Der Mindestlohn mal wieder. Er wirkt vor sich hin und Andrea Nahles korrigiert ein paar Stellschrauben im Getriebe

»Wirtschaft und Arbeitsmarkt sind kräftig und schultern den Mindestlohn ohne Mühe. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist weiter gut. Die Zahlen aus Nürnberg zeichnen ein stabiles und robustes Bild: Die Arbeitslosigkeit liegt deutlich unter dem Vorjahreswert. Auch die Zahl der Aufstocker lag im Februar deutlich unter der des Vorjahresmonats. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist nach vorläufigen Angaben im April im Vergleich zum Vorjahresmonat um über eine halbe Million angestiegen.« Von wem das wohl kommt? Richtig, ein O-Ton von der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) anlässlich der Kommentierung der Arbeitsmarktzahlen für Juni 2015. Und dabei ging es nicht nur um das erneute Rekordtief bei den offiziellen Arbeitslosenzahlen, sondern der 30. Juni markiert auch die ersten sechs Monate des gesetzlichen Mindestlohns für alle mit Ausnahmen. Ein schönes Datum, um eine erste Bilanzierung vorzulegen, was denn auch vom Bundesmindestlohnministerium gemacht wurde: Bestandsaufnahme Einführung des allgemeinen Mindestlohnes in Deutschland Juni 2015. So technokratisch-lieblos haben die Beamten der Frau Ministerin ihre Wahrnehmung überschrieben. Sie kommen nicht wirklich überraschend zu einer rundum positiven Bewertung. Also könnte man meinen, gut ist, nächstes Thema. Dann aber überraschte die Ministerin mit der Ankündigung, einige Korrekturen am Regelwerk vorzunehmen – sogleich wurde gemeldet: Nahles entschärft Mindestlohn-Regeln oder Nahles lockert Mindestlohn – ein bisschen. Offensichtlich meint die Ministerin, irgendwie reagieren zu müssen auf die permanenten Nörgeleien seitens der Union und von Wirtschaftsfunktionären an dem „Bürokratiemonster“ Mindestlohn. Dabei gibt es nachvollziehbare Korrekturen, aber auch wieder neue Regelungen, die doch entlasten sollen, aber im Ergebnis wieder mal zur Komplexitätssteigerung beitragen werden.

Das zentrale Entgegenkommen der Ministerin: Sie hat angekündigt, die Dokumentationspflicht bei der Arbeitszeit verringern zu wollen. Aufzeichnungspflichten bei der Beschäftigung von Ehepartnern, Kindern und Eltern des Arbeitgebers sollen entfallen.

Bei der Auftraggeberhaftung sicherte Nahles eine gemeinsame Klarstellung von Arbeits- und Finanzministerium bei der Zollverwaltung zu. Damit werde in den meisten Fällen einer Beauftragung eines anderen Unternehmens klargestellt, dass im Hinblick auf den Mindestlohn keine Haftung seitens des Auftraggebers bestehe.

So weit, so nachvollziehbar. Jetzt wird es aber ein wenig komplizierter, denn die Ministerin hat eine weitere „Entlastung“ im Koffer:

»Derzeit müssen Arbeitgeber in neun für Schwarzarbeit besonders anfälligen Branchen bis zu einer Gehaltsgrenze von 2.958 Euro brutto genau dokumentieren, wie viele Stunden ihre Angestellten für diese Summe gearbeitet haben. Betroffen davon sind zum Beispiel Baugewerbe, Gaststätten oder Schausteller«, kann man der Meldung Nahles entschärft Mindestlohn-Regeln entnehmen. Der eine oder andere wird sich fragen, wie man denn auf diese krumme Summe von 2.958 Euro brutto pro Monat kommt. Um mit dem Mindestlohn 2.958 Euro zu verdienen, müsse man im Monat an 29 Tagen zwölf Stunden lang arbeiten – das sei gar nicht möglich, so die Kritiker dieser Lohngrenze. Die Gegenargumentation der Bundesmindestlohnministerin geht dann so: Bei Saisonarbeitern oder Beschäftigten mit stark schwankenden Arbeitszeiten seien solche Arbeitsbelastungen durchaus vorstellbar. Nun ist sie an dieser Stelle bereit, eine Absenkung des Schwellenwerts zu akzeptieren, aber die neue Regelung erhöht den Komplexitätsgrad ein ordentliches Stück:

