(Auch) Sinnkrisen treiben Pflegekräfte aus ihrem Beruf – und nicht wenige in die Erwerbsminderungsrente

Es ist nicht allein eine als zu gering empfundene Entlohnung, die Pflegekräfte aus dem Beruf treibt. Vielmehr erleben viele Pflegende den Konflikt zwischen ihrem ursprünglichen Berufsideal und dem betrieblichen Alltag als so belastend, dass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben wollen oder können, so der Artikel Sinnkrisen treiben Pflegekräfte aus dem Beruf, der in der Online-Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts publiziert wurde. Dabei stützt man sich auf die Studie Erwerbsminderungsrenten in der Krankenpflege. Erklärungsansätze und Handlungsempfehlungen von Laura Schröder, die vom Institut für Arbeit und Technik (IAT) veröffentlicht wurde.

In der Diskussion über das Problem eines frühzeitigen Berufsausstiegs von Pflegekräften wird immer auf die (zu) hohe Arbeitsbelastung hingewiesen, die durch die Ökonomisierungsprozesse in den Krankenhäusern vorangetrieben und verschärft wird. In der Studie wird aber auch der Aspekt des Wandels des pflegerischen Berufsbildes aufgerufen. Die Studie kommt in der Zusammenführung der quantitativen und qualitativen Analyse zu dem Ergebnis, »dass die Beantragung einer EM-Rente als die individualisierte Lösung eines strukturellen Konfliktes gesehen werden (kann). Die Pflegekraft verlässt mit der gesellschaftlich legitimierten Begründung „schwere Krankheit“ das Berufsfeld. Die hohen Erwartungen durch die Berufsausbildung können in der „Fabrik Krankenhaus“ nicht mehr befriedigt werden. Durch die Ökonomisierung des Gesundheitswesens ist ein Wandel des Berufsbildes erkennbar, welcher das berufliche Selbstverständnis der Pflegenden in Frage stellt und dazu führt, dass eigene Ansprüche sogar trotz erhöhtem Engagement nicht mehr befriedigt werden können. Für Pflegekräfte, welche es sich aufgrund partnerschaftlicher Absicherung finanziell leisten können, kann die Beantragung einer EM-Rente eine Möglichkeit des Ausstiegs sein.« (Schröder 2016: 15).

Mit Blick auf den heute schon real existierenden Fachkräftemangel besonders relevant ist diese Aussage: »Es ist davon auszugehen, dass das Ungleichgewicht bei der Beschäftigtengruppe, welche gut ausgebildet ist und weiterhin in ihrem Ausbildungsberuf beschäftigt ist, dessen Rahmenbedingungen aber persönliche Berufsideale konterkarieren, am höchsten ist.« (Schröder 2016: 15). Das wird gedeckt durch die Befunde der quantitativen Analyse, dass erhöhte Zahl von Erwerbsminderungsrenten-Fällen bei den gut qualifizierten Pflegekräften mittleren Qualifikationsniveaus zu beobachten ist. Für diese Häufung im mittleren Qualifikationsbereich liefert Schröder (2016: 15) folgenden Erklärungsansatz:

»Pflegekräfte, welche sich mittels Weiterbildung spezialisiert haben, konnten aufgrund der Möglichkeit eines Wechsels von der Pflege-am-Bett zu einer administrativen Tätigkeit innerhalb ihres Berufes eine Lösung finden, womit ein positiveres Verhältnis von Anforderung und Belohnung einhergeht. Die weniger qualifizierten Kräfte (z.B. Helfer/innen) dürften einen Konflikt zwischen Berufsethos und Realität im Krankenhaus weniger stark empfinden, da sie häufig angelernte Kräfte aus anderen Arbeitsgebieten, zum Beispiel der Gastronomie, sind und Pflege tendenziell mehr als Job sehen und somit geringere Ansprüche an die Sinnhaftigkeit des Berufes haben.«

Die Studie diskutiert auch mögliche Handlungsempfehlungen (S. 16 ff.). Wenn man davon ausgeht, dass bei den Krankenpflegekräften ein starkes Ungleichgewicht zwischen Leistung und Belohnung vorliegt, dann ist es natürlich naheliegend, durch die Erhöhung einer Belohnungskomponente, wie beispielsweise einer Steigerung des Einkommens, die „Gratifikationskrise“ aufzulösen. Allerdings, folgt man den Erkenntnissen der Studie, liegt darin für die Befragten keine wirkliche Lösung des Problems, da es ihnen darum geht, »die Diskrepanz zwischen Berufsethos und betrieblicher Realität zu verringern.«

Vor diesem Hintergrund werden unterschiedliche Ansatzpunkte zur Diskussion gestellt:

  • Umstrukturierung der pflegerischen Tätigkeit / Aufwertung der Pflege als Profession: Die Arbeitsbedingungen sind der „Dreh- und Angelpunkt“ bei der Prävention von Erwerbsminderungsrenten in der stationären Krankenpflege. »Konkret bedeutet das, eine bessere Einbindung der Pflegekräfte in die Planung von Pflegeprozessen und ein größeres Zeitbudget für die Betreuung der Patient(inn)en.« Von großer Bedeutung scheint das Ungleichgewicht der beiden Professionen Pflege und Medizin im Krankenhaus zu sein. Die Betroffenen wünschen sich laut Studie eine Aufwertung und Anerkennung der pflegerischen Tätigkeit, wie dies beispielsweise in den skandinavischen Ländern der Fall sei. 
  • Maßnahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements: »Konzepte, welche berufsspezifische Faktoren und Risiken zum Inhalt haben, könnten die Pflegekräfte dazu befähigen, sich besser von ihrer Tätigkeit abzugrenzen und mehr auf die eigene Gesundheit zu achten.« Angesichts der vorliegenden Forschungsbefunde, nach denen das Führungsverhalten zu den wichtigsten Faktoren der Arbeitsfähigkeit von Beschäftigten zählt, ist es nicht überraschend, dass in diesem Kontext dem Training der Führungskräfte eine große Bedeutung zugeschrieben wird. Der Handlungsbedarf ist bekannt und hat sich auch bei den Pflegekräften in Erwerbsminderungsrente, die in der Studie untersucht wurden, niedergeschlagen: Alle »nannten konflikthafte Arbeitsstrukturen als Einflussfaktor auf die Entscheidung zur Beantragung der EM-Rente.«
  • Optimierung und Erweiterung bestehender Rehabilitationskonzepte: Bestehende Rehabilitationskonzepte bei Pflegekräften sollten optimiert und angepasst werden. Die Studie hat zeigen können, dass gerade psychisch erkrankte Pflegekräfte vor dem Beginn der ersten Rehabiliationsmaßnahme über einen längeren Zeitraum erkrankt waren. Hier wäre eine Verbesserung der Zugangswege zu Rehabiliationsmaßnahmen ein möglicher Ansatz. 
  • Berufsbezogene Rehabilitation: »Berufsbezogene Rehabilitationskonzepte könnten … an der übersteigerten Verausgabungsneigung ansetzen und Beschäftigte darin stärken, besser mit den Belastungen umzugehen. Pflegekräfte müssen in dieser Perspektive ihre Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen erkennen, um sich selbst Grenzen zu setzen um sich somit vor Überforderung und Erschöpfung zu schützen.«
  • Ambulante Rehabilitationsangebote: Es wird für mehr (ambulante) Angebote plädiert, die möglichst nah am Wohn- oder Arbeitsort der Versicherten sind und flexible Angebote – auch in der Nachbetreuung – anbieten können.
  • Präventive Rehabilitationsangebote: Ein Kritikpunkt, den die Studie ermittelt hat, lässt sich so zusammenfassen, dass in der gegebenen Hierarchie „Reha vor Rente“ die Prävention als erster Schritt vernachlässigt oder ausgeblendet wird. Es gibt bereits nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI ein präventives Rehabilitationskonzept der Deutschen Rentenversicherung, das medizinische Leistungen für Versicherte zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit vorsieht, die eine besonders gesundheitsgefährdende, ihre Erwerbsfähigkeit ungünstig beeinflussende Beschäftigung ausüben. Davon kann man bei den Pflegekräften ausgehen. Das vorhandene Instrument müsste stärker beworben und genutzt werden, man muss hier an sich nichts Neues erfinden.

