Wenn irgendjemand überlegt und auf der Suche ist, etwas gegen Langzeitarbeitslosigkeit zu tun, dann ist das sinnvoll, diskussionswürdig und gehört unbedingt auf die Tagesordnung

Das ist wieder mal ein Beispiel für eine selten dämliche Überschrift, die man in der Zeitung, hinter der angeblich lauter kluge Köpfe stecken, lesen musste: Union schmiert Zuckerbrot für Arbeitslose, so ist ein Artikel in der FAZ überschrieben. Dabei geht es in Wirklichkeit um eine ernste und wichtige Angelegenheit, für hunderttausende Menschen, die teilweise seit vielen Jahren in der Langzeitarbeitslosigkeit einzementiert und damit oftmals gesellschaftlich exkludiert sind. Für viele wird es unter den herrschenden Rahmenbedingungen eines fatalen Zusammenspiels einer restriktiv ausgestalteten Arbeitsmarktpolitik vor allem im Förderrecht, einer seit 2011 auf dem Sinkflug befindlichen Ausstattung des Eingliederungstitels (also der für Förderaktivitäten zur Verfügung stehenden Geldmittel) und dies gerade im Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung, einer teilweisen Ausrichtung des Vermittlungs- und Eingliederungshandelns auf „quick and dirty“-Aktivitäten, zugleich aber auch flächendeckend wegrationalisierten Einfacharbeitsplätzen und natürlich bei nicht wenigen von Langzeitarbeitslosigkeit betroffenen Menschen auch individuelle Hemmnisse, die zu einem dauerhaften Ausschluss vom Arbeitsmarkt beitragen, so gut wie keine realistischen Perspektiven auf eine mittel- oder langfristige Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt geben.

Während wir auf der einen Seite gerade erst in diesen Tagen wieder über eine erneut gesunkene Arbeitslosigkeit – zumindest gemessen an der registrierten Arbeitslosigkeit – seitens der Bundesagentur für Arbeit (BA) informiert wurden, muss man gleichzeitig feststellen, dass sich der so genannte „harte“ Kern der Langzeitarbeitslosen wie in den vergangenen Jahren kaum bis gar nicht bewegt. Diese Menschen profitieren in kleinster Art und Weise von der bislang positiven Arbeitsmarktentwicklung. Und es ist wie ein fataler Teufelskreislauf. Je länger die Menschen in der Langzeitarbeitslosigkeit verbringen, desto unwahrscheinlicher wird es, sie in irgendeine Beschäftigung integrieren zu können. Wir sind an dieser Stelle mit unglaublichen individuellen, aber eben auch gesellschaftlichen Kosten der Langzeitarbeitslosigkeit konfrontiert. Vor diesem Hintergrund sind alle Aktivitäten, die in irgendeiner Form geeignet sein könnten, dass „Vergessen“ der Langzeitarbeitslosen aufzubrechen, begrüßenswert und diskussionswürdig.

Über einen solchen Versuch berichtet der bereits erwähnte FAZ-Artikel, man kann das, worum es hier geht, auch wesentlich neutraler unzutreffende ausdrücken, wie beispielsweise die Sächsische Zeitung, die ihren Beitrag überschrieben hat mit Koalition will mehr gegen Langzeitarbeitslosigkeit tun, wobei noch zu prüfen und zu beobachten sein wird, ob es wirklich die Koalition ist, die mehr gegen Langzeitarbeitslosigkeit tun möchte.

Also werfen wir einen Blick auf die Vorschläge, über die aktuell berichtet wird.
Es geht um Passagen eines Positionspapiers zu einer Weiterentwicklung des Hartz-IV-Systems, über das Vertreter des Sozial- und Wirtschaftsflügels der Union derzeit beraten. Das Papier ist – hier zumindest sehr ambitioniert – mit dem Titel „Arbeitsmarktpolitik 2020 – Schritt in die Zukunft“ versehen worden. Dem Artikel von Dietrich Creutzburg können wir entnehmen:

„Das Erreichen von Zielen oder Teilzielen, die (…) in Richtung Eingliederung in Arbeit führen, sollte durch konsequente Anreize gefördert werden“, heißt es darin. Solche Ziele könnten etwa erfolgreich absolvierte Fortbildungen oder Coachingeinheiten sein. In einem ersten Schritt solle in Modellprojekten praxisnah erprobt werden, inwieweit auch solche positiven Anreize „die Chancen auf einen Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt erhöhen“, heißt es in dem Papier.

Das klingt jetzt nicht wirklich toll und sollte eigentlich – könnte man meinen –  eine Selbstverständlichkeit sein. Der Hinweis auf geplante Modellversuche lässt bei den Insidern nur den langjährig ausgebildeten Frustrationspegel steigen. Modellversuche an sich sind zu einem Ärgernis geworden, bei dem viel Lebenszeit verbraten wird, oftmals nur, um eine Angelegenheit in der „Wir tun doch was, aber es soll nicht wirklich was kosten“-Schleife zu parken. Dass so etwas als „Reformvorschlag“ präsentiert wird, zeigt lediglich, wie tief das ganze Handlungsfeld bereits abgerutscht ist.

Wesentlich interessanter und besonders hervorzuheben ist der folgende Hinweis auf einen Reformvorschlag in dem Positionspapier der Unions-Abgeordneten:

»Ein anderer zielt darauf, die sogenannten Arbeitsgelegenheiten („Ein-Euro-Jobs“) in der bisherigen Form abzuschaffen und durch einen neuen Förderansatz im Form sogenannter Integrationsbetriebe abzulösen.«

Hier nähern wir uns einem Kernproblem im arbeitsmarktpolitischen Teilbereich der gesamten öffentlich geförderten Beschäftigung, das zumindestens in Fachkreisen seit Jahren intensiv diskutiert und hin und her gewendet wird. Vereinfacht gesagt: Die öffentlich geförderte Beschäftigung befindet sich seit den 1990er Jahren auf eine Rutschbahn nach unten. So gut wie alle höherwertigen Formen der öffentlich geförderten Beschäftigung, also beispielsweise die klassischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung wurden sukzessive beseitigt und im wesentlichen stehen heute gerade im Bereich des SGB II nur noch die Arbeitsgelegenheit nach Mehraufwandsentschädigungsvariante zur Verfügung.  Seit Jahren wird nun immer wieder und mit guten Argumenten eine Reform dieser desaströsen Entwicklung gefordert. Vor der letzten Bundestagswahl gab es eine breite Unterstützung für solche Reformschritte, die unter dem – allerdings hinsichtlich des eigentlichen Konzepts völlig ungeeigneten, weil den normalen Bürger auf Arbeitsplätze in sozialen Einrichtungen oder Schonarbeitsplätze lenkenden – Begriff eines „sozialen Arbeitsmarktes“ diskutiert wurden.

Im Grunde geht es hierbei um das Modell einer Lohnkostensubventionierung von besonders beeinträchtigten Arbeitslosen, die ansonsten keine oder nur eine erheblich geminderte Chance auf eine Beschäftigung hätten (vgl. hierzu grundlegend Sell, S.: Die öffentlich geförderte Beschäftigung vom Kopf auf die Füße stellen. Ein Vorschlag für die pragmatische Neuordnung eines wichtigen Teilbereichs der Arbeitsmarktpolitik. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 10-2010. Remagen, 2010) mit dem Ziel, dieser Förderung im bzw. am „ersten“, also dem normalen Arbeitsmarkt zu platzieren. Genau dieser Weg ist derzeit in der öffentlich geförderten Beschäftigung im SGB II-Bereich förderrechtlich  gerade bei dem verbliebenen Hauptinstrument, also den Arbeitsgelegenheiten (umgangssprachlich „Ein-Euro-Job“ genannt), gar nicht möglich, denn für diese Maßnahmeform hat der Gesetzgeber nicht nur ein öffentliches Interesse sowie die zusätzlich keine, sondern seit der letzten gesetzlichen Änderung sogar die Wettbewerbsneutralität fixiert, was in der Praxis dazu führen muss, dass die Tätigkeitsfelder, in den sich die Arbeitsgelegenheiten bewegen dürfen, möglichst weit weg sein müssen von dem, was auf dem „normalen“ Arbeitsmarkt abläuft.