  • Künftig soll diese Grenze bei 2.000 Euro liegen, allerdings nur, wenn das Arbeitsverhältnis schon länger besteht und der Lohn in den vergangenen zwölf Monaten regelmäßig bezahlt wurde.
  • Zugleich bleibt die Lohngrenze von 2.958 Euro weiter erhalten, denn die Absenkung auf 2.000 Euro gilt ja nur dann, wenn die genannte Bedingung erfüllt ist. Für Saisonbeschäftigte und Minijobber im gewerblichen Bereich bleibe die Aufzeichnungspflicht jedoch bis zur Einkommensschwelle von 2.958 Euro unverändert bestehen.

Da fragt sich auch der dem Mindestlohn sehr zugeneigte Leser vielleicht: Warum jetzt 2.000 Euro? Ist das empirisch ermittelt worden oder hat man gewürfelt? Oder hat man die Zahl genommen, weil sie so schön rund ist? Und wenn man das irgendwie erklärt bekommt, bleibt eine weitere Frage mit Ratlosigkeitspotenzial, denn die Absenkung gilt ja nur, »wenn das Arbeitsverhältnis schon länger besteht und der Lohn in den vergangenen zwölf Monaten regelmäßig bezahlt wurde.« Ja wie? Was genau ist denn „schon länger besteht“? Geht’s noch präziser? Oder ist das dann aus dem zweiten Teil abzuleiten, wo von den vergangenen zwölf Monaten die Rede ist. Also zwölf Monate. Warum nicht 11 oder 10 oder 9? Hat man da gewürfelt?

Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Karl Schiewerling (CDU), wird mit der kritischen Anmerkung zitiert, durch die Einführung einer weiteren Gehaltsschwelle werde das Gesetz für Arbeitgeber und Kontrollbehörden noch komplizierter. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Insgesamt erscheint das nicht wirklich durchdacht, offensichtlich will Andrea Nahles den Mindestlohnkritikern in der Union und in den Wirtschaftsverbänden irgendwie entgegenkommen. Die legen aber gleich nach und stellen weitere „Entlastungsforderungen“.

Und natürlich – das eigentliche Problem für viele Unternehmen, beispielsweise aus dem Gaststättenbereich – wird erneut nicht angesprochen. Denn das eigentliche Problem sind weniger die 8,50 Euro, sondern dass durch die Mindestlohnkontrollen zwar kein Verstoß gegen das Mindestlohngesetz festgestellt wird, sehr wohl aber ein anderer Rechtsverstoß: Die Umgehung bzw. Nicht-Beachtung des Arbeitszeitgesetzes mit den dort normierten Regelungen Höchstarbeitszeiten betreffend.

Wem das alles zu trocken ist, dem sei hier die folgende Reportage zum Anschauen empfohlen:

Das Mindestlohn-Experiment: Eine erste Bilanz (29.06.2015, 22.00 – 22.45 Uhr, WDR-Fernsehen)
Der Mindestlohn gilt – flächendeckend, unbegrenzt. Das jedenfalls behauptet die Politik. Wir ziehen eine erste Bilanz des größten sozialpolitischen Experiments seit den Hartz-Reformen.
Unsere ReporterInnen besuchen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, aber auch Gewerkschaften und Behörden. Und: Wir begleiten einen Arbeitssuchenden auf seiner Bewerbungstour durch Nordrhein-Westfalen. Der gelernte Koch nimmt jeden Job an, den er kriegen kann. Egal, ob als Kurierfahrer, Reinigungskraft oder Tankstellen-Aushilfe. Wer zahlt den Mindestlohn? Wer zahlt ihn nicht? Denn genau darum geht es.

