug kaufen können.“ Der zum Teil ruinöse Wettbewerb über die Löhne sei der falsche Ansatz. Der Gemüsebauer hält daher eine Mindestlohnregelung für überfällig. „Wir zahlen auch über Mindestlohn unsere Leute. Der geringste Bruttolohn, den wir haben, liegt bei 9,20 Euro, der geringste, für Aushilfen. Da steh‘ ich voll dahinter, und das ist auch bei unseren Rumänen so.“«
  • Zum anderen muss die Politik nicht unplausibel davon ausgehen, dass sich sofort zahlreiche andere Branchen zu Wort melden werden und aus ihrer Sicht teilweise gut begründet Argumente für eine (wenigstens zeitliche) Herausnahme aus dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn vortragen können. An dem sich dann ausbreitenden Flickenteppich würden sich wiederum die Apologeten eines flächendeckenden Mindestlohns abarbeiten und die Regierung kritisieren.

Es ist und wird eine klebrige Sache mit dem Mindestlohn.

Der gesetzliche Mindestlohn wird in die Mangel genommen – jetzt gibt es sogar angeblich eine „Ohrfeige“ für die Bundesregierung. Zur Kritik des „Normenkontrollrats“ an dem Gesetzentwurf zum Mindestlohn

Er war schon immer ein Aufregerthema und heftig umstritten, nun aber wird es – zumindest semantisch – richtig gewalttätig rund um den geplanten gesetzlichen Mindestlohn: „Eine Ohrfeige für die Bundesregierung„, so ist ein Artikel in der FAZ überschrieben. Es wird darüber berichtet, dass der beim Bundeskanzleramt angesiedelte Normenkontrollrat – ein zehnköpfiges Expertengremium, das 2006 von der damaligen großen Koalition eingesetzt wurde, um „für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“ zu sorgen – den Gesetzentwurf zum Mindestlohn geprüft hat. Das Urteil des Gremiums fällt angeblich vernichtend aus: Die Kosten und Folgen seien mangelhaft kalkuliert. Um welche Kritikpunkte geht es genau und wie sind diese zu bewerten?

Es sind vor allem drei Kritikpunkte, die seitens des Normenkontrollrats vorgetragen werden, folgt man der Berichterstattung von Dietrich Creutzburg und Heike Göbel:

1.) Der Gesetzentwurf der Bundesregierung geht nur auf Bürokratiekosten im engen Sinne ein, die „für die Wirtschaft nur in geringem Maße“ anfallen würde. Der Normenkontrollrat weist darauf hin, dass der geplante Mindestlohn von 8,50 Euro je Stunde die Unternehmen nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in der Anfangsphase mit etwa 16 Milliarden Euro belasten dürfte.

2.) Das Gremium kritisiert außerdem die unvollständige bzw. schlichtweg fehlende Kalkulation und Offenlegung der mit der Einführung des Mindestlohns anfallenden Kontrollkosten. Der Normenkontrollrat moniert, »dass die Regierung den Verwaltungsaufwand durch die geplanten Mindestlohn-Kontrollen nicht beziffert habe, sondern nur allgemein auf „höhere Personal- und Sachkosten“ bei der Zollverwaltung hinweist. Das zuständige Ressort – das Finanzministerium – sei aber verpflichtet, den damit einhergehenden Erfüllungsaufwand darzustellen.«

3.) Schlussendlich bemängelt der Rat eine „unvollständige“ Darstellung möglicher Alternativen zum vorliegenden Mindestlohngesetz. »So hätte die Bundesregierung zumindest erläutern müssen, warum das Anfangsniveau des Mindestlohns mit 8,50 Euro zum 1. Januar 2015 gesetzlich festgelegt werden solle.« Der Rat vermisst den Hinweis auf die aus ihrer Sicht „relevante Alternative“, einen (zunächst geringeren) Mindestlohn auf Vorschlag einer unabhängigen Kommission festzulegen.