Vor diesem hier nur grob skizzierten Grunddilemma der öffentlich geförderten Beschäftigung ist der Hinweis auf einen „neuen Fördersatz in Form so genannter Integrationsbetriebe“, der sich in dem neuen Positionspapier wieder findet, von so großer Bedeutung. Korrekterweise muss man an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die Unions-Abgeordneten  hier keineswegs etwas Neues erfunden haben, sondern die von ihnen nunmehr allerdings auch für bestimmte Langzeitarbeitslose im SGB II geforderten Integrationsbetriebe gibt es schon seit langem im SGB IX (§§ 132 ff.), also für die Beschäftigung von schwer behinderten Menschen in Integrationsunternehmen. Das Besondere an diesen Integrationsunternehmen ist, dass bei ihnen keine Zusätzlichkeit oder Wettbewerbsneutralität gefordert wird, ganz im Gegenteil: Diese Unternehmen operieren auf dem Markt, sie produzieren und erledigen für andere Unternehmen der Wirtschaft Aufträge. Sie müssen sogar einen ganz erheblichen Teil ihrer Kosten auf dem „ersten“ Arbeitsmarkt erwirtschaften. Die öffentlichen Mittel, die sie bekommen, speisen sich im wesentlichen aus der so genannten „Ausgleichsabgabe“, die Betriebe bezahlen müssen, die die gesetzlich vorgeschriebene Schwerbehindertenbeschäftigungsquote nicht einhalten. Hinzu kommen bestimmte Steuervergünstigungen, die sie dann erhalten können, wenn sie sich in einer gemeinnützigen Rechtsform bewegen, was bei etwa 80 % der bundesweit über 700 Integrationsunternehmen, in denen mehr als 21.000 Beschäftigte tätig sind, der Fall ist. Etwas mehr als 10.000 dieser Beschäftigten gehören zu der Personengruppe der schwer behinderten Menschen.

Die Differenz zwischen den beiden Zahlen verweist zugleich darauf, dass in diesen Integrationsunternehmen eben nicht nur schwerbehinderte Menschen arbeiten, sondern mindestens 50 % der Belegschaft „normale“ Arbeitnehmer sind und sogar sein müssen, damit eine betriebswirtschaftlich darstellbare Arbeit dieser Unternehmen überhaupt möglich wird, denn wie gesagt, die müssen einen großen Teil der Kosten am und auf dem Markt durch Erlöse erwirtschaften.
Ganz offensichtlich schwebt den Abgeordneten vor, das Modell der Integrationsunternehmen, das bislang hinsichtlich der  öffentlichen Förderung beschränkt war  auf schwerbehinderte Menschen, nun auch aufzubohren für langzeitarbeitslose Menschen aus dem SGB II. Grundsätzlich ist dies ein interessanter und vor dem Hintergrund der zahlreichen Widersprüche und Unsinnigkeit, die wir im derzeit bestehenden System der öffentlich geförderten Beschäftigung im Grundsicherungssystem haben, auch sinnvoller Ansatz. Allerdings muss man natürlich die völlig anderen Relation im Auge behalten, die sich bei einer Ausweitung auf das Harz IV-System ergeben würden.

Im jetzigen System der Integrationsunternehmen, also bei Beschränkung auf schwerbehinderte Menschen, geht es um insgesamt etwas mehr als 20.000 Beschäftigte, die in solchen Betrieben arbeiten. Würde man hingegen bei einer Übertragung auf das Grundsicherungssystem nur den wirklich „harten“ Kern der langzeitarbeitslosen Menschen nehmen, der in einer im vergangenen Jahr vorgelegten Studie des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik (IBUS) abgeschätzt wurde ausgehend von einer Begrenzung auf Menschen im SGB II-System, die seit mehr als drei Jahren keine Beschäftigung mehr nachgegangen sind und die mehr als vier so genannte Vermittlungshemmnisse  in der Abgrenzung der BA aufweisen, dann stehen wir einer Gruppe gegenüber, deren Größenordnung mit (mindestens) 435.000 Menschen berechnet wurde, in deren Haushalten übrigens mehr als 300.000 Kinder leben. Am 6.11. werden übrigens die aktualisierten Werte diesen „harten“ Kern betreffend der Öffentlichkeit vorgestellt. Auch wenn wir einmal annehmen, dass angesichts des unbedingt erforderlichen freiwilligen Angebots an öffentlich geförderte Beschäftigung für diese Menschen nur die Hälfte der potentiellen infrage kommenden Teilnehmer eine solche Beschäftigung wünschen würden, dann reden wir hier von einer Größenordnung von 200.000 aufwärts. Das wäre natürlich ganz andere Quantitäten, als das, was wir derzeit im System der Integrationsunternehmen mit ihrer Fokussierung auf schwer behinderte Menschen vorfinden.

Trotzdem geht dieser Vorschlag in eine Richtung, die von vielen Fachleuten mit Sicherheit begrüßt und unterstützt wird. Darüber hinaus ist zu hoffen, dass die nunmehr an Fahrt gewinnende Diskussion über eine Änderung des SGB II im Bereich des Förderrechts diesen Ansatz produktiv aufgreift und letztendlich das ermöglicht, was wir für die Praxis dringend benötigen: Die rechtliche Ermöglichung des gesamten Spektrums an sinnvollen Fördermaßnahmen in Abhängigkeit von der konkreten Lebenssituation der einzelnen Betroffenen. Um das in aller Deutlichkeit zu sagen: Das bedeutet eben nicht die Abschaffung der Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung, also der „Ein-Euro-Jobs“, denn die kann man sehr wohl gebrauchen beispielsweise für einen arbeitstherapeutischen Zugang bei Suchtkranken Menschen, die aus der medizinischen Rehabilitation kommen und ganz schrittweise wieder Fuß fassen müssen in der Arbeitswelt. Darüber hinaus brauchen wir aber mehrere unterschiedliche Formen der Förderung, so dass man – wenn das notwendig ist – eine fördertest konstruieren kann, die eine schrittweise Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt überhaupt erst möglich macht.

Sollte die nunmehr angestoßene Debatte über eine neue, diesmal hoffentlich aber wirklich sinnvolle und nicht die Situation noch verschlechternde „Instrumentenreform“ wie 2011 dazu führen, dass man endlich zumindestens auf der Seite der rechtlichen Regulierung der Arbeitsmarktpolitik die Freiheitsgrade erreichen kann, die die Praktiker im Interesse der betroffenen Menschen dringend benötigen, dann wäre viel gewonnen.

Das Potenzial, das in dem neuen Vorstoß zu finden ist, wird offensichtlich auch von anderen gesehen. So berichtet die Sächsische Zeitung in ihrem Artikel:

Bei Sozialverbänden und in der Opposition stießen die Vorstöße auf eine positive Resonanz. „In der Unionsfraktion scheint es Bewegung in die richtige Richtung zu geben“, sagte der Sozialexperte der Grünen im Bundestag, Wolfgang Strengmann-Kuhn. „Wir müssen weniger auf Bestrafung setzen und mehr auf Belohnung.“ Hartz-IV-Bezieher dürften nicht länger wie kleine Kinder behandelt werden.
Strengmann-Kuhn forderte zudem eine Umschichtung von Arbeitslosengeld II in einen Lohnzuschlag im Rahmen eines sozialen Arbeitsmarkts. Dies könne helfen, neue Chancen für eine begrenzte Gruppe schwer auf dem Markt vermittelbarer Menschen zu schaffen. Von Nahles forderte er Klartext: „Die Ministerin muss im Ausschuss über ihre bislang wolkigen Ankündigungen hinaus einen konkreten Plan vorlegen.“

Man könnte an dieser Stelle auf den Gedanken kommen, dass das jetzt die passende Stelle wäre für den Ausruf „Nahles, übernehmen Sie!“, denn immerhin handelt es sich ja a) um eine sozialdemokratische und b) um die Arbeitsministerin, so dass man c) vermuten könnte, dass es sich um „ihr“ Thema handelt muss. Tut es aber erkennbar nicht. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erweist sich derzeit als das große schwarze Loch, in dem Reformvorschläge verschwinden und von der dort offensichtlich recht frei vor sich hin agierenden Ministerialbürokratie schlichtweg geschreddert werden. Was die Frage nach der Führung aufwerfen könnte.

Aber nicht nur der politischen Führung, sondern auch die Frage nach den Inhalten. Wenn man denn welche hat. Zugespitzt formuliert könnte die Frage nach Inhalten auch so gestellt werden: Was wollt ihr denn mit den vielen hunderttausend Menschen machen, die offensichtlich auch von einem bislang noch in guter Verfassung befindlichen Arbeitsmarkt so nicht aufgenommen werden. Wenn wir kein vernünftiges Mehrstufensystem der Förderung und ggfs. auch der längeren subventionierten Beschäftigung finden, dann sollte man wenigstens so ehrlich sein zu sagen, dass man diese Menschen auf Dauer in ihrem Leistungsbezug stilllegt, bis sie dann irgendwann in die Grundsicherung für Ältere hinüberwechseln.