Wie der Mindestlohn mit der altehrwürdigen Gesellschaft bürgerlichen Rechts unterlaufen wird. Und warum es trotz Mindestlohn immer mehr deutschen Spargel gibt

Es ist schon deutlich ruhiger geworden um das Thema Mindestlohn, vor allem hinsichtlich der anfangs gerne von den Medien aufgegriffenen apokalyptischen Ausblicke in eine Welt der Beschäftigungsverluste. Aber man sollte sich dieser die Medienlandschaft leider weitgehend dominierenden Themenhopperei nicht anschließen, sondern konnsequent weiter beobachten, was auf dem Arbeitsmarkt passiert oder eben nicht passiert.

Wie Arbeitgeber den Mindestlohn umgehen – eine solche Fragestellung war einige Wochen nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes zum 1. Januar 2015 überaus beliebt und von großem Interesse für die Medien. Dabei konnte und musste man darauf hinweisen, dass wir schon seit vielen Jahren zahlreichen Versuche und reale Ausformungen der Umgehung kennen, denn in bestimmten Branchen gibt es schon seit längerem so genannte Branchen-Mindestlöhne. Der Bau wäre so ein Bereich, aber auch die Gebäudereinigung oder die Altenpflege. Und im Bau ist der Mindestlohn nicht nur deutlich höher als der neue gesetzliche Mindestlohn, sondern hier sind wir seit eh und je konfrontiert mit einer teilweise ganz erheblichen kriminellen Energie, was das Unterlaufen solcher Standards angeht, nur um noch billiger anbieten zu können bzw. noch höhere Renditen abzuschöpfen.

Mit Tricks versuchen Arbeitgeber, Mindestlohn und Sozialabgaben zu umgehen. Ein beliebtes Mittel ist die Gründung von Gesellschaften bürgerlichen Rechts. Ihre Zahl soll seit Einführung des Mindestlohns verstärkt gestiegen sein, so Thomas Öchsner in seinem Artikel Wie der Mindestlohn unterlaufen wird. »Sie arbeiten auf Baustellen, als Ausbeiner in Schlachthöfen oder als Lkw-Fahrer. So, wie sie dabei ihr Geld verdienen, sind sie eigentlich Arbeitnehmer. Auf dem Papier sind sie aber als Selbständige etikettiert.« Es geht also um Scheinselbständige. Für den Auftraggeber, der in Wirklichkeit Arbeitgeber ist, handelt es sich um eine überaus angenehme Konstellation: Er muss keine Sozialabgaben abführen, er muss keinen Kündigungsschutz beachten. Und er muss sich auch keinen Kopf machen über die Einhaltung gesetzlicher oder branchenspezifischer Mindestlohnregelungen, denn die gelten für Selbständige ja nicht.
Und die Zahl an Scheinselbständigen, die sich in sogenannten Gesellschaften bürgerlichen Rechts (GbR) verbergen, scheint offensichtlich immer beliebter zu werden, auch und gerade vor dem Hintergrund einer angestrebten Vermeidung der Einhaltung von Mindestlohnbestimmungen. Das ist schon bemerkenswert, handelt es sich doch bei der GbR um ein echtes Traditionsstück in der deutschen Rechts- und Unternehmenslandschaft. Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (auch als BGB-Gesellschaft bezeichnet) ist ein Zusammenschluss von mindestens zwei Gesellschaftern (natürlichen oder juristischen Personen), die sich durch einen Gesellschaftsvertrag gegenseitig verpflichten, die Erreichung eines gemeinsamen Zwecks in der durch den Vertrag bestimmten Weise zu fördern (§ 705 BGB). Eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts ist die ursprüngliche und einfachste Form und damit die Mutter oder der Vater der Personengesellschaft.