Zur Bewertung der drei Kritikpunkte:

Hinsichtlich der im Punkt 3.) genannten darzustellenden „relevanten Alternative“: Das ist grundsätzlich richtig ist und praktisch selbst von einigen Mindestlohnbefürwortern im Vorfeld der Debatte, die nun zu dem vorliegenden Gesetzentwurf geführt hat, ausdrücklich gefordert worden – vor allem von denjenigen, die der Bundesregierung ein Vorgehen nach dem Modell der in Großbritannien agierenden „Low Pay Commission“ empfohlen haben. Allerdings erscheint doch die Art und Weise der Präsentation dieser Alternative seitens des Normenkontrollrats selbst mehr als einseitig, denn offensichtlich kann sich der Rat nur einen „zunächst geringeren“ Mindestlohn vorstellen – was jetzt irgendwie halbiert rüberkommt, denn möglicherweise wäre eine unabhängige Kommission ja auch zu einem anderen Ergebnis gekommen, was das Anfangsniveau angeht.

Zu 1.) lässt sich sagen, dass – wenn die Berichterstattung über die bislang öffentlich nicht zugängliche, aber der FAZ vorliegenden sechsseitigen Stellungnahme des Normenkontrollrats zum Mindestlohn-Gesetzentwurf die Position des Gremiums richtig wiedergibt – hier unterschiedliche Kosten vermengt werden. Zum einen ist von „Bürokratiekosten“ die Rede, die man – soweit vorhanden – auch für die Wirtschaft ausweisen müsste, zum anderen aber werden DIW-Zahlen zitiert, nach denen der Mindestlohn die Unternehmen »in der Anfangsphase mit etwa 16 Milliarden Euro belasten dürfte«. Das nun sind aber die Kosten durch die Lohnerhöhung, die da kalkuliert werden und auch nur – ohne das hier vertiefen zu wollen – die Bruttokosten, denen u.a. an anderer Stelle entsprechende Einsparungen gegenüberstehen können (vgl. hierzu den Blog-Beitrag „Immer diese Studien. Eine sagt angeblich, der Mindestlohn verfehlt sein Ziel. Wirklich?„).

Relevant sind die Hinweise beim Punkt 2.), denn hier wird tatsächlich eine offensichtliche Leerstelle im bislang vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung adressiert – die unvollständige bzw. schlichtweg fehlende Kalkulation und Offenlegung der mit der Einführung des Mindestlohns anfallenden Kontrollkosten. Dies muss auch vor dem Hintergrund einer bereits seit längerem vorgetragenen Kritik an der fehlenden Konkretisierung des zusätzlich erforderlichen Personalbedarfs für die Kontrolle des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns gesehen und bewertet werden. Vgl. hierzu stellvertretend den Anfang April veröffentlichten Artikel „Opposition fordert mehr Fahnder“ von Karl Doemens: Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim Zoll soll die Einhaltung des gesetzlichen Mindestlohns überprüfen. Doch dort sind schon gegenwärtig bis zu 500 der 6.700 Planstellen nicht besetzt. Also eine bestehende Unterbesetzung für die gegebenen Aufgaben, die nun ja noch angereichert werden um ein richtig großes Paragrafenwerk. Da ist es schon mehr als vorsätzlich, wenn man zu dem damit verbundenen Mehrbedarf an Personal im Gesetzentwurf außer heißer Luft – es wird einen „höheren Bedarf“ geben – nichts genaueres finden kann.
In dem Artikel von Doemens wird auch das mögliche Spektrum des mit der Mindestlohn-Kontrolle verbundenen personellen Mehrbedarfs skizziert:

»Die Deutsche Zoll- und Finanzgewerkschaft hatte 2.000 bis 2.500 weitere Stellen gefordert. Die IG Bau hält 3.500 zusätzliche Kontrolleure für nötig. Linken-Parteichefin Katja Kipping fordert gar 5.000 neue Stellen.«

Dazu kommen dann natürlich noch Sachkosten usw. Das muss man schon a) überhaupt und b) genauer ausweisen. An dieser Stelle ist der Kritik des Normenkontrollrats uneingeschränkt zuzustimmen.