Die Kinder und die Armut ihrer Eltern. Natürlich auch Hartz IV, aber nicht nur. Sowie die Frage: Was tun und bei wem?

Kinderarmut nimmt in Deutschland wieder zu. Unter dieser Überschrift berichtet Thomas Öchsner, dass die »Zahl der armen Kinder in Deutschland wächst: Mehr als 1,6 Millionen Jungen und Mädchen unter 15 Jahren leben von Hartz IV.« Das wurde sofort aufgegriffen: In einem der reichsten Länder der Welt steigt die Zahl von Kindern in Armut, berichtet Spiegel Online in einem Beitrag, der die gleiche Überschrift trägt wie der Artikel von Öchsner. Die FAZ hingegen scheint etwas verschnupft ob der neuen Zahlen: »Jahrelang lebten in Deutschland immer weniger Kinder von Hartz IV, weil ihre Eltern Arbeit fanden. Doch dieser Trend ist jetzt gestoppt« und stellt das unter die Überschrift Etwas mehr Kinder in Hartz IV, irgendwie etwas beleidigt daherkommend und zugleich mit der Aussage, bislang sei die Zahl der Kinder mit Hartz IV-Bezug gesunken, weil ihre Eltern eine Arbeit gefunden hätten, eine These aufstellend, die einfach in den Raum gestellt wird, denn es kann dafür auch noch andere Gründe geben.

Zwei Vorbemerkungen sind besonders relevant für eine Einordnung dessen, was hier diskutiert wird:

1. Zum einen wird „Kinderarmut“ fokussiert auf den Tatbestand des Hartz IV-Bezugs. Das kann man, wenn einem an einer Beschwichtigung des Themas gelegen wäre, damit relativieren, dass es sich beim Grundsicherungsbezug doch um „bekämpfte Armut“ handelt, denn angeblich werde hier das soziokulturelle Existenzminimum der Menschen gesichert. Aber eine andere Perspektive ist viel wichtiger: Die tatsächliche Dimension der Einkommensarmut, von der Kinder betroffen sind, ist weitaus größer als es die Zahl der Kinder in Hartz IV-Haushalten nahelegt, beispielsweise wenn man die Einkommensarmutsschwellen der EU zugrundelegt. An einem Beispiel kann man das aufzeigen: In Deutschland gibt es das Instrument des Kinderzuschlags, dass Eltern bekommen können, um zu vermeiden, dass sie ansonsten durch die Existenz des Kindes bzw. der Kinder zu Hartz IV-Empfänger werden würden. Man vermeidet also temporär den offiziellen Status Grundsicherungsempfänger, insofern tauchen die Kinder auch nicht in den Zahlen auf, die jetzt diskutiert werden, trotzdem sind diese Kinder knapp oberhalb der gegebenen Hartz IV-Sätze von Einkommensarmut betroffen, wenn man das nach den etablierten Standards der Armutsforschung bemessen würde.

2. Es ist keine Begriffsakrobatik, wenn man darauf insistiert, dass es „Kinderarmut“ eigentlich nicht gibt, sondern die Einkommensarmut, denen die Kinder ausgesetzt sind, ist eine „abgeleitete“ Armut der Eltern. Die Kinder sind – im positiven wie im negativen Sinne – immer eingebettet in den familialen Kontext und insofern ist es richtig und notwendig, wenn man über die gleichsam „vorgelagerte“ Einkommensarmut der Eltern spricht, wenn es um die Kinder gehen soll.

Und letztendlich geht es bei der aktuellen Debatte um die Eltern, denn die Zahlen, die von Öchsner berichtet werden, stammen aus einer neuen Analyse des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), »die der DGB-Arbeitsmarktexperte Wilhelm Adamy vorgelegt hat. Darin schlägt der DGB ein Aktionsprogramm für Eltern vor, die zusammen mit ihren Kindern schon länger von Hartz IV leben müssen.«

Laut der DGB-Studie erhalten derzeit mehr als 1,2 Millionen unter 15-Jährige seit mindestens einem Jahr Hartz IV. 642 000 dieser Kinder sind sogar seit vier Jahren oder länger auf die staatliche Hilfe angewiesen. Vor allem bei den Jüngeren sei davon auszugehen, „dass sie direkt in Hartz-IV-Verhältnisse hineingeboren wurden. Damit ist das Risiko einer dauerhaften, quasi vererbten Hilfsbedürftigkeit hoch“.

Und dann wird der DGB deutlicher, wo jetzt angesetzt werden sollte:

»Die Gefahr sei auch erheblich, dass die Eltern als Vorbilder ausfallen, schreibt DGB-Experte Adamy. Keine Arbeit zu haben, könne „eine Abwärtsspirale von sinkendem Selbstwertgefühl, Sinnkrise und mangelnder sozialer Teilhabe in Gang setzen“. Viele Eltern schaffen es dann nicht mehr, sich um die Kinder ausreichend zu kümmern.«

Aber was kann bzw. soll man tun? Hierzu findet man in dem Artikel von Öchsner Hinweise, was zumindest der DGB fordert:

»Der DGB fordert deshalb ein Sonderprogramm gegen Kinder- und Familienarmut. Es soll sich zunächst auf die 450.000 Eltern konzentrieren, die arbeitslos gemeldet sind, Kinder im Haushalt haben, Hartz IV nicht mit einem Zusatzjob aufstocken und an keiner Maßnahme eines Jobcenters teilnehmen.
Solche Eltern müssten „eine neue berufliche Perspektive erhalten, auch um ihre Vorbildrolle gegenüber ihren Kindern zu stärken“, verlangte Buntenbach. Dem DGB schwebt dabei vor, mehr geförderte Arbeitsplätze zu schaffen, „sofern eine Beschäftigung anders nicht möglich ist“. Das Programm müssten Jobcenter, Kommunen, der Bund, Wohlfahrtsverbände und Vereine gemeinsam tragen.«

Die vom DGB genannte Größenordnung von 450.000 deckt sich erstaunlich gut mit dem Ergebnis einer Quantifizierung des „harten“ Kerns an Langzeitarbeitslosen im Grundsicherungssystem, die potenziell für eine öffentlich geförderte Beschäftigung in Frage kommen und die im vergangenen Jahr vom Institut für Bildungs- und Sozialpolitik der Hochschule Koblenz (IBUS) in einer Studie veröffentlicht wurde. Bei dieser Studie ging es darum, die Größenordnung derjenigen abzuschätzen, die seit langem keiner Erwerbsarbeit mehr nachgehen konnten und die mehrere so genannte „Vermittlungshemmnisse“ aufweisen, wie sie von der BA definiert werden – ungeachtet der immer gebotenen Infragestellung und kritischen Diskussion solcher Konstruktionen ging es darum, potenzielle Kandidaten für eine öffentlich geförderte Beschäftigung zu identifizieren, bei denen man mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit vorhersagen kann, dass sie mittel- und auch langfristig so gute wie keine „normale“ Chance auf Vermittlung in irgendeine Erwerbsarbeit haben werden. Die Studie kam zu den folgenden Ergebnissen hinsichtlich der Größenordnung:

»Über 609.000 beschäftigungslose Menschen in Deutschland haben mindestens vier Vermittlungshemmnisse.
Als „arbeitsmarktfern“ stufen wir die Menschen ein, die 2011 beschäftigungslos und in den letzten 36 Monaten mehr als 90 Prozent der Zeit ohne Beschäfti- gung waren und zudem mindestens vier „Vermittlungshemmnisse“ aufweisen.
Nach unserem Messkonzept zählen 435.178 Menschen zu den arbeitsmarktfernen Personen, die für Maßnahmen der öffentlich geförderten Beschäftigung in Frage kommen – auf Grundlage der restriktiven Bestimmung der möglichen Zielgruppe, wie sie der Gesetzgeber vorgegeben hat. In den Haushalten mit diesen 435.178 Personen leben über 305.000 Kinder unter 15 Jahren, die besonders von der Situation ihrer Eltern betroffen sind und die von einer teilhabeorientierten öffentlich geförderten Beschäftigung ihrer Eltern unmittelbar und mittelbar profitieren würden, was angesichts der bekannten zerstörerischen Effekte von Langzeitarbeitslosigkeit auch und gerade auf das System Familie einen eigenen Wert darstellt, der für die Nutzung des Instruments öffentlich geförderte Beschäftigung spricht.« (Obermeier/Sell/Tiedemann 2013: 3)

Die gesamte Studie hier im Original:

Obermeier, Tim; Sell, Stefan und Tiedemann, Birte: Messkonzept zur Bestimmung der Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung. Methodisches Vorgehen und Ergebnisse der quantitativen Abschätzung (= Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 14-2013), Remagen, 2013).