Das kennen wir gerade aus dem Baubereich (aber auch beispielsweise aus den Untiefen der deutschen Fleischwirtschaft) schon seit vielen Jahren: Normalerweise treten vermeintliche Selbständige, die häufig aus den neuen EU-Mitgliedstaaten in Osteuropa kommen, als Einzelunternehmer auf. Dazu melden sie sich in Deutschland als Gewerbetreibende an. Nun wird dem einen oder der anderen an dieser Stelle sofort die Frage kommen, wie die denn das schaffen, so ganz ohne Sprachkenntnisse und ohne den rechtlichen Hintergrund, oftmals auch ohne einen festen Wohnsitz hier in Deutschland. Öchsner dazu in seinem Artikel: „Nicht selten werden sie bei der Anmeldung zu Gewerbetreibenden von deutschen Auftraggebern unterstützt, die von den günstigen Arbeitsleistungen profitieren möchten“, heißt es bei der Deutschen Zoll- und Finanzgewerkschaft. Es überrascht an dieser Stelle nicht wirklich, dass sich organisierte Strukturen mit Vermittlern und/oder Rechtsanwälten und Steuerbüros herausgebildet haben, die die Formalitäten der Firmengründung übernehmen als auch die Verbindungen zu deutschen Auftraggebern herstellen.

In dieser eigenen Welt, die auf Betrug angelegt ist, nutzt man de GbR als Hülle, wenn mehrere dieser „Einzelunternehmer“ sich zusammenschließen wollen bzw. müssen, um darüber ihre Scheinselbständigkeit zu verschleiern. Was dabei rauskommt? »Dann sind alle Mitarbeiter Gesellschafter, keiner Arbeitnehmer, und einer ist in Wahrheit der Chef.«
Es sind in der Regel ausländische Arbeitnehmer, oft aus Bulgarien oder Rumänien, die unter diese Hülle getrieben werden.

Aus den Reihen des Zolls werden Stimmen laut, die einen Anstieg der GbR-Gründungen seit Einführung des Mindestlohnes meinen erkennen zu können, einen statistischen Nachweis gibt es hier nicht und der wäre nicht nur allgemein nötig, sondern auch branchenspezifisch, denn im Baubereich gab es ja schon lange vor dem 1. Januar dieses Jahres einen, zudem höheren branchenspezifischen Mindestlohn. Öchsner dazu: »Angaben des Statistischen Bundesamtes zeigen nur, dass die Zahl solcher Gesellschaften seit der EU-Osterweiterung 2004 schrittweise auf mehr als 200.000 zugenommen hat.« Aber darunter können und werden auch viele ganz normale GbRs sein.
„Das Problem für die Ermittler dabei ist, herauszufinden, ob hinter einer solchen Gesellschaft kriminelle Machenschaften stecken“, so Martin Schinke, Vorsitzender bei der Bezirksgruppe Zoll der Gewerkschaft der Polizei (GdP), der von Öchsner zitiert wird. „Da reicht die Kontrolle der Ausweise auf der Baustelle eben nicht. Da sind Ermittlungen der Hintergründe notwendig, und dafür fehlt leider oft die nötige Zeit.“
Die bösen Kontrollen, gegen die die Mindestlohn-Gegner in den vergangenen Wochen Amok gelaufen sind, nachdem sich bislang ihre Horrorprognosen über Massen an Arbeitslosen durch die gesetzliche Lohnuntergrenze nicht bewahrheitet haben.
Zu den apokalyptischen Reitern in der Mindestlohndebatte gehören auch die Funktionäre aus dem Bereich der Landwirtschaft, die ein großes Wehgeklage angestimmt haben, nach dem der deutsche Spargel nun wirklich keine Zukunft mehr haben wird, denn das mit dem Mindestlohn werde den deutschen Spargelbauern den Todesstoß versetzen, auch wenn es sogar einen abgesenkten Mindestlohn gibt für die Saisonarbeiter und auch Kost und Logis angerechnet werden kann.
Vor diesem Hintergrund muss man hellhörig werden, wenn man in der Print-Ausgabe der FAZ vom 24.06.2015 dem Artikel „Der Spargel wird immer deutscher“ die Information entnehmen kann: 80 Prozent der verkauften Stangen kommen heute aus heimischer Produktion. Seit dem Jahr 2000 hat sich die heimische Fläche für Spargel knapp verdoppelt, die Menge legte sogar noch etwas stärker zu, berichtet das Statistische Bundesamt. Man sei mit dem Absatz zufrieden. Aber natürlich darf der Mindestlohn trotzdem nicht fehlen, auch wenn man ihn nicht unmittelbar für irgendwelchen negativen Entwicklungen haftbar machen kann. Und die Äußerungen aus der Verbandslandschaft sind bezeichnend:

»Neue Vorzeichen und einen möglichen Preistreiber für das Gemüse gibt es mit dem Mindestlohn. Dabei sind den Spargelbauern vor allem bürokratische Vorgaben und Dokumentationspflichten ein Ärgernis. „Das ist in der Hektik der Ernte ein Problem“, sagt der im Bauernverband für Sozialpolitik zuständige Geschäftsführer Burkhard Möller. Zudem wollten viele Saisonkräfte mehr arbeiten, dürfen es wegen der Grenzen und strikter Aufzeichnungspflichten aber nicht. „Das stößt bei den Arbeitnehmern auf viel Kritik und Unverständnis“, sagt Möller.
Ein anderes Problem sei die Pflicht, den Lohn spätestens Ende des nächsten Monats auszuzahlen. Denn viele ausländische Helfer wollten am liebsten am Einsatzende Bargeld, da sie hier kein Konto haben.«

Auch an dieser Stelle muss erneut der Hinweis darauf gegeben werden, dass man sich hier nicht wirklich über die Höhe des Mindestlohnes aufregt und auch nicht über das Mindestlohngesetz an sich, sondern weil mit der Dokumentationspflicht die Arbeitszeiten betreffend ein Fundamentalproblem mit dem Arbeitszeitgesetz offenbar wird, ein Problem, das wir beispielsweise auch im Bereich Hotel und Gaststätten beobachten müssen. 
Bleibt die frohe Botschaft: Auf im kommenden Jahr wird es ganz viel deutschen Spargel geben, wenn man denn das Zeug mag.

Löhne in den Schlachthäusern treffen sich mit Gagen in den Musentempeln der Hochkultur. Also weit unten. Zu den Folgen einer mindestens halbierten „Ökonomisierung“

„Ökonomisierung“ ist bekanntlich zu einem bei vielen Menschen negativ besetzten Begriff geworden. Dabei ist der wie so viele andere Begriffe auch erst einmal mindestens ambivalent, nicht nur einseitig schlecht. Wenn damit ausgedrückt wird, dass angesichts knapper Ressourcen etwas besser, schneller und günstiger gemacht wird als bislang, dann ist das durchaus positiv und Verbesserung. Und uns fallen sicher viele Beispiele ein, wo der Schlendrian haust und gerne Mittel, die andere aufbringen müssen, also Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, verpulvert werden.

In vielen sozialpolitischen Bereichen hingegen ist der Terminus „Ökonomisierung“ zu einem Schreckensbegriff mutiert, wird er doch verbunden mit Arbeitsverdichtung, Controlling-Wahn und immer wieder auch Lohndumping. Ein genauerer Blick auf die Sachverhalte würde aufzeigen können, dass es dabei in aller Regel gar nicht um Ökonomisierung im eher technisch-prozeduralen Sinne einer Effizienzsteigerung geht, sondern schlicht um die Tatsache, dass budgetierte Systeme mit einem sehr hohen Personalkostenanteil und einer inneren Rationalisierungsbremse – man denke hier an die Pflege oder die Bildungs- und Betreuungsleistungen in Kitas und Tagespflege oder die Familienberatung, um nur einige wenige Beispiele zu nennen – konfrontiert sind mit zumeist planwirtschaftlich daherkommenden Steuerungsversuchen, die dann oftmals im Ergebnis nicht nur zu weniger „Qualität“ führen, sondern zuweilen den ganzen Gegenstand zerstören.

Wie in einem Lehrbuch kann man das, was damit gemeint ist, studieren an einem Bereich, an den die wenigsten Menschen denken, wenn sie über Lohndumping nachdenken (müssen): Die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft mit ihren mehr als 150 öffentlich-rechtlichen Häusern.