Die Studie zeigt einen ganzen Strauß an möglichen Interventionen auf, die den Zugang zu der Problematik einer Vernutzung der Pflegekräfte lösungsorientiert adressiert. Es bleibt natürlich daneben der nicht zu vergessende Hinweis, dass die enorme Arbeitsverdichtung, der Personalmangel und die andauernde Erhöhung der Pflegeintensität Parameter sind, die endlich und verlässlich – beispielsweise über Mindeststandards der Personalschlüssel in den Krankenhäusern – angegangen werden müssen.

Rückblick und Blick nach vorne: Die Mühen der Ebene – auf dem tariflichen Weg zu mehr Pflegepersonal im Krankenhaus?

In den letzten Tagen des Jahres häufen sich die Rückblicke auf das, was im nun auslaufenden Jahr war. Und gerade bei sozialpolitisch relevanten Themen ist das von Bedeutung, denn hier dominiert das immer kurzatmiger werdende Aufrufen aktueller Themen und deren schnelle Ablösung neuer Säue, die durch das Dorf getrieben werden. Regelmäßig kommt dabei das Nachhalten, was denn aus den Themen geworden ist, zu kurz.

Kein halbwegs unabhängiger Beobachter wird sich der Diagnose verweigern, dass wir in den Pflegeheimen und in den Krankenhäusern konfrontiert sind mit einem veritablen Personalproblem – vor allem, neben den qualitativen Fragen, ein zu wenig an Personal, gerade in der Pflege. Auf Twitter wird das nun zu Ende gehende Jahr 2015 eingehen als Jahr des Hashtags #Pflegestreik, unter dem viele Betroffene aus der Pflege selbst den – eigentlich – unabweisbaren Bedarf nach einem großen Konflikt angesichts der immer schwieriger werdenden Arbeitsbedingungen zum Ausdruck gebracht haben und bringen. In diesem Kontext gab es in diesem Noch-Jahr einen ersten, nur scheinbar kleinen, lokal begrenzten Tarif-Konflikt, der möglicherweise als Initialzündung in die Sozialgeschichte eingehen wird: Gemeint ist der Streik der Pflegekräfte an der Berliner Charité – immerhin Europas größte Universitätsklinik, die mit ihren Tochterfirmen mehr als 16.000 Mitarbeiter beschäftigt und einer der größten Arbeitgeber Berlins ist – im Sommer dieses Jahres, bei dem es nicht um mehr Geld, sondern um mehr Personal ging (vgl. dazu auch die Beiträge in diesem Blog Mehr, sie brauchen und wollen mehr. Mehr Personal. Ein Streik, der das Gesundheitssystem erschüttern könnte. Der Arbeitskampf des Pflegepersonals an der Charité in Berlin vom 22.06.2015 sowie Nicht mehr Geld, sondern mehr Leute: Der unbefristete Pflegestreik an der Charité in Berlin wird ausgesetzt. Eckpunkte für eine zukünftige Personalausstattung vereinbart vom 01.07.2015). Wie ist der aktuelle Stand bei diesem so wichtigen Vorstoß zugunsten einer besseren Personalausstattung?

Betrachtet man die aktuelle Berichterstattung, die sich mit der Frage, wie denn eigentlich der Stand der Verhandlungen hinsichtlich der Pflegekräfte an der Charité ist, dann kommt so etwas wie Hoffnung auf: Daniel Behruzi hat seinen Artikel überschrieben mit Charité: Auf der Zielgeraden: »Fortschritte bei Tarifverhandlungen für mehr Personal. Berliner Uniklinik will ab Januar erste Maßnahmen zur Entlastung der Beschäftigten umsetzen«. Und Hannes Heine bringt noch mehr Optimismus schon in seiner Artikel-Überschrift zum Ausdruck: Charité: Tarifvertrag mit Signalwirkung kommt: »Der Tarifstreit zwischen Charité und Verdi steht vor der Lösung – um die Löhne geht es allerdings nicht, sondern um mehr Personal. Eine Mindestbesetzung wäre einzigartig.« Was genau berichten sie?

Bereits seit dem Sommer verhandelt die Gewerkschaft ver.di mit der Charité über Gesundheitsschutz und Mindeststandards bei der Personalbesetzung. Das hat sich in die Länge gezogen, aber nun sei ein „ermutigender Zwischenstand“ erreicht worden, so die Charité-Geschäftsführung und auch die Gewerkschaft sieht die reale Option, dass man im Januar zu einem Abschluss kommen kann.
Behruzi berichtet in seinem Artikel, dass »weitgehende Klarheit über die Einführung von Mindestbesetzungsstandards auf Intensivstationen (bestehe). Je nach Betreuungsintensität soll das Zahlenverhältnis zwischen Pflegekräften und Patienten eins zu drei, eins zu zwei oder eins zu eins betragen. Im Durchschnitt aller Stationen soll eine Pflegekraft für nicht mehr als zwei Patienten zuständig sein. Ab Januar soll die Quote von eins zu drei auf keiner Intensivstation mehr unterschritten werden.« Der Fortschritt wird erkennbar, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass bislang eine Pflegefachkraft bis zu fünf Patienten auf den Intensivstationen versorgen musste und muss. Wobei man hier anmerken darf und sollte, dass das, was hier als „Fortschritt“ hinsichtlich der Personalbesetzung im Bereich der Intensivstationen gefeiert wird, im internationalen Vergleich in vielen anderen Ländern angesichts der hier eigentlich gebotenen (und in anderen Ländern auch realisierten) 1:1-Betreuung eher für Verwunderung bzw. Kopfschütteln sorgen wird.