Nun muss man allerdings anmerken, dass gerade die Angebote öffentlich geförderter Beschäftigung in den Jahren seit 2010 massiv zurückgefahren worden sind, schon bei einer rein quantitativen Betrachtung. Wir sprechen hier von Rückgängen von 50% und mehr in wenigen Jahren. Zugleich aber wurde auch die (mögliche) Qualität der öffentlich geförderten Beschäftigung nach unten gedrückt, da der Gesetzgeber das Förderrecht in den vergangenen Jahren systematisch derart verengt hat, dass nunmehr im Wesentlichen nur noch die Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung (umgangssprachlich als „Ein-Euro-Jobs“) bezeichnet, übrig geblieben sind und zugleich müssen die Tätigkeiten, um angebliche Konkurrenzen zum ersten Arbeitsmarkt zu verhindern, so künstlich ausgestaltet werden, dass man erhebliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit vieler dieser Tätigkeiten haben muss.

Wenn also die an sich schlüssige Forderung des DGB wirklich mit sinnvollen Leben gefüllt werden soll, dann müsste ein solches „Sonderprogramm gegen Kinder- und Familienarmut“ voraussetzen, dass a) nicht nur mehr Gelder zur Verfügung gestellt werden, b) die Teilnahme an einem solchen Programm für die Betroffenen auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basieren sollte, sondern c) vor allem bei der anstehenden SGB II-Reform dafür Sorge getragen wird, dass das völlig kontraproduktive Förderrecht hinsichtlich der öffentlich geförderten Beschäftigung derart umfassend entschlackt und neu ausgerichtet wird, dass man überhaupt sinnvolle Beschäftigungsangebote organisieren könnte. Das ist derzeit nicht gegeben.

Wenn diese Rahmenbedingungen geschaffen bzw. ermöglicht werden, dann ist das im Grunde ein Ansatz von zentraler Bedeutung, die weit über die Einkommensfrage hinausgeht. Denn tatsächlich ist es so, dass man gar nicht unterschätzen kann, was für eine gesellschaftspolitisch verheerende Wirkung lang andauernde Arbeitslosigkeit auf die betroffenen Menschen wie auch auf die Gesellschaft insgesamt hat. Und auf die Kinder sowieso.

Aber die Signale aus der Politik stimmen angesichts der Größenordnung des Problems nicht gerade vielversprechend. Für den Herbst dieses Jahres hat die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles ein neues Programm für die öffentlich geförderte Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen in Aussicht gestellt. » Das Arbeitsministerium will Langzeitarbeitslose mit einem neuen ESF-Bundesprogramm in Betrieben unterbringen, die hierfür Lohnkostenzuschüsse erhalten. Betriebsakquisiteure sollen geeignete Arbeitgeber finden und Coaches die Teilnehmer sozialpädagogisch betreuen. Die Arbeitsmarktfernsten könnten aber kaum profitieren. Das geht aus einem Entwurf der Förderbedingungen hervor«, so der Artikel Arbeitsmarktpolitik für Langzeitarbeitslose: Details zum neuen ESF-Bundesprogramm auf O-Ton Arbeitsmarkt. Die Kritik richtet sich vor allem gegen zwei Punkte: Zum einen soll das neue Programm 30.000 Teilnehmer erreichen (wenn die denn überhaupt erreicht werden) – viel zu gering dimensioniert angesichts der quantitativen Herausforderungen. Darüber hinaus sind die Förderstrukturen des geplanten Programms so schlecht, dass man sich eher auf ein Scheitern in der Praxis einstellen sollte:

»Neu ist die Idee, Langzeitarbeitslose mittels Lohnkostenzuschüssen in der Privatwirtschaft unterzubringen, nicht. Mit dem Beschäftigungszuschuss (BEZ) bzw. dem Nachfolgeinstrument der Förderung von Arbeitsverhältnissen (FAV) gibt es seit Jahren die Möglichkeit, Löhne für schwer vermittelbare Arbeitslose staatlich zu subventionieren. Hinzu kommt: Bei der FAV ist ein Zuschuss von 75 Prozent für die gesamte bis zu 24-monatige Förderdauer möglich. Beim neuen Bundesprogramm hingegen erhalten die Arbeitgeber umgerechnet auf die gesamte Förderdauer etwas mehr als 40 Prozent Zuschüsse für die regulär geförderten und 63 Prozent für die intensiv geförderten Teilnehmer (bei einer dreijährigen Förderung).«

Wieder einmal beschleicht einen das Gefühl, dass hier seitens der Politik Aktivitätssimulation betrieben werden soll. Wenn man wirklich in die Richtung marschieren wollte, wie sie der DGB anmahnt, dann muss da noch einiges an Substanz nachgereicht werden.

Offizielle Arbeitslose statistisch auf der Flucht, viele tatsächliche Arbeitslose im Niemandsland der Nicht-Zählung und viel wichtiger: Die Baustelle Hartz IV zwischen vielen kleinen geplanten Änderungen und dem Ruf nach einer grundsätzlichen Reform

„Die Arbeitslosigkeit ist allein aus jahreszeitlichen Gründen angestiegen. Der Arbeitsmarkt steht insgesamt stabil da.“ Mit diesen Worten wird der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-J. Weise, anlässlich der Präsentation der neuen Arbeitsmarktzahlen für den Juli 2014 in der Pressemitteilung Der Arbeitsmarkt im Juli 2014: Arbeitslosigkeit steigt allein aus jahreszeitlichen Gründen zitiert. Dann wird die Zahl genannt, die im Anschluss durch die Medien geistert: 2.871.000 Arbeitslose gibt es. Aber eigentlich sind es mehr. Denn einige Zeilen später weist die BA selbst darauf hin, dass es 3.756.000 Personen sind, was ja ein paar mehr sind als die erstgenannte Zahl. Die BA nennt das dann „Unterbeschäftigung“ und da sind eben auch die enthalten, die sich „in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit“ befinden, aber natürlich weiterhin arbeitslos sind. Aber damit noch nicht genug. Während die meisten Medien immer noch nicht einmal bis zu dieser, die Wirklichkeit schon etwas besser abbildenden Zahl der Arbeitslosen vordringen, sondern bei den niedrigeren 2,8 Millionen hängen bleiben, kann man der Verlautbarung der BA eine noch größere Zahl entnehmen, die dann vollends zu verwirren scheint und gleichzeitig zu dem hier besonders interessierenden Thema Hartz IV überleitet.

»Die Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld II in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) lag im Juli bei 4.395.000 … In der Grundsicherung für Arbeitsuchende waren 1.963.000 Menschen arbeitslos gemeldet … Ein Großteil der Arbeitslosengeld II-Bezieher ist nicht arbeitslos.« Wir werden auch darüber informiert, wie es zu dieser Lücke kommen kann: »Das liegt daran, dass diese Personen erwerbstätig sind, kleine Kinder betreuen, Angehörige pflegen oder sich noch in der Ausbildung befinden.« Wir haben also neben den 909.000 Arbeitslosen, die sich (noch) in der Arbeitslosenversicherung befinden, nicht nur fast 4,4 Mio. erwerbsfähige Menschen, die Arbeitslosengeld II bekommen, obgleich nur eine Minderheit von ihnen als offizielle Arbeitslose geführt werden, sondern mit Blick auf das Grundsicherungssystem kommen noch mehr als 1,7 Mio. nicht erwerbsfähige Leistungsempfänger hinzu, die Sozialgeld bekommen, vor allem Kinder. Zusammen macht das 6,1 Millionen Menschen im Hartz IV-System. Die Abbildung der BA verdeutlicht etwas die Verhältnisse. Und dieses System soll nun – wieder einmal – vom Gesetzgeber an mehreren Stellen verändert werden, während gleichzeitig der Sozialverband Deutschland (SoVD) eine umfassende Hartz-Reform fordert.