»Mit immer weniger Personal wird, bei immer weiter sinkenden Honoraren für die Künstlerinnen und Künstler, immer mehr produziert. Konkret wurden über 6000 Stellen abgebaut. Der Reallohn eines Schauspielensemblemitglieds hat sich nahezu halbiert. Gleichzeitig hat sich die Zahl der freien Verträge verdreifacht. Die Spirale des Gagen-Dumpings dreht sich immer weiter.«

So kompakt hämmert Daniel Ris den Befund in die Tasten. Er hat den Beitrag In der Spirale des Gagen-Dumpings veröffentlicht, dem diese Zeilen entnommen sind. Daniel Ris ist Schauspieler, Regisseur und Autor. Er hält einen „Executive Master in Arts Administration“ der Universität Zürich und hat vor kurzem die Arbeit „Unternehmensethik für den Kulturbetrieb“ veröffentlicht.

Lesen wir weiter in den Ausführungen von Daniel Ris:

»Der Mindestlohn den der Deutsche Bühnenverein mit der Gewerkschaft der Deutschen Bühnenangehörigen ausgehandelt hat, beträgt 1650 Euro brutto. An vielen Häusern ist dieser Mindestlohn mittlerweile der Einheitslohn für alle außerhalb der Kollektive von Chören und Orchestern künstlerisch Tätigen geworden.«

Er weist darauf hin, dass auch auf der kulturpolitischen Seite die Ökonomisierung angekommen ist, allerdings in einer sehr reduzierten Art und Weise, die wir auch in vielen sozialpolitischen Handlungsfeldern tagtäglich erleben müssen:

Die »Kulturpolitik beschäftigt sich in ihren Zielvereinbarungen vielerorts ausschließlich mit ökonomischen Parametern; mit Besucherzahlen, der Anzahl der zu produzierenden Premieren und der Aufforderung zur Steigerung des Eigenfinanzierungsanteils der Theater. Das ist nichts anderes als eine Kommerzialisierungsforderung. Und vielen Häusern bleibt ohnehin gar nichts anderes übrig. Denn bei eingefrorenen Etats und gleichzeitig steigenden Tariflöhnen der im öffentlichen Dienst befindlichen nichtkünstlerischen Mitarbeitenden entsteht ein sogenanntes “strukturelles Defizit“.«

Die Folgen sind fatal wie unausweichlich in der Systemlogik begründet:

»Die Theater müssen also einerseits an der Kunst sparen, denn nur dort geht es ja, und andererseits die Einnahmen erhöhen. Oder man baut, wie derzeit in Rostock, gleich ganze Sparten ab.«

Aber Daniel Ris geht in seiner Argumentation einen Schritt weiter und seziert die Theater- und Orchesterlandschaft: Er diagnostiziert eine tiefe Verwurzelung des Prinzips “Vorne hui – hinten pfui“, das man ja auch aus anderen Handlungsfeldern und Institutionen zur Genüge kennt.

»Die auf der Bühne oft nachdrücklich eingeforderten Grundwerte von Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit werden im streng hierarchischen Theaterbetrieb kaum in ausreichendem Maß gelebt. Konkret gilt beispielsweise seit 2006 das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Aber an vielen Theatern verdienen gleich qualifizierte Mitarbeiterinnen, auf und hinter der Bühne, immer noch deutlich weniger als ihre männlichen Kollegen.«

Die Theater und Orchester stecken im »Hamsterrad der zunehmenden Ergebnisorientierung ihrer Arbeit«. In der Angst davor sich angreifbar zu machen, und am Ende dann vielleicht doch ganz weggespart zu werden, kämpfen die Theater um den Erhalt des Systems – ein System, das sie aus einer ganz zwangsläufigen Logik heraus immer stärker in eine strukturelle Schieflage bringen muss und eine seit Jahren beobachtbare Auszehrung der Substanz zur Folge hat. Dem etwas entgegenzusetzen – Daniel Ris spricht hier von „Kulturpolitik muss wieder als Gesellschaftspolitik verstanden werden“ – kann nur dann funktionieren, wenn sich Politik, in diesem Fall Kulturpolitik aus den systematischen Fängen einer Reduktion von Ökonomisierung auf Kennzahlenklamauk und aus der Umarmung durch die Kommerzialisierung befreien würde – mit einer politischen Entscheidung für oder gegen etwas. Die Chancen dafür sind überschaubar, um optimistisch zu enden.