»In den sogenannten Funktionsbereichen wie OPs, Kreißsäle und Anästhesie werden Orientierungswerte für die Personalbesetzung festgeschrieben. Auch auf den »Normalstationen« soll sich die Lage merklich verbessern. Hier soll die Stellenzahl laut Eckpunktepapier um fünf Prozent erhöht werden – plus mehr Personal im Nachtdienst und Berücksichtigung von »Sondertatbeständen« wie eine Häufung schwerer Fälle oder Fluktuation.«

Wahrscheinlich ist also eine Einigung im Bereich der Intensivstationen und auch für bestimmte Funktionsbereiche wird man dahin kommen. Noch sehr unsicher sind die Aussichten für die „Normalstationen“ und deren Personalbesetzung, hier würde es natürlich richtig teuer werden, wenn sich die Gewerkschaft durchsetzen würde mit ihren Vorstellungen.

Behruzi legt in seinem Artikel den Finger auf eine nicht kleine Herausforderung: »Entscheidend bei den Verhandlungen ist die Frage, was passiert, wenn die Vorgaben nicht eingehalten werden. Denn die Erfahrungen mit einem ersten »Kurzzeittarifvertrag« im Jahr 2014 haben gezeigt, dass Zusagen der Charité-Spitze alles andere als verlässlich sind. Die Gewerkschafter an Europas größtem Uniklinikum pochen deshalb auf ein verbindliches, automatisiertes Verfahren, das bei Verstößen zum Tragen kommt.« Aber angeblich hat die Geschäftsleitung des Klinikums hier Entgegenkommen signalisiert, denn schon im Januar soll ein abgestimmtes Reaktionsverfahren, die sogenannte Interventionskaskade, als Standardprozess eingeführt werden, so die Gewerkschaft:

»In Überlastungssituationen soll demnach zunächst versucht werden, zusätzliches Personal über den Stellenpool oder Leasingkräfte zu finden. Gelingt das nicht, sollen Leistungen reduziert und gegebenenfalls Betten gesperrt werden. Offen ist noch, was geschieht, wenn dieser Mechanismus trotz Vereinbarung nicht eingehalten wird. Nach den Vorstellungen der ver.di-Aktiven müsste das Klinikum die Beschäftigten in diesem Fall mit zusätzlicher Freizeit und/oder Geld entschädigen.«

Man erkennt an diesen Beschreibungen, dass man dort vor Ort angekommen ist an den steinigen und höchst komplexen Mühen der tarifpolitischen Regelungsebene.

Aber auch wenn – was unbedingt zu hoffen ist angesichts des Pilotcharakters – ein Abschluss für mehr Personal an der Charité gelingen wird: Es wäre neben der konkreten Verbesserung in Berlin ein lokal und institutionell begrenzter Erfolg, der (noch) nicht das System und das offensichtliche Systemversagen adressieren kann.

Und dieses Systemversagen kann nur verstanden und schlussendlich aufgelöst werden, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass wir hier konfrontiert werden mit den eben systembedingten Folgen der seit Anfang des Jahrtausends eingeführten neuen Krankenhausfinanzierung in Deutschland – und das in Kombination mit einer fehlenden gesetzlichen Normierung von Mindestpersonalbestimmungen für die Pflege, die man nicht unterschreiten darf, sowie darüber hinausreichend einer nicht vorhandenen aufwandsadäquaten Personalbemessung, die Standards guter Arbeit abzubilden vermag.

Auf diese Zusammenhänge wurde bereits am 8. September 2014 in dem Beitrag Pflegenotstand – und nun? Notwendigkeit und Möglichkeit von Mindeststandards für die Ausstattung der Krankenhäuser mit Pflegepersonal ausdrücklich hingewiesen. Die dort präsentierte Diagnose gilt unverändert fort:
»Laut der Gewerkschaft ver.di fehlen insgesamt 162.000 Beschäftigte, allein 70.000 in der Pflege. Diese Situation hat viel mit der Einführung des DRG-Systems vor gut zehn Jahren zu tun, mit dem die Krankenhausfinanzierung in Deutschland von dem damals geltenden System krankenhausindividueller tagesgleicher Pflegesätze sukzessive umgestellt wurde auf landes- und bundesweit einheitliche durchschnittskostenkalkulierte Fallpauschalen.

Mit dem neuen Fallpauschalen-System verfolgte man mehrere Ziele, unter anderen wollte man eine Kostensenkung erreichen durch eine Reduzierung der Verweildauer in den Krankenhäusern und eine Angleichung der mit ihren Kosten über den Fallpauschalen liegenden Krankenhäusern. Die Auswirkungen dieses neuen Systems sind mittlerweile klar erkennbar: Mit Blick auf die Pflege ist zu beobachten, dass es eine erhebliche Arbeitsverdichtung gegeben hat, dies vor allem aufgrund der deutlichen Verkürzung der Verweildauer der Patienten in den Kliniken, was dazu geführt hat, dass die im alten System immer vorhandenen Patienten, die im Grunde nur Hotellerie-Leistungen am Ende ihrer Aufenthaltsdauer in Anspruch genommen haben, heute in den Krankenhäusern schlichtweg nicht mehr vorhanden sind, was natürlich auf der anderen Seite eine deutliche Erhöhung der Pflegeintensität bedeutet. Gleichzeitig gab es aus Sicht des Krankenhausmanagements starke Anreize, beim Pflegepersonal, dass weiterhin den größten Kostenblock innerhalb des Personals darstellt, Einsparungen vorzunehmen, dies auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass gleichzeitig mehr Ärzte beschäftigt und damit finanziert werden mussten (auch durch Veränderungen bei den Arbeitszeitregelungen), sowie eine Ausweitung des Personals im Verwaltungsbereich, vor allem in den Bereichen Codierung und Controlling.«

Die handfesten Folgen für das Pflegepersonal: Es gibt weniger von ihnen und die leiden angesichts der – mit dem neuen System gewollten und auch erreichten – Erhöhung der Umschlagsgeschwindigkeit der Patienten und der damit verbundenen deutlichen Erhöhung der Pflegeintensität der Patienten, die immer kürzer in den Kliniken verbleiben (dürfen) unter einer erheblichen Arbeitsverdichtung. Die Perversität der Systemlogik wird deutlich erkennbar, wenn man sich den „Kellertreppeneffekt“ vor Augen führt: Der Abbau von Pflegepersonal verringert die Kostenanteile der Pflege in den Fallpauschalen, was den Druck, weitere Stellen zu streichen, erhöht.