Weniger Bürokratie, strengere Auflagen – so hat Rainer Woratschka seinen Artikel betitelt und will damit bereits in der Schlagzeile auf die Ambivalenz hinweisen, die sich mit den derzeit diskutierten und im Herbst in das Gesetzgebungsverfahren einzubringenden Änderungen einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe der Arbeits- und Sozialministerkonferenz unter Beteiligung von Kommunen und Bundesagentur für Arbeit verbindet. Die Liste der geplanten Rechtsvereinfachungen, die das Bundesarbeitsministerium während des Sommers in Gesetzesform gießen soll, umfasst 36 Punkte. Für die derzeit mehr als 6,1 Mio. Hartz IV-Empfänger verbergen sich hinter diesen Punkten mehr Großzügigkeit, aber auch schärfere Vorgaben. Das generelle Ziel der Veränderungen sei angeblich, mehr Zeit für die Betreuung der Arbeitsuchenden in den Jobcentern freizuschaufeln, wogegen man ja nun erst einmal nichts haben kann. Beginnen wir mit einigen positiven Veränderungen des bestehenden Rechts:

»Die Pfändbarkeit von Hartz-IV-Bezügen soll künftig generell ausgeschlossen und nicht mehr Einzelprüfungen unterzogen werden, bei denen man ohnehin fast immer zu dem gleichen Ergebnis kam. Und auch die Sanktionen bei sogenannten „Pflichtverletzungen“ sollen entschärft werden. So ist künftig nur noch ein einheitlicher Minderungsbetrag pro Fall und unabhängig von etwaigen Wiederholungen vorgesehen. Und gesonderte Sanktionsregeln für unter 25-Jährige soll es auch nicht mehr geben. Damit kommen die Regierenden einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zuvor, das die bisherigen Sonderregeln womöglich kassiert hätte.«

Aber es gibt auch eine andere Seite der neuen Änderungsvorschläge:

»Tatsächlich mündet mancher Vorschlag zur Beseitigung unsinniger Detailhuberei für Betroffene auch in eine Verschärfung. So soll die Regelung, Hartz- IV-Bezieher beim Umzug in eine teurere Wohnung selbst dann auf den Differenzkosten sitzen zu lassen, wenn die neue Unterkunft von Größe und Preis her als „angemessen“ eingestuft wird, nun auch auf diejenigen ausgeweitet werden, die in eine „unangemessene“ Wohnung ziehen. Auch sie sollen nicht mehr die „angemessenen“, sondern nur noch die Kosten ihrer früheren, billigeren Wohnung erstattet bekommen … Auch Nachzahlungen aufgrund von Grundsatzurteilen, mit denen die bisherige Verwaltungspraxis korrigiert wird, soll es künftig seltener geben. Die Politik will vermeiden, dass die Jobcenter „massenhaft Leistungen rückwirkend neu berechnen müssen“.«

Die Kritik an diesem Sammelsurium lässt nicht lange auf sich warten: Von einem „Apparatschik-Klein-Klein“ und der puren Glättung von Verwaltungsabläufen spricht beispielsweise Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband und der sozialpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, Wolfgang Strengmann-Kuhn wird mit den Worten zitiert, der Ertrag der Arbeitsgruppe sei „mehr als dürftig“.

„Klein-klein“ und „mehr als dürftig“ hinsichtlich der vorgeschlagenen Änderungen im SGB II muss man auch vor dem Hintergrund der folgenden Überschriften lesen: Hartz-IV-Bilanz »niederschmetternd«Bankrotterklärung oder Verband zieht verheerende Hartz-IV-Bilanz. Das hört sich nicht gut an. Hintergrund dieser Artikel ist ein neues Positionspapier des Sozialverbands Deutschland (SoVD):

Sozialverband Deutschland (SoVD): Neuordnung der Arbeitsmarktpolitik. Inklusion statt Hartz IV, Berlin, Juli 2014

Verfasserinnen des Papiers sind Ursula Engelen­-Kefer und Gabriele Hesseken. Es sind vor allem drei Punkte, um die herum der Sozialverband seine Forderungen sortiert:

  1. Arbeitslose Menschen dürfen nicht länger als Menschen mit Defiziten betrachtet und ausgesondert werden. Die Stärkung ihrer Kompetenzen und Fähigkeiten muss im Vordergrund der künftigen Arbeits­marktpolitik stehen. Dies erfordert ein ausreichendes Angebot an qualifizierter Arbeit mit fairer Ent­lohnung und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen.
  2. Langzeitarbeitslose Menschen, die über einen längeren Zeitraum erwerbstätig waren und Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt haben, müssen finanziell besser gestellt werden. Für sie muss es eine zusätzliche Geldleistung zu „Hartz IV“ geben, um ihr Armutsrisiko abzufedern.
  3. Die Vermittlung und Betreuung von Langzeitarbeitslosen ist erheblich zu verbessern. Die Betreuungs­-, Vermittlungs­- und Eingliederungsleistungen sind für sämtliche Arbeitslosen allein bei der Bundesagentur für Arbeit anzusiedeln.

An dieser Stelle kann keine Gesamtauseinandersetzung mit der Gesamtheit der SoVD-Vorschläge geleistet werden, aber an zwei aus den Vorschlägen herausgegriffenen Beispielen soll durchaus kritisch aufgezeigt werden, dass es sich weniger um eine fundamentale Hartz-Reform handelt, die hier gefordert wird, sondern eher um ein „add on“-Modell, bei dem also auf das weiter bestehende System etwas raufgepackt werden soll und zugleich werden alte Schlachten hinsichtlich der Frage, wer denn nun die Hartz IV-Empfänger „betreuen“ soll – die Bundesagentur für Arbeit oder die Kommunen oder beide zusammen – erneut zugunsten des „Arbeitsamtsmodells“ auf die Tagesordnung gesetzt, was sicher auch damit zu tun hat, dass eine der Verfasserinnen Ursula Engeln-Kefer ist, die früher jahrelang als stellvertretende DGB-Bundesvorsitzende innerhalb der Bundesanstalt für Arbeit im Verwaltungsrat gewirkt hat. Diese einseitige Positionierung für die BA erscheint irgendwie etwas gestrig.

Vorweg allerdings sei besonders hervorgehoben, dass ein Paradigmen- und Perspektivenwechsel mit Blick auf die betroffenen Menschen im Grundsicherungssystem eingefordert wird und es werden konkrete Veränderungsvorschläge gemacht, die weit über das hinausgehen, was wir seitens der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Kenntnis nehmen müssen. Damit wird hier die besondere Problematik adressiert, dass eine leider immer größere Gruppe von langzeitarbeitslosen Menschen offensichtlich auf Dauer exkludiert werden vom Arbeitsmarkt und man gleichzeitig die Förderbedingungen und die dafür zur Verfügung stehenden Mittel immer weiter begrenzt hat, wodurch sich in den Jahren seit 2010 zunehmend ein Teufelskreis der „Verfestigung“ und der „Verhärtung“ von Langzeitarbeitslosigkeit herausgebildet hat.

Nun aber zu den beiden – exemplarischen – Anfragen an die Reformvorschläge:

Auf der Seite 20 des Positionspapiers findet man diesen Hinweis: „Öffentlich geförderte Beschäftigung weiterentwickeln“. Und ein erster Blick scheint zu belegen, dass hier eine der ansonsten nur wenigen die öffentlich geförderte Beschäftigung befürwortende Positionierungen erfolgt: »Besonders schwer haben es Langzeitarbeitslose, die trotz erheblicher Vermittlungsbemühungen der Arbeitsverwaltung derzeit kaum noch Aussicht darauf haben, in den ersten Arbeits­markt integriert zu werden. Der SoVD setzt sich für die Schaffung öffentlich geförderter und sozial­ versicherungspflichtiger Beschäftigung mit tarif­- bzw. ortsüblichen Löhnen für diesen Personenkreis ein. Diese müssen die Ein­-Euro­-Jobs ersetzen. Es muss ein Anspruch auf eine sozialversicherungs­pflichtige öffentlich geförderte Beschäftigung geschaffen werden, um die Beschäftigungsfähigkeit der benachteiligten Personengruppen zu verbessern, ihre Qualifikationen zu erweitern und damit ihre Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Die Annahme einer öffentlich geför­derten Beschäftigung mit Sozialversicherungspflicht muss freiwillig sein.« So weit, so gut. Dann aber fällt das Papier in den alten Geist der auf dem Kopf stehenden öffentlich geförderten Beschäftigung zurück, denn es wird gefordert: »Um der latenten Gefahr der Verdrängung von regulärer Arbeit durch öffentlich geförderte Beschäftigung entgegenzuwir­ken, sind nur solche Beschäftigungsverhältnisse zu fördern, in deren Rahmen wettbewerbsneutrale, zusätzliche und im öffentlichen Interesse liegende Arbeiten erledigt werden.« Also Wettbewerbsneutralität – übrigens erst mit der letzten restriktiven Ausgestaltung des Förderrechts von einer untergesetzlichen Norm „geadelt“ durch die direkte Implementierung im Gesetz – wird seit Jahren von sehr vielen Experten und vor allem Praktikern als eine der zentralen Ursachen dafür identifiziert, dass wir konfrontiert werden mit teilweise hanebüchen ausgestalteten Maßnahmen, die so weit weg sein müssen vom ersten Arbeitsmarkt, dass sie mit großer Sicherheit auch den Betroffenen kaum neue Perspektiven eröffnen können. Hier sind die Forderungen des SoVD weit hinter dem zurückgeblieben, was seit Jahren im Fachdiskurs debattiert und entwickelt worden ist.