Immer diese Studien. Eine sagt angeblich, der Mindestlohn verfehlt sein Ziel. Wirklich?

Das tut manchem sicher gut, eine solche Überschrift frei Haus geliefert zu bekommen: „Der Mindestlohn verfehlt sein Ziel„, so Sven Astheimer. Da muss man natürlich zuerst einmal klären, was denn bitte schön das Ziel des Mindestlohns ist. Dazu erfahren wir: »Manche Menschen arbeiten und müssen trotzdem mit Hartz IV aufstocken. Dagegen sollte der Mindestlohn helfen. Ausgerechnet Forscher der Bundesagentur für Arbeit sagen jetzt: Das funktioniert nicht.« Astheimer bezieht sich hier auf die Studie „Die meisten Aufstocker bleiben trotz Mindestlohn bedürftig“ von Kerstin Bruckmeier und Jürgen Wiemers vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Die Forscher des IAB haben berechnet, »dass lediglich zwischen 43.000 und 64.000 berufstätige Hartz-IV-Bezieher durch die staatliche verordnete Lohnerhöhung den Sprung aus der Grundsicherung schaffen können. Das sind nicht einmal 5 Prozent aller rund 1,3 Millionen „Aufstocker“, die neben einem Arbeitseinkommen auch noch auf Arbeitslosengeld II (Hartz IV) angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.« Das kommt doch mehr als ernüchternd rüber. Haben nicht wichtige Apologeten eines gesetzlichen Mindestlohns immer wieder versprochen, dass mit diesem Instrumentarium der anzustrebende Zustand (wieder)hergestellt werden kann, dass man von seiner Hände Arbeit auch leben können muss, ohne auf aufstockende Leistungen aus dem Grundsicherungssystem angewiesen zu sein? Und dann das?

Schauen wir also genauer hin, was uns die Wissenschaftler da präsentieren. Dass die Bilanz des vor der Einführung stehenden Mindestlohnes hinsichtlich der Erwartung, damit die Transferabhängigkeit im Grundsicherungssystems deutlich reduzieren zu können, so schlecht ausfällt, überrascht nicht wirklich vor dem Hintergrund der Zusammensetzung der Gruppe der „Aufstocker“. Denn hier wirken zwei grundlegende Faktoren, die auch bei einem höheren Mindestlohn als den nunmehr vorgesehenen 8,50 Euro pro Stunde eine weiter fortbestehende Abhängigkeit von aufstockenden Leistungen aus dem Hartz IV-System bedingen würden: Zum einen eine nur teilzeitige Beschäftigung, häufig im Gehäuse der „Minijobs“ und zum anderen eine über das Einkommen mitzuversorgende Zahl von Haushaltsmitgliedern, die ein hohes Einkommen notwendig machen.
In den Worten von Bruckmeier und Wiemers:

»77 Prozent der abhängig beschäftigten Leistungsbezieher arbeiten weniger als 32 Stunden in der Woche, 60 Prozent weniger als 22 Stunden und ein Drittel weniger als 11 Stunden … Weitere Ursachen für Einkommen, die zur Existenzsicherung nicht reichen, sind niedrige Stundenlöhne und die Haushaltsgröße bei häufig nur einem Erwerbstätigen im Haushalt. Die durchschnittlichen Stundenlöhne von Aufstockern betragen etwa 6,20 Euro. Die niedrigsten Stundenlöhne von durchschnittlich unter 5 Euro erzielen Alleinstehende in Ostdeutschland. Aufstocker aus Paarhaushalten in Westdeutschland erreichen hingegen bereits jetzt zu über einem Fünftel Stundenlöhne von über 10 Euro. Hier reicht der Verdienst wegen der Haushaltsgröße nicht zur Existenzsicherung aller Haushaltsmitglieder.«

Auf der Basis einer Simulationsstudie kommen die Wissenschaftler mit Blick auf die Aufstocker zu dem Ergebnis, dass 57.000 bis 64.000 von ihnen nach Einführung des Mindestlohnes keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosengeld II hätten. Ein Teil dieser Personen würde stattdessen Wohngeld und Kinderzuschlag erhalten.