Man kann nun versuchen, innerhalb des Fallpauschalensystems für Änderungen dergestalt zu sorgen, dass der tatsächliche pflegerische Aufwand besser abgebildet wird. Das aber würde (noch) nicht das Problem lösen, dass den Krankenhäusern das Geld insgesamt überwiesen wird und sie entsprechende Freiheitsgrade bei der konkreten Verteilung auf die einzelnen „Kostenstellen“ (besser wäre hier: Leistungsstellen) haben, was ja auch im Grunde angesichts der dabei zum Ausdruck kommenden unternehmerischen Autonomie nicht schlecht sein muss – wenn es nicht systembedingt auf Kosten der Pflege gehen würde. Mithin wäre eine gesetzliche Personalbemessung die logische Konsequenz, die man ziehen muss und die bislang gescheut wird wie das Weihwasser vom Teufel. Denn das wäre nicht wirklich neu, sondern man hat in der Vergangenheit bereits kurzzeitig Erfahrungen sammeln können mit diesem Instrumentarium, das unter dem Kürzel PPR geführt wird: PPR ist eine Abkürzung für die „Regelung über Maßstäbe und Grundsätze für den Personalbedarf in der stationären Krankenpflege (Pflege-Personalregelung)“. Die Pflege-Personalregelung wurde 1993 eingeführt, um die Leistungen der Pflege transparenter zu machen und eine Berechnungsgrundlage für den Personalbedarf zu haben. Experten gingen damals davon aus, dass sich durch konsequente Anwendung der PPR bundesweit ein Personalmehrbedarf im fünfstelligen Bereich ergeben würde. Als sich abzeichnete, dass die daraus resultierenden Mehrkosten nicht zu tragen sind, wurde die Pflege-Personalregelung flugs ausgesetzt.

Das ist sie, die Systemfrage – und der werden wir uns im kommenden Jahr widmen müssen, wenn es wirklich eine Änderung geben soll. Denn bei allem Respekt über die mühsamen Versuche in der Charité –  sollte dort eine für die Pflege erfreuliche Verbesserung erreicht werden können, löst das gerade nicht das Konkurrenzproblem zu anderen Kliniken, die die damit verbundenen Kosten nicht tragen müssen und sich so (kurzfristig und auf Kosten der Mitarbeiter) einen ökonomischen Vorteil verschaffen können angesichts der Wirkmechanismen des Fallpauschalensystems.

Die zwei Welten des (Nicht-)Personalmangels in der Krankenhauspflege

Es ist schon so viel geschrieben und damit gesagt worden zum Thema Pflegekräftemangel in den Krankenhäusern unseres Landes. Man mag eigentlich nicht mehr, aber dieser Impuls kann und darf nur ein vorübergehender sein, wenn man sich die vielen Hilferufe aus der Pflege anhören muss, die den erreichen, der hinhört und hinhören will. Man könnte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass doch in zahlreichen Studien immer wieder der heute schon manifeste und sich weiter zuspitzende Pflegemangel nicht nur in der Altenpflege, sondern auch in vielen Kliniken herausgearbeitet worden ist – und das dringender Handlungsbedarf besteht. Zuweilen ist es mehr als aufschlussreich, ganz nach unten zu gehen und sich den Verhältnissen und deren Interpretation vor Ort anzuschauen, um einen Eindruck zu bekommen, wie „auf Kante genäht“ viele Pflegekräfte ihren Arbeitsalltag offensichtlich verbringen müssen – und zugleich, wie die Verantwortlichen in ihrer Welt agieren und argumentieren.

Ein lehrreiches Beispiel dafür erreicht uns aus Baden-Württemberg, genauer: aus dem Krankenhaus in Bietigheim-Bissingen, Landkreis Ludwigsburg.  Hilferuf der Pflegekräfte – so ohne jeden Schnörkel hat Melanie Braun ihren Artikel überschrieben. Kurz zum Sachverhalt: Ein Stationsleiter des Bietigheimer Krankenhauses hat seine Position wegen Arbeitsüberlastung nach 15 Jahren gekündigt. Er habe erklärt, die herrschenden Verhältnisse dem Personal und den Patienten gegenüber ethisch nicht mehr vertreten zu können, heißt es. Seine Mitarbeiter prangern nun in einem offenen Brief massive Missstände an.  Die Belegschaft der kardiologischen Station 1B im Bietigheimer Krankenhaus spricht in diesem offenen Brief »von unzumutbaren Zuständen in ihrem Arbeitsalltag, von einem schändlichen Umgang der Klinikleitung mit Mitarbeitern und Patienten und von dramatischen Personalengpässen.«

Und wie unter einem Brennglas kann man an diesem konkreten Fall die beiden Welten des (Nicht-)Personalmangels studieren. Auf der einen Seite die Pflegekräfte, auf der anderen das Management und die Verantwortlichen für die Organisation der Klinik.

Werfen wir zuerst einen Blick auf die, die die Arbeit machen (müssen). Über deren Perspektive berichtet Melanie Braun:

„Wir sind geschockt, aufgewühlt und sehr traurig, aber auch sehr wütend gegenüber der gesamten Führungsebene, aber auch gegenüber den Politikern“, heißt es darin. Denn es werde „extrem rücksichtslos“ mit der Gesundheit der Menschen umgegangen, die Pflegekräfte würden „benutzt wie Material“ und „ohne Rücksicht auf Verluste bis aufs Letzte ausgelaugt“. Wegen der angespannten Personalsituation und einem seit Langem hohen Krankenstand komme es immer wieder zu Versorgungsengpässen bei den Patienten, zudem steige die Gefahr, dass Fehler passierten … Marc Kappler, Gewerkschaftssekretär im Fachbereich Gesundheit bei Verdi, wurde bereits vor Monaten vom Team der Station 1B zu Hilfe gerufen. Tatsächlich habe es zwischendurch Verbesserungen gegeben, bestätigt er: So sei die Zahl der Betten von 36 auf 30 reduziert worden und die Beratungsfirma habe versucht, Abläufe zu optimieren. Doch weil das Team, das aus 15 Vollzeitstellen besteht, bereits seit Jahren zusammen arbeite und sehr eingespielt sei, habe es wenig Verbesserungspotenzial gegeben. Zudem sei die Zahl der belegten Betten inzwischen wieder gestiegen … Aus seiner Sicht würde es bereits helfen, in dieser Notsituation nur für eine gewisse Zeit mehr Kräfte auf der Station einzusetzen, damit das Personal sich erholen und wieder gesund werden könne – dann könne man schauen, ob die aktuelle Besetzung ausreiche oder nicht. Doch die Chefetage habe bislang auf stur geschaltet.«

Aber offensichtlich kann man das auch alles ganz anders sehen. Hier die Perspektive des Managements:

Die Klinikleitung kann die Aufregung jedoch nicht verstehen. „Ich bin überrascht über das Schreiben“, sagt Jörg Martin, Chef der Regionalen Klinikenholding (RKH), zu der auch das Bietigheimer Krankenhaus gehört. Denn man sei schon seit Monaten mit der Station im Gespräch und habe bereits Maßnahmen ergriffen, um die Belastung der Pflegekräfte zu reduzieren. So habe man ein externes Beratungsunternehmen ins Haus geholt, das zusammen mit den Mitarbeitern Lösungen suche. Es habe Coachings gegeben, Workshops und eine Reduzierung der Betten … Ein strukturelles Problem gibt es laut Jörg Martin allerdings nicht: „Ich sehe nicht, dass die Station chronisch unterbesetzt ist“, sagt er – die externe Beratungsfirma stimme ihm da zu. Engpässe oder Probleme könne es immer mal geben, aber er versuche stets, rechtzeitig gegenzusteuern. Auch der Landrat Rainer Haas, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Klinikenholding, sieht keinen Handlungsbedarf: „Ich habe keinen Anlass, an den Informationen der Geschäftsführung zu zweifeln“, sagt er.