Das zweite Beispiel betrifft die Forderung, – so könnte man es scheinbar zynisch formulieren, hier aber erst einmal ohne irgendeinen Unterton gemeint – ein „Zwei-Klassen-System“ innerhalb der Grundsicherung einzuführen. Und diese Forderung wird intuitiv bei vielen Menschen auf eine zustimmende Wahrnehmung stoßen, die sich vor allem speist aus der tiefen Verankerung des Äquivalenzprinzips in der deutschen Kollektivseele. Der SoVD fordert (S. 26-31) zahlreiche Verbesserungen im bestehenden Arbeitslosengeld II-System, um dann eine weitere, neue Komponente vorzuschlagen: das »Arbeitslosengeld II Plus«. Dazu erfahren wir:

»Der SoVD fordert die Einführung einer zusätzlichen unbefristeten Geldleistung („Arbeitslosen­geld II Plus“), die neben dem Arbeitslosengeld II gewährt wird und im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosengeld I beansprucht werden kann. Mit dem Arbeitslosengeld II Plus soll anerkannt wer­ den, dass die ehemaligen Arbeitslosengeld I­Empfänger bzw. die ­empfängerinnen durch oftmals langjährige Erwerbstätigkeit einen erheblichen Beitrag zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung geleistet haben. Mit dem Arbeitslosengeld II Plus soll gleichzeitig ein Teil der Einkommenseinbußen ausgeglichen werden, die regelmäßig beim Übergang vom Arbeitslosengeld I in den Bezug von Arbeitslosengeld II entsteht. Der Höhe nach muss sich das Arbeitslosengeld II Plus vor allem an dem zuvor bezogenen Arbeitslo­sengeld I orientieren. Dabei könnte als Richtschnur für die Höhe des Arbeitslosengeldes II Plus der ehemalige befristete Zuschlag dienen. Dieser errechnete sich im ersten Bezugsjahr aus zwei Drit­teln der Differenz zwischen dem vormaligen Arbeitslosengeld I zuzüglich Wohngeld und dem nach Bedürftigkeit zustehenden Arbeitslosengeldes II. Gleichzeitig war er auf Höchstbeträge beschränkt, nämlich auf 160 Euro für Alleinstehende, 320 Euro für Paare plus 60 Euro für jedes minderjäh­rige Kind. Im Gegensatz zum ehemaligen befristeten Zuschlag, der nach einem Bezugsjahr halbiert wurde, sollte das Arbeitslosengeld II Plus in voller Höhe und zeitlich unbefristet gewährt werden.« (S. 31 f.)
Man will also für eine bestimmte Gruppe unter den Leistungsempfängern deren monetäre Besserstellung durch Zuschläge auf die weiterhin bestehende Grundsicherungsleistung. Die wird zwar hinsichtlich der Leistungshöhe kritisiert, nicht aber als solche in Frage gestellt, was aber auch bedeutet, dass man akzeptiert, dass es sich um eine bedürftigkeitsabhängige Fürsorgeleistung handelt. Offensichtlich will man gleichsam einen „Echoeffekt“ aus dem Versicherungssystem in das Grundsicherungssystem verlängern und das nicht nur für eine bestimmte wie auch immer definierte Übergangsphase, sondern dauerhaft soll dieser Zuschlag fließen. Da kann man schon auf die Idee kommen, dass es hier noch einen erheblichen Diskussionsbedarf gibt.

Ob „Klein-klein“ oder aber die Verbesserungsvisionen des Sozialverbands Deutschland – offensichtlich wird der jetzt anstehende 10. Geburtstag von Hartz IV nicht der letzte bleiben.

Je näher der gesetzliche Mindestlohn kommt, desto konkreter werden die offenen Fragen. Beispielsweise: Wer ist eigentlich ein Langzeitarbeitsloser und wie erkennt man rechtssicher einen solchen?

Der flächendeckende, gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 € pro Stunde kommt – zum 1. Januar 2015 ist es soweit. Jedenfalls im Prinzip. Denn es gibt Ausnahmen von dem – eigentlich – alle umfassenden Mindestlohn. Darüber wurde in den vergangenen Wochen und Monaten heftig diskutiert. Eine dieser Ausnahmen bezieht sich auf die Langzeitarbeitslosen. Hier hatte sich die große Koalition auf eine Ausnahmeregelung verständigt, die vorsieht, dass Arbeitgeber, die einen Langzeitarbeitslosen einstellen, in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung nicht verpflichtet sind, den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 € pro Stunde zahlen zu müssen. Die offizielle Begründung für diesen Schritt lautete: Man wolle die Beschäftigungschancen von Langzeitarbeitslosen durch einen „zu hohen“ Einstiegslohn nicht gefährden. Als ein solcher wird offensichtlich die allgemeine Lohnuntergrenze von 8,50 € pro Stunde gesehen, die man gerade flächendeckend einführt.

Im Umfeld dieser Ausnahmeregelung wurde schon viel Kritik vorgetragen an der Sinnhaftigkeit bzw. an der Unsinnigkeit dieser Ausnahmeregelung. Nun steht die aber im Gesetz und jetzt stellt sich natürlich die Frage, wie man diese Regelung im Alltag der Unternehmen umsetzen kann bzw. muss. Und ganz offensichtlich, folgt man einen neuen Artikel in der Print-Ausgabe der FAZ mit dem Titel „Die Mindestlohn-Ausnahme wird zur Stolperfalle“, handelt es sich bei dieser Ausnahmeregelung nur auf den ersten Blick um eine vermeintlich einfache Regelung. Offensichtlich, so der Artikel, stellen sich für die Praktiker mehrere offene Fragen. So wird beispielsweise die Beigeordnete für Soziales und Arbeit beim Deutschen Landkreistag, Irene Vorholz, mit den Worten zitiert: »Allerdings fragt sich aus Sicht der Praxis, wie genau festgestellt werden soll, wer langzeitarbeitslos ist.« Dies sei angeblich bislang nicht zufriedenstellend geklärt.

Schaut man in die gesetzliche Definition, dann diejenige  Personen als Langzeitarbeitslose, die länger als ein Jahr ununterbrochen arbeitslos sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch Zeiten von Krankheit oder die Teilnahme an bestimmten – die Betonung liegt hierbei auf bestimmten – Fördermaßnahmen innerhalb dieser Jahresfrist nicht als Unterbrechung der Arbeitslosigkeit gewertet werden. Bei anderen Fördermaßnahmen ist das allerdings anders, denn dann beginnen die Langzeitarbeitslosen hinsichtlich ihrer statistischen Dauerexistenz wieder bei Null, gelten also als Kurzzeit-Arbeitslose, was sie faktisch in der Realität aber natürlich nicht sind. Das wird übrigens in den Jobcentern bei der praktischen Arbeit auch berücksichtigt – also obgleich die dann in der Statistik mit den derzeit 1,1 Millionen Langzeitarbeitslosen nicht mehr mitgezählt werden, behandelt man sie bei der Prüfung der Anspruchsvoraussetzung „Langzeitarbeitslosigkeit“ als Zugangskriterium für bestimmte Fördermaßnahmen aber als solche, weil sie es ja auch faktisch sind.

Für die anstehende Mindestlohn-Ausnahme-Praxis stellt sich nun die entscheidende Frage, wie ein Arbeitgeber überhaupt rechtssicher feststellen kann, ob ein Bewerber in diesem gesetzlichen Sinne langzeitarbeitslos ist. Denn das muss er ja wissen, um die Ausnahmeregelung, in den ersten sechs Monaten niedriger bezahlen zu können, in Anspruch nehmen zu können. Denn andernfalls müsste der Arbeitgeber ständig befürchten, dass er wegen illegaler Unterschreitung des gesetzlichen Mindestlohns auch im Nachhinein belangt werden kann.