Interessant ist aber ein weiterer Befund, den uns Bruckmeier und Wiemers präsentieren. In ihrer Zusammenfassung schreiben sie:

»Unter der Annahme, dass kurzfristig Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage konstant bleiben, senkt der Mindestlohn die Ausgaben für Arbeitslosengeld II um jährlich 700 Mio. bis 900 Mio. Euro. Mehrausgaben bei Wohngeld und Kinderzuschlag reduzieren die Einsparungen, sodass die Transferausgaben im Saldo um 500 Mio. bis 650 Mio. Euro zurückgehen. Insgesamt ergibt sich eine Entlastung der öffentlichen Haushalte zwischen knapp 2,2 Mrd. und gut 3 Mrd. Euro jährlich.«

Das sind doch ganz erhebliche Summen. Während die unmittelbare Entlastung von im Saldo 500 bis 650 Mio. Euro noch überschaubar daherkommt, kommen die Autoren zu einer Gesamtentlastung der öffentlichen Haushalte in Höhe von 2,2 bis 3 Mrd. Euro pro Jahr. Dies wird durch zusätzliche Steuer- und Sozialversicherungsbeitragseinnahmen generiert:

»Schätzungen zeigen, dass im Falle der Einführung des Mindestlohnes kurzfristig mit einem Anstieg der Einkommenssteuereinnahmen von 1,16 Mrd. Euro … bis knapp 1,67 Mrd. Euro … zu rechnen wäre … Die entsprechenden Mehreinnahmen in der Sozialversicherung betragen ca. 2,9 Mrd. bis 4,5 Mrd. Euro.«

Der niedrigere Wert der Gesamtentlastung ergibt sich annahmegemäß bei den Autoren dadurch, dass parallel die Steuerzahlungen der Unternehmen sinken aufgrund der höheren Aufwendungen, die sie haben.

Und hier sind wir bei einem entscheidenden Punkt angekommen. Auch wenn wir akzeptieren, dass sich die individuelle Situation der Betroffenen kaum verändert, kann der Mindestlohn das Ausmaß der individuellen Transferabhängigkeit bei Sozialleistungsbeziehern reduzieren und damit unauflösbar verbunden natürlich auch die Kostenkompensation, die der Staat im bisherigen System leistet zugunsten der Arbeitgeber, die niedrige oder niedrigste Löhne zahlen.

Ist das eine Zielverfehlung? Kommt immer darauf an, was man als Ziel definiert.

Wenn man in der Reduktion der aufstockenden Leistungen, die ja aus Steuermitteln finanziert werden müssen, einen Wert an sich sieht, weil die bislang im Bereich de Aufstocker ablaufende „Sozialisierung eigentlich betrieblich zu tragender Kosten“ als problematisch angesehen wird, dann sind die Zahlen des IAB durchaus keine Misserfolgsmeldung. Ganz im Gegenteil. Zugleich wäre das eine Maßnahme, ein Stück weit die gegebene Wettbewerbsverzerrung zugunsten der Unternehmen zu verringern, die ihre Leute ordentlich bezahlen, abzubauen.

An dieser Stelle kann man nur noch den Einwand vortragen, dass die auch vom IAB ausgewiesenen Entlastungseffekte dann nicht realisiert werden (können), wenn ein Teil der Beschäftigung aufgrund der Mindestlohneinführung und der damit verbundenen Erhöhung der Lohnkosten entlassen wird. Hierzu schreibt Sven Astheimer in seinem Artikel zutreffend:
»Einige Wissenschaftler haben Beschäftigungsrückgänge im sechsstelligen Bereich berechnet, andere erwarten kaum Änderungen.«