So oder ähnlich wird es derzeit in vielen Krankenhäusern ablaufen. Und es wird immer schlimmer (werden müssen), wenn man sich nur einige wenige strukturelle Rahmenbedingungen verdeutlicht. Im Kontext des unbefristeten Streiks von Pflegekräften an der Berliner Charité im Sommer dieses Jahres (vgl. dazu auch die Beiträge in diesem Blog Mehr, sie brauchen und wollen mehr. Mehr Personal. Ein Streik, der das Gesundheitssystem erschüttern könnte. Der Arbeitskampf des Pflegepersonals an der Charité in Berlin vom 22.06.2015 sowie Nicht mehr Geld, sondern mehr Leute: Der unbefristete Pflegestreik an der Charité in Berlin wird ausgesetzt. Eckpunkte für eine zukünftige Personalausstattung vereinbart vom 01.07.2015) hat Rainer Woratschka seinen Artikel zutreffend und das Kernproblem auf den Punkt bringend so überschrieben: Immer weniger Pflegekräfte für immer mehr Patienten.
Daraus nur einige wenige Zahlen:

»Musste 1991 eine Vollzeitkraft rechnerisch 45 Fälle versorgen, waren es 2013 schon 59. Die Zahl der Behandlungsfälle stieg bundesweit um 28,9 Prozent auf fast 19 Millionen. Gleichzeitig ging das Personal, in Vollzeitkräften gerechnet, um 1,2 Prozent auf 316 000 zurück. Massiv gestiegen ist auch die Zahl der Pflegekräfte, die über das vereinbarte Pensum hinaus zu arbeiten hatten – wie eine Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes ergab. Waren es 2011 noch 79 000, die derartige Mehrarbeit erbrachten, lag die Zahl 2013 bereits bei 104 000 – ein Anstieg um 32 Prozent. Die Zahl der Beschäftigten mit Mehrarbeit in Form von Überstunden erhöhte sich um 57 Prozent. Die Fälle von Mehrarbeit über Arbeitszeitkonten nahmen um 24 Prozent zu.«

Diese Entwicklung korrespondiert mit einer erheblichen Verschiebung der Grundgesamtheit der pflegerisch zu versorgenden Patienten, die sich eindampfen lässt auf: Immer kürzer, immer intensiver.

»Hintergrund ist neben der steigenden Patientenzahl auch die infolge des Kostendrucks kürzere Verweildauer der Patienten. Sie sank zwischen 1991 und 2013 von 14 auf durchschnittlich 7,5 Tage – an der Charité gar auf 5,9 Tage.«

Das alles hat was mit dem Finanzierungssystem der Krankenhäuser zu tun, also dem Fallpauschalensystem auf DRG-Basis sowie dem erheblichen Investitionsstau, der sich herausgebildet hat im System der dualen Krankenhausfinanzierung, weil die Bundesländern ihren Part bei der Finanzierung der notwendigen Investitionen nicht ausreichend gerecht geworden sind.

Nicht mehr Geld, sondern mehr Leute: Der unbefristete Pflegestreik an der Charité in Berlin wird ausgesetzt. Eckpunkte für eine zukünftige Personalausstattung vereinbart

Irgendwie häufen sich die positiven Nachrichten von der Streikfront im Lande: Zuerst haben die Flugbegleiter der Lufthansa mit ihrer Spartengewerkschaft UFO (Unabhängige Flugbegleiter Organisation. Gewerkschaft des Kabinenpersonals) nach einer Streikandrohung ab Juli zwischenzeitlich wieder die Verhandlungen mit ihrem Unternehmen aufgenommen, dann kamen heute die Lokführer mit ihrer Gewerkschaft GDL auf die Tagesordnung, die sich mit der Deutschen Bahn seit Wochen in einem Schlichtungsverfahren befanden: Schlichtung zwischen GDL und Bahn erfolgreich. Es wird keine weiteren Streiks bei der Bahn geben. Und zur Abrundung des Tages wird aus Berlin gemeldet: Charité-Streik vorerst ausgesetzt: »Zehn Tage lang legten Krankenschwestern und -pfleger an der Charité die Arbeit nieder. Nun haben die Klinik und Verdi sich auf Eckpunkte zum künftigen Personalschlüssel geeinigt: Sie sollen die Grundlage für den künftigen Tarifvertrag werden.« Und um den Tagesbericht zu komplettieren: Nachdem in den vergangenen Tagen kaum bis gar nicht in den Medien berichtet wurde über den ersten unbefristeten Pflegestreik, gab es heute auf Twitter eine Riesenwelle an Tweets mit dem Hashtag #Plegestreik, mit vielen Beiträgen, in denen die mediale Nicht-Ausleuchtung dieser Arbeitskampfmaßnahme beklagt wurde (dazu auch den Blog-Beitrag Pflegestreik! Ist da was? Nicht nur mediale Resonanzschwächen. Die Streikenden an der Charité in Berlin könnten in die GDL-Falle getrieben werden vom 27.06.2015. Aber auch hier scheint jetzt Entspannung angesagt: ver.di und Charité einigen sich auf Eckpunktepapier zu einem Tarifvertrag Gesundheit und Demographie – Streik wird ausgesetzt, so ist eine Pressemitteilung der „Aktion für Patientensicherheit“ überschrieben.

Der Mitteilung kann man die Umrisse des folgenden Ergebnisses entnehmen:

»ver.di und Charité haben sich darüber verständigt Regelungen zur Reduzierung der Arbeitsbelastung in allen Arbeitsbereichen festzulegen.
Der Tarifvertrag soll einen Maßnahmenkatalog enthalten, mit dem belastende Arbeitssituationen abgestellt werden sollen. Es werden für alle Berufsgruppen Kriterien definiert, an Hand derer Belastungen identifiziert werden.
Für die Intensivstationen und die Kinderklinik soll eine Quote festgelegt werden. Auch für die Normalpflege sollen Mindestbesetzungsstandards gelten.
Wenn Belastungssituation durch die Beschäftigten angezeigt und die Personalmindeststandards unterschritten werden, soll die Charité tarifvertraglich verpflichtet werden Maßnahmen zur Entlastung einzuleiten. Hierzu gehören ausdrücklich auch Einschränkungen des Arbeitsvolumens.«

Dem Papier zufolge soll etwa eine Schwester auf der Intensivstation nur noch zwei statt im Schnitt vier Patienten betreuen müssen.