Der Artikel berichtet, dass derzeit im Bundesarbeitsministerium an den Durchführungsbestimmungen zum Mindestlohngesetz gearbeitet wird. Es wird behauptet, dass es den Arbeitgebern eher schwer gemacht werden soll, die Mindestlohn-Ausnahme zu nutzen. Angeblich »würde es nicht ausreichen, dass ein Bewerber persönlich versichert, er sei langzeitarbeitslos. Vielmehr ist vorgesehen, dass Langzeitarbeitslosigkeit amtlich bescheinigt sein muss, bevor der Mindestlohn unterschritten werden darf.« So weit, so gut – würde der eine oder die andere an dieser Stelle denken. Das dürfte doch eigentlich kein Problem sein, wenn das Jobcenter dem Arbeitgeber diesen Tatbestand bescheinigt. Aber so einfach scheint es nicht zu sein: »Ungeklärt sei indessen noch, ob diese Bescheinigung wirklich ein rechtsverbindlicher Bescheid sein werde – oder ob dem Arbeitgeber am Ende trotzdem noch Ärger droht, falls sich später herausstellt, dass der Mitarbeiter im strengen Rechtssinn nicht langzeitarbeitslos war.«

Das kommt irgendwie putzig daher: Da stellt eine Behörde eine Bescheinigung aus, dass ein von ihr betreuter Mensch langzeitarbeitslos sei, zugleich aber soll die Möglichkeit bestehen, das für den Empfänger dieser Bescheid keine Rechtsverbindlichkeit hat, er sich also im Fall der Fälle nicht darauf berufen kann.

Man kann das auch als skurril bezeichnen.

Allerdings gilt das gleiche auch für den Alternativvorschlag, der von Irene Vorholz vom Deutschen Landkreistag vorgetragen wird: »Einfacher wäre eine Regelung gewesen, bei der die Erklärung des Betroffenen, bisher langzeitarbeitslos zu sein, ausreicht«, sagt Frau Vorholz. Das ist natürlich ebenso problematisch, denn hier öffnet sich durchaus eine problematische Missbrauchstür, denn der Arbeitgeber kann später bei einer solchen scheinbar einfachen Regelung immer behaupten, dass der Arbeitnehmer ihm gegenüber bestätigt habe, dass er langzeitarbeitslos sei und dass er in Treu und Glauben darauf gebaut hat, dass das schon seine Richtigkeit habe.

Aber damit nicht genug. Je länger man über einen Sachverhalt nachdenkt, umso mehr offene Fragen stellen sich. So beispielsweise, »was geschehen soll, wenn der Arbeitslose nach Inkrafttreten des Mindestlohns am 1. Januar 2015 sein Status gar nicht offen legen will.« Aus Datenschutzgründen können Jobcenter oder Arbeitsagenturen solche Information bisher nicht an Arbeitgeber weitergeben – es sei denn, es liegt eine ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen vor.
Und für die Jobcenter stellt sich eine weitere problematische Dimension des Themas, nämlich ein möglicher Zielkonflikt zwischen den Datenschutz und den so genannten Zumutbarkeitsregeln, worauf der Artikel hinweist – eine übrigens hochbrisante Frage, denn mit der Zumutbarkeitsregelung sind im bestehenden Recht Sanktionen gegenüber den Leistungsbeziehern verbunden:

»Kann man von Langzeitarbeitslosen, für deren Lebensunterhalt der Staat bezahlt, verlangen, dass sie notfalls auch eine Arbeit für anfangs weniger als 8,50 € annehmen? Eine Arbeit also, die der Ausnahmeklausel im Mindestlohngesetz entspricht? Nein, lautet dem Vernehmen nach die Antwort. Denn den Plänen zufolge sollen Langzeitarbeitslose auch in diesem Fall verweigern können, dass die entscheidende Information an Betriebe weitergegeben wird.«

Ja, so sind sie, die Untiefen der Praxis, wenn man eine scheinbar einfache Regelung wie einen allgemeinen, gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn mit Ausnahmetatbeständen verunstaltet.

Die grundsätzliche Problematik der Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose muss an dieser Stelle aber erneut in Erinnerung gebracht werden dürfen. Dazu bereits mein Beitrag auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ vom 1. April 2014:

Wenn die GroKo im Streit über den Mindestlohn um sich kreist, dann muss jemand Opfer bringen. Wenn nimmt man da? Wie wäre es mit den Langzeitarbeitslosen? Die Wahrscheinlichkeit, dass sich darüber jemand aufregt, ist überschaubar und beherrschbar. Aus der Berliner Perspektive

In diesem Beitrag habe ich zwei Hauptkritikpunkte entwickelt:

  • Zum einen ist es mehr als irritierend, dass in einem Gesetz, das „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ genannt wird und in dem der Mindestlohn als ein Bestandteil enthalten ist, eine Ausnahmeregelung eingebaut wird, die aber nur dann in Anspruch genommen werden kann, wenn das Unternehmen nicht tarifgebunden ist, denn in den anderen Unternehmen ist eine Vergütung der Langzeitarbeitslosen unterhalb der 8,50 € zumeist durch die tarifvertragliche Struktur von vornherein ausgeschlossen. Denkt man das also weiter, »dann hätte das zur Folge, dass tarifgebundenen Unternehmen, die sich also an die Regeln halten, die man doch fördern möchte, dergestalt bestraft werden, dass sie bei Einstellung eines Langzeitarbeitslosen diesem den gesetzlichen Mindestlohn mindestens schulden, während genau die Unternehmen, die sich außerhalb der Tarifbindung befinden, den Lohn nach unten drücken können. Ich bin gespannt, mit welcher mir sich derzeit nicht mal in Spurenelementen erschließenden Logik man das zu begründen glauben meint.« Dazu habe ich bislang nichts hören oder lesen können.
  • Zum anderen ist die Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose auch systematisch falsch: »Es gibt vor allem angesichts der erheblichen Heterogenität der so genannten Langzeitarbeitslosen keine wirklich überzeugende Begründung, diese generell von der Gültigkeit eines Mindestlohnes auszuschließen. Wenn einzelne Arbeitslose teilweise oder erheblich leistungsgemindert sind, so dass ihre Produktivität eine Einstellung zu den gegebenen Mindestlohnbedingungen verhindern würde, dann muss man mit einem bekannten und erprobten und an dieser Stelle auch sinnvollen Instrumentarium gegensteuern und eine solche Einstellung ermöglichen: Hierzu gibt es das Instrument der Lohnkostenzuschüsse, mit deren Hilfe dann eine möglicherweise vorhandene lohnkostenbedingte Einstellungshürde beseitigt oder zumindest abgemildert werden kann.«

Menschen in Hartz IV: „Vergessen“ und verloren zwischen den Systemen, wo es doch „Hilfe aus einer Hand“ geben soll? Und die Zeit läuft gegen sie (und gegen die Systeme)

Regelmäßig werden die Dinge (und die Menschen) durcheinander geworfen und dabei gehen viele über Bord. Gemeint sind mal wieder die Zahlen. Wenn über „die“ Arbeitslosen gesprochen wird, dann taucht in den Medien fast ausschließlich die Zahl der „registrierten Arbeitslosen“ auf, die jeden Monat von der Bundesagentur für Arbeit (BA) verkündet wird. Die liegt derzeit bei 2.882.00 Menschen, davon befinden sich 883.000 im SGB III-System, also der „klassischen“ Arbeitslosenversicherung, die größte Zahl hingen im SGB II- oder Grundsicherungssystem, umgangssprachlich auch als Hartz IV bezeichnet: 1.989.000 Menschen. Aber die 2, 9 Mio. Menschen sind nur als Untergrenze des tatsächlichen Problems zu verstehen. Die BA selbst weist eine weitere Zahl auf, die a) realistischer für die Abbildung des Problems der Erwerbsarbeitslosigkeit ist und b) die zugleich deutlich höher ausfällt: 3.801.00. Das ist die Zahl der Unterbeschäftigten. Und 3,8 Mio. sind schon deutlich mehr als die offiziellen 2,9 Mio. Arbeitslose.