Offensichtlich hat der Streik seine Wirkung nicht verfehlt: Seit dem 22. Juni waren täglich hunderte Mitarbeiter in den Arbeitskampf getreten, weil sie mehr Personal in der Pflege forderten. Laut ver.di gab es allein im ersten Halbjahr 2015 rund 800 „Gefährdungsanzeigen“ durch Schwestern und Pfleger. Um die 1.000 Betten – rund ein Drittel – blieben durch den Streik leer, täglich fielen 200 Operationen aus. Das hat der Charité sicher sehr weh getan.

Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der unbefristet angesetzte Pflegestreik an der Berliner Charité sicher eine enorme Bedeutung hat und man später vielleicht einmal von einer wichtigen Initialzündung für die Pflegeberufe sprechen wird. Aber die Ausgangslage für die Streikenden war und ist mehr als schwierig, denn auch wenn das eigene Unternehmen, also die Charité, von dem Arbeitskampf wirtschaftlich hart getroffen wurde durch die damit verbundenen Einnahmeausfälle, so muss doch auch gesehen werden, dass es sich um eine isolierte Aktion in einem zugegeben sehr großen Klinikkonzern gehandelt hat, der aber nicht wirklich die gesamte oder zumindest große Teile der Krankenhauslandschaft berührt, denn die anderen Kliniken waren weiter am Netz.

Insofern sind die Pflegekräfte mit einem nicht nur vergleichbaren, sondern angesichts der Bedeutung des Gutes Gesundheit bzw. Krankenversorgung sogar weitaus komplexeren Problem konfrontiert, mit dem sich bereits die streikenden Erzieher/innen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen auseinandersetzen mussten: Die unmittelbaren Streikfolgen treffen erst einmal Dritte, weniger also die Arbeitgeber selbst als denn die „Kunden“ oder Patienten. Und die kann man nach einer bestimmten Dauer gut in Stellung bringen gegen die Arbeitskampfmaßnahmen. Letztendlich ist die Empfehlung der Schlichter im Kita-Streik auch so zu lesen, dass die Gewerkschaftsspitze jetzt so schnell wie möglich aus der selbst produzierten Nummer wieder herauskommen will, weil man gemerkt hat, dass die kommunalen Arbeitgeber hier durchaus sehr lange „toter Mann“ spielen können – nur hat man nicht damit gerechnet, dass die Basis dem mehr als enttäuschenden Schlichterspruch nicht wirklich folgen möchte (vgl. dazu den Blog-Beitrag Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Das Schlichtungsergebnis im Tarifstreit der Sozial- und Erziehungsdienste – ein echtes Dilemma für die Gewerkschaften vom 24.06.2015).

Die heute verkündete Basis für ein Aussetzen des Streiks ist zudem sehr wackelig: »Vorstandschef Karl Max Einhäupl erklärte, dass die Charité jetzt Wege finden muss, das zusätzliche Personal zu finanzieren … Mit ver.di sei man einig , dass die Politik grundsätzlich eine Verbesserung der Personalausstattung in Krankenhäusern erreichen müsse«, kann man dem Artikel Charité: Pflege-Streik wird ausgesetzt entnehmen. Man müsse nun die Frage beantworten, wie die Klinik die personelle Aufstockung finanzieren könne, sagte Charité-Chef Karl Max Einhäupl, da das Finanzierungssystem dies nicht hergebe. Der Charité-Vorstand geht gegenüber Krankenkassen und Senat quasi in Vorleistung. Das ist tatsächlich ein veritables Problem, denn das bestehende Vergütungssystem von Fallpauschalen auf Basis von DRGs sieht eine solche Abweichung nach oben für ein einzelnes Krankenhaus – anders als zu Zeiten von krankenhausindividuell vereinbarten tagesgleichen Pflegesätzen, wo das grundsätzlich möglich gewesen wäre – nicht vor. Insofern ist der Verweis auf „die“ Politik in diesem Fall nicht von der Hand zu weisen.

Hannes Heine hat in seinem Artikel Der Streik an der Charité wird ausgesetzt einen weiteren wunden Punkt angesprochen: Für die Pflegekräfte ist das Aussetzen des Streiks ein Erfolg: Es soll mehr Personal geben. Aber: »Nächstes Problem: Woher soll es kommen? … Selbst wenn man die einst als Maximalzahl diskutierten 600 Zusatzpflegekräfte wollte – der Arbeitsmarkt gebe sie derzeit nicht her.«

Diese Punkte werden sicher alle in den kommenden Wochen und Monaten diskutiert. Zuerst einmal sollte man sich freuen, dass der erste unbefristete Pflegestreik nicht zu einem Desaster geführt hat. Und man sollte wahrscheinlich auch nicht unterschätzen, dass das erhebliche Auswirkungen haben kann auf die Bereitschaft der Pflegekräfte, sich zu organisieren und in der Zukunft auch einen wesentlich breiter angelegten Arbeitskampf zu wagen.

Pflegestreik! Ist da was? Nicht nur mediale Resonanzschwächen. Die Streikenden an der Charité in Berlin könnten in die GDL-Falle getrieben werden

Eine zugegeben sehr zugespitzte Zusammenfassung der jüngeren deutschen Streikgeschichte könnte so aufgebaut sein:

Streik der Lufhansa-Piloten? Die wollen sich doch nur ihren Ruhestand weiter vergolden lassen und die Passagiere hängen am Boden fest.

Lokführer-Streik? Ein größenwahnsinnig gewordener sächsischer Möchtegern-Arbeiterführer nimmt Millionen Bahnkunden in tagelange Geiselhaft und vergewaltigt unser Grundrecht auf Mobilität.

Kita-Streik? Auch wenn man grundsätzlich schon irgendwie Verständnis hat – aber unbefristete Streikaktionen? Die armen Kinder und ihre Eltern werden zu bedauernswerten Opfern des Streiks der Erzieher/innen, während die Arbeitgeber irgendwie auf Tauchstation waren und aus dem Blickfeld der Berichterstattung verschwunden sind.

Pflegestreik? Äh, wie bitte? Nächstes Thema.

Es ist schon mehr als auffällig, wie gedämpft die Berichterstattung über den unbefristeten Streik des Pflegepersonals an der Berliner Charité abläuft. Dabei ist dieser Arbeitskampf so irritierend anders als das, was man ansonsten so vorgesetzt bekommt: Die Pflegekräfte wagen mit einem Streik einen Schritt, vor dem bislang zurückgeschreckt wurde, denn sie haben sogar noch weitaus heftiger als die Erzieher/innen in den Kitas ein strukturelles Streikproblem: Sie legen nicht die Produktion von irgendwelchen Sachen eines Unternehmens lahm oder blockieren die Dienstleistung eines anderen (wie beispielsweise beim gerade laufenden Streik der Brief- und Paketzusteller der Deutschen Post), sondern von ihrer Nicht-Arbeit werden zuallerst einmal (potenzielle) Patienten getroffen, bei denen beispielsweise eine vorgesehene OP verschoben werden muss oder gar ausfällt. Was aber bei diesem Streik noch weitaus wichtiger ist – er hat seine ganz eigene „moralische Ökonomie“, denn die Streikenden fordern nicht (scheinbar) egoistisch mehr Geld, sondern sie wollen mehr Personal erkämpfen, weil sie sich überlastet fühlen und es oftmals auch sind. Und das müsste doch auch im Interesse der (potenziellen) Patienten sein. Gab es nicht in den letzten Jahren immer wieder Berichte über die mehr als kritische Personalsituation in den deutschen Krankenhäusern, mit denen letztendlich auch existenzielle Gefahren für die Patienten verbunden sein können? Das müssten doch alles Ingredienzien sein für eine breite Sympathiewelle den streikenden Pflegekräften gegenüber. Doch die derzeitige Lage ist eine andere, man kann es drehen und wenden, wie man will. Und demnächst könnte den Pflegekräften an der Charité ein perfide inszenierter „GDL- oder Weselsky-Effekt“ ins Haus stehen – im Hintergrund vorangetrieben von der Gegenseite.

Beim Lokführer-Streik war es überaus erfolgreich gelungen, große Teile der Bevölkerung gegen die Gewerkschaft GDL aufzubringen und eine grandiose negative Personalisierung in Gestalt des Herrn Weselsky aufzubauen. Das ist nicht von alleine gekommen, sondern der Vorstand des in Bundesbesitz befindlichen Unternehmens Deutsche Bahn hatte sich dafür professioneller Hilfe bedient. Darüber hat Werner Rügemer im März dieses Jahres in seinem Beitrag DB im GdL-Streik: „Bewusst eine Sackgasse herbeiführen“ berichtet. Und dabei spielt ein bestimmter Name eine wichtige Rolle:

»Wenn der Bahn-Vorstand mit Gewerkschaften verhandelt, ist Werner Bayreuther dabei. Er ist Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverband der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister (Agv-MoVe). Er gehört aber auch zum Team des Schranner Negotiation Institute (SNI) in Zürich.«

Das muss man jetzt erst einmal sortieren: Werner Bayreuther war Richter für Arbeitsrechter. Er ist aus dieser Position ausgeschieden, um eine andere Karriere zu beginnen. »Er baute für den privatisierten Bahn-Konzern den eigenen Arbeitgeberverband auf, in dem die zahlreichen Tochter-Holdings Mitglied sind: DB Schenker, DB Regio, DB Netz usw.« Es handelt sich um den Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister (Agv MoVe), dessen Hauptgeschäftsführer er ist. Zugleich ist er verwandelt mit dem Schranner Negotiations Institute (SNI) in Zürich. Jetzt wird es richtig bunt. Werner Rügemer schreibt zum SNI:

»Das SNI arbeitet weltweit im Auftrag von Unternehmen und Regierungen, nach dem Motto „Wenn Verhandlungen schwierig werden“. Die Berater sind allgegenwärtig, bleiben aber unsichtbar: „Wir unterstützen Sie im Hintergrund vor, während und nach Ihren Verhandlungen.“
SNI versteht sich nicht als Schlichter. Der Kunde soll am Ende als „Sieger“ und die andere Seite als „Verlierer“ dastehen: „Mit unserer Unterstützung werden Sie Verhandlungssieger.“ Intern heißt es „Es gibt bei Verhandlungen keine win-win-Situation“.«

Offensichtlich handelt es sich um ein überaus buntscheckig zusammengesetztes Beratungsunternehmen für Konzerne und Regierungen: »SNI preist seinen Trainer Leo Martin so an: Er war „10 Jahre lang für einen großen deutschen Nachrichtendienst im Einsatz.“ Sein Spezialgebiet war das Anwerben und Führen von V-Leuten … Zum SNI-Angebot gehören auch „Verhandlungstaktiken von Polizei und FBI“. Der langjährige Chef der Münchener Mordkommission Josef Wilfing ist ebenso dabei wie Gary Noesner vom FBI. SNI-Chef Matthias Schranner präsentiert sich als ehemaliger Verhandlungsführer der Polizei bei Geiselnahmen und Banküberfällen«, so Rügemer in seinem Artikel.

Wer Interesse an einer direkten Konfrontation mit dem SNI-Chef und seiner Denke hat, der sei auf diese Gesprächssendung des Bayerischen Rundfunks mit ihm hingewiesen: Matthias Schranner, Verhandlungsexperte (19.03.2015).

Werner Rügemer zählt die SNI mit Sitz in Zürich zur Dienstleistungsbranche „Union Busting“. Union Busting heißt „Gewerkschaften zerstören“. Diese Tätigkeit ist in den USA als professionelle Dienstleistungsbranche etabliert. Sie besteht aus Anwälten, Detektiven, Psychologen, Management-Trainern, Lobbyisten, gelben Gewerkschaften, die mit der Unternehmensleitung zusammenarbeiten.

»Das Schranner Negotiations Institute SNI gehört ebenso zur Branche wie Arbeitsrechts-Anwälte, die grundsätzlich nur die Arbeitgeberseite vertreten. In Deutschland sind das etwa die Rambo-Anwälte der Kanzleien Helmut Naujoks und Schreiner + Partner, aber auch die diskreten Anwälte von US-Kanzleien wie Freshfields und Hogan Lovells. Als Staranwalt für die Verhinderung von Streiks in Deutschland gilt Thomas Ubber von der Kanzlei Allen & Overy: Er vertrat Fraport gegen die Gewerkschaft der Fluglotsen (GdF) und die Lufthansa gegen die Vereinigung Cockpit (VC). Der Bahn-Konzern beauftragt ihn jedesmal gegen die GdL wie zuletzt im November 2014.«

Übrigens – das SNI überlässt nichts dem Zufall, man hat für alle Perspektiven geeignete Fachkräfte an Bord: Auch »Stefan Schneider (gehört) zum SNI-Team. Schneider war lange Jahre Betriebsrat bei Daimler und Verhandlungsführer der IG Metall. Danach wechselte er die Seite und stieg zum Personalleiter auf. Jetzt ist er als selbständiger Manager-Berater tätig. Seine Qualifikation: Er „kennt die Motivlage von Betriebsräten und Gewerkschaften“.«

Und zu dieser illustren Runde gehört nach Rügemer eben auch Werner Bayreuther: Auf der Website des SNI wird Bayreuther angepriesen: „Er hat die Deutsche Bahn in der Verhandlung mit der GdL beraten und aktiv unterstützt.“ Und der eine oder andere wird gewisse Analogien zur jüngeren Streikgeschichte herstellen können, wenn man beispielsweise die folgende Beschreibung der SNI-Methodik liest:

»Eine strategisch angelegte Verhandlung hat nach SNI-Prinzipien auch das mögliche Ziel, den Gegenüber „bewusst in eine Sackgasse“ zu manövrieren. Zum Beispiel: Man macht einige Zugeständnisse, der Streik wird abgebrochen, aber die eigentlichen Verhandlungen stehen noch aus. Nach zwei Monaten, wenn die Verhandlungen wieder beginnen, wird die frühere Vereinbarung widerrufen. Die Gewerkschaft muss überlegen, ob sie neu streiken soll.«

Nun wird der eine oder die andere sagen, gut, interessant, schlimme Sache für die Arbeitnehmer, wenn sie bzw. deren Repräsentanten es mit dieser Liga zu tun bekommen, aber was hat das nun mit dem Pflegestreik an der Charité zu tun? Man wird sehen – die Welt ist klein.
Dazu werfen wir einen Blick in diesen Artikel: Charité-Streik: Ein Mann für gewisse Verhandlungen. Dort finden wir den folgenden Passus:

»Schon lange verhandeln die Vertreter von ver.di über die dringend notwendige Einstellung von Personal an der Charité. Ihnen gegenüber sitzen Leute wie der ärztliche Direktor Prof. Ulrich Frei, zuvor Arzt für Innere Medizin. Doch geleitet werden die Verhandlungen von einem Mann, der nie in einem Krankenhaus gearbeitet hat: Der Charité-Vorstand hat als Verhandlungsführer für viel Geld den früheren Richter Werner Bayreuther angeworben.«

Da ist er wieder. Und die Verfasser des Artikels erkennen sehr wohl, welchen Zusammenhang es geben könnte zwischen Bayreuthers Rolle beim GDL-Streik und der möglicherweise von ihm erhofften Dienstleistung seitens der Unternehmensleitung der Charité:

»Im Konflikt mit der GDL benutzte die Deutsche Bahn unter Bayreuthers Verhandlungsführung im Dezember 2014 einen besonders miesen Trick: Sie veröffentlichte eine Erklärung, in der sie das Recht der GDL anerkannte, für alle Arbeitnehmergruppen Tarifverträge abzuschließen. Genau das war monatelang eine zentrale Forderung der GDL. Die Gewerkschaft will die Erfolge, die sie für Lokführer erstreikt hatte, auch für Zugbegleiter und andere erreichen. Doch das Zugeständnis war gar keines: Eine einseitig abgegebene Erklärung ist juristisch kein Vertrag zwischen beiden Tarifparteien und damit rechtlich bedeutungslos. Während die Beschäftigten ihren Sieg feierten, bereiteten Bayreuther und die Deutsche Bahn ihre nächsten Schritte vor: Ab Januar nahmen sie sämtliche Punkte ihrer Erklärung Schritt für Schritt zurück und sprachen der GDL wieder das Recht ab, Tarifverträge für Zugbegleiter auszuhandeln. Als die Gewerkschaft schließlich erneut streikte, behauptete die Deutsche Bahn wiederum, sie hätte schon große Zugeständnisse gemacht und die GDL streike nur, weil ihr Vorsitzender Claus Weselsky ein eingebildeter Wichtigtuer sei.«

Nun muss man eigentlich nur noch eins und eins addieren, um eine mögliche Strategie des Unternehmens zu erkennen: Auf einmal sind die Repräsentanten, vor allem der Vorstandvorsitzende der Charité, Karl Max Einhäupl, überall, wo sich ihnen die Gelegenheit bietet, unterwegs mit dem besorgten Hinweis auf das gefährdete „Patientenwohl“ und dass die Streikenden das jetzt elementar gefährden würden (wobei dann gerne „vergessen“ wird, dass diese Positionierungen in den vergangenen Jahren bei den vielen Überlastungsanzeigen der eigenen Beschäftigten „natürlich“ nicht zu vernehmen waren). Die Bevölkerung muss gegen den Streik aufgebracht werden und dabei muss die „Schuldfrage“ einseitig an die Streikenden zugewiesen werden. Man kann sich eine Adaption des GDL-Musters gut vorstellen, „leider“ fehlt den Strategen hier noch so eine „mediengängige“ Anti-Figur wie Weselsky.

Man muss an dieser Stelle wieder einmal darauf hinweisen, dass es sich die Pflegekräfte wahrlich nicht leicht gemacht haben, bevor sie in den Arbeitskampf gegangen sind. Die Gewerkschaft Verdi hat seit mehr als zweieinhalb Jahren mit der Klinikleitung über eine Mindestbesetzung verhandelt, die die Gewerkschaft in einem Tarifvertrag festhalten will. Kein Ergebnis. Und aus dem jetzt vorgetragenen Argument mit einer Gefährdung des „Patientenwohls“ wird ein Schuh. So schreibt Claudia Wrobel in ihrem Artikel unter der bezeichnenden Überschrift Patientengefährdung:

»Die Pflegekräfte sehen durch den schlechten Personalschlüssel und den hohen Einsatz von Leiharbeitern die Standards nicht mehr eingehalten und deshalb die Sicherheit der Patienten gefährdet. Deshalb verhandelt ver.di seit mehr als zweieinhalb Jahren mit der Klinikleitung über eine Mindestbesetzung, die die Gewerkschaft in einem Tarifvertrag festhalten will. Unter anderem fordern sie, dass nachts auf jeder Station mindestens zwei Kollegen Dienst tun und für Intensivstationen einen Betreuungsschlüssel von einer Fachkraft für zwei Patienten. Damit orientiert sich ver.di an Empfehlungen der Fachgesellschaften. Außerdem möchte die Gewerkschaft verbindliche Verfahren zum Erfassen von Überlastungssituationen.«

Das nun sind keine wie auch immer geartete revolutionäre Forderungen, sondern im Grunde fordern die Streikenden hier die Einhaltung einer Schutzgrenze nach unten – und die hätte, wenn es denn wirklich um „Patientenwohl“ gehen würde, schon längst von Klinik wie auch verantwortlicher Politik sichergestellt werden müssen. Offensichtlich versuchen die Streikenden, ein Systemversagen zu kompensieren. Das muss man sich immer wieder vor Augen führen.

Dazu past dann beispielsweise eine solche Meldung aus der Berliner Zeitung vom 27.06.2015: Patientenschützer kritisieren Sparkurs in der Krankenpflege: »