Für eine genaue Aufschlüsselung, was man darunter versteht, vgl. den Beitrag Arbeitsmarkt im Mai: Über 3,7 Millionen Menschen ohne Arbeit von O-Ton Arbeitsmarkt). Dass 3,8 Mio. faktisch Arbeitslose mehr sind als die 2,9 Mio. offiziellen Arbeitslosen, das leuchtet noch ein, wenn man es erklärt, warum da fast eine Million Menschen nicht mitgezählt werden, obgleich sie natürlich arbeitslos sind, nur nicht im Sinne der amtlichen Zählvorschrift. Aber noch eine Nummer schwieriger wird es dann, wenn man das Thema erweitert und darauf hinweist (vgl. dazu die Abbildung,) dass von den derzeit 6.137.000 leistungsberechtigten Personen in der Grundsicherung (SGB II) immerhin 4.425.000 „erwerbsfähige“ Leistungsberechtigte sind, von diesen aber nur 1.989.000 als Arbeitslose gezählt werden. Erwerbsfähig, aber nicht arbeitslos im statistischen Sinne? So ist es. »Ein Großteil der Arbeitslosengeld II-Bezieher ist nicht arbeitslos. Das liegt daran, dass diese Personen erwerbstätig sind, kleine Kinder betreuen, Angehörige pflegen oder sich noch in der Ausbildung befinden«, erläutert uns die BA.

Aber die Zahlenakrobatik der Arbeitsmarktstatistik ist hier nicht das zu vertiefende Thema. »Schulden, Suchtprobleme oder psychosoziale Schwierigkeiten: Hartz-IV-Empfänger leiden häufig unter Problemen, die sie alleine nicht in den Griff bekommen. Von Kommunen und Jobcentern werden sie dabei allzu oft alleingelassen«, so kann man es beispielsweise in dem Artikel Viele Langzeitarbeitslose mit Schulden- und Suchtproblemen lesen.

Auslöser der Berichterstattung ist eine kritische Bestandsaufnahme des DGB: Sozialintegrative Leistungen der Kommunen im Hartz IV-System – Beratung „aus einer Hand“ erfolgt meist nicht, so lautet der Titel der von Wilhelm Adamy und Elena Zavlaris verfassten Studie. Mindestens zwei Millionen erwerbsfähige Hartz-IV-Empfänger haben nach dieser DGB-Studie Schulden- und Suchtprobleme sowie so genannte psychosoziale Schwierigkeiten. Von den zuständigen Kommunen würden die Betroffenen damit jedoch in den allermeisten Fällen alleingelassen. Die DGB-Autoren haben sich einmal die vorliegenden Statistiken angeschaut und sind zu folgenden Erkenntnissen gekommen:

  • Insgesamt kann man für das Jahr 2012 von gut 1,1 Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfängern mit Schuldenproblemen aus, von denen nach einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit aber nur 32.500 durch die Kommunen entsprechend beraten wurden. 
  • Von den geschätzt 450.000 Hilfebedürftigen mit Suchtproblemen erhielten laut Statistik lediglich 9.000 eine Beratung. 
  • Mit Blick auf die 900.000 Betroffenen mit psychosozialen Schwierigkeiten wurden nur für 20.000 Personen kommunale Hilfen gemeldet.

Adamy/Zavlaris (2014: 1) merken dazu an: »Mit Hartz IV wurde die größte Sozialreform in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland umgesetzt. Eine zentrale Idee war die Bündelung der kommunalen Erfahrungen aus der ehemaligen Sozialhilfe mit den arbeitsmarktlichen Kompetenzen der Arbeitsagenturen. Sozialintegrative Hilfen sollten mit beruflichen Integrationsleistungen verzahnt werden, die Gewährung aller individuellen Hilfen aus einer Hand war beabsichtigt. Den Hartz-IV-Empfängern und -Empfängerinnen sollte mit einer umfassenden Beratung und Unterstützung geholfen werden. Doch die Praxis sieht ganz anders aus. Von einer ganzheitlichen Betreuung kann meist nicht gesprochen werden.«

Es geht um die „kommunalen Eingliederungsleistungen“ nach § 16a SGB II. Dazu die Autoren der Studie: »Der § 16a SGB II ist eine kommunale Kann-Regelung. Die sozialen Integrationshilfen liegen in der Entscheidungsautonomie von Städten und Gemeinden und deren tatsächliche Erbringung hängt von den vorhandenen beziehungsweise bereit gestellten finanziellen Ressourcen einer Kommune ab.«

Adamy und Zavlaris (2014: 2) kritisieren zu Recht: »Einheitliche und verbindliche Standards wie auch valide und bundesweit zugängliche Daten fehlen, sodass es keinerlei Transparenz über die Leistungserbringung gibt.«

Und das in einem Bereich, wo es um richtig viele Menschen geht: Denn es befinden sich »mehr als zwei Drittel (der 4,4 Mio. erwerbsfähigen Hartz-Empfänger) im Langzeitbezug, d. h. sie haben innerhalb der letzten 24 Monate mindestens 21 Monate Leistungen bezogen. Gerade bei diesem Personenkreis erschweren oft Schulden, Sucht oder psychosoziale Probleme den Weg aus dem Leistungsbezug – häufig treten mehrere Problemlagen gleichzeitig auf beziehungsweise bedingen oder verstärken sich gegenseitig.«

Zu der Personengruppe, die hier angesprochen wird, vgl. auch den Beitrag Hartz IV-Langzeitbezieher: Drei Viertel seit mindestens einem Jahr ohne Förderung von O-Ton Arbeitsmarkt. Dort wird festgestellt: »In den vorangegangenen 12 Monaten hat lediglich ein Viertel der im Januar 2014 fast drei Millionen Langzeitleistungsbezieher an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme teilgenommen. Die übrigen rund 76 Prozent wurden in dieser Zeit nicht gefördert. Im Vergleich mit dem Vorjahr (Dezember 2013) ist die Zahl der Ungeförderten zudem von 2,22 auf 2,25 Millionen Menschen gestiegen. Dabei sind Langzeitleistungsbezieher besonders förderbedürftig, denn ihnen fällt der Ausweg aus der Hilfebedürftigkeit und in den Arbeitsmarkt extrem schwer. Wie schwer, zeigt die BA-Statistik mehr als deutlich, denn im Januar 2014 fanden nur 0,9 Prozent von ihnen eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Hintergrund sind, im Jargon der Bundesagentur für Arbeit, die „multiplen Vermittlungshemmnisse“.«

Zurück zur DGB-Studie über die sozialintegrativen Leistungen, die seitens der Kommunen bereit gestellt werden sollen: »Nach DGB-Schätzungen erhalten auch neun Jahre nach Errichtung des Hartz-IV-Systems allenfalls ein Viertel bis ein Fünftel aller Hilfebedürftigen mit entsprechendem Förderbedarf tatsächlich soziale Integrationshilfen der Kommunen. Diese sozialen Unterstützungshilfen hängen in starkem Maße davon ab, wo man lebt« (S. 6). Wartezeiten von bis zu sechs Monaten sind keine Ausnahmen.

Und weiter:

»Durch die Formulierung der kommunalen Eingliederungsleistungen als Ermessensleistungen hat der Gesetzgeber die Erbringung von den zur Verfügung gestellten Ressourcen der jeweiligen Kommune abhängig gemacht. Gerade in finanzschwachen Kommunen, in denen sich soziale Problemlagen häufen, stehen oft nicht ausreichend finanzielle Mittel bereit, um ein in Quantität und Qualität ausreichendes Angebot an kommunalen Leistungen vorzuhalten« (S. 8).

Man kann es drehen und wenden wie man will: Diese Befunde sind erschreckend und sie verweisen nicht nur viele der betroffenen Menschen in die Dauer-Passivität und oftmals in einen Teufelskreislauf sich verstärkender „Vermittlungshemmnisse“. Dabei ist besonders zu beachten, dass die Nicht-Förderung sowie eine fehlende oder defizitäre Berücksichtigung bei notwendigen sozialintegrativen Leistungen in der Bilanz oftmals zu einer massiven Verschlechterung der Lebenslage und darunter auch der Beschäftigungsfähigkeit der betroffenen Menschen führen. Mithin kann man sagen, dass die Zeit gegen die betroffenen Menschen arbeitet, denn je länger sie in der Langzeitarbeitslosigkeit verharren (müssen), umso unwahrscheinlicher wird eine (Wieder-) Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Aber nicht nur gegen sie, sondern auch gegen die Systeme, die mit ihrer – institutionenegoistisch nachvollziehbaren – Funktionsweise des Abschottens und Wegdelegierens  zentral verantwortlich sind für die Unterversorgung dieser Gruppe innerhalb des Grundsicherungssystems. Und das schlägt dann wieder in zahlreichen einzelnen Haushaltstöpfen auf, denn die Menschen verschwinden ja nicht von der Bildfläche, sondern sie arrangieren sich mit Überlebensstrategien, die bei dem einen oder anderen dann durchaus auch zu Folgeproblemen führen, die einen schweren Schaden für die Gesellschaft verursachen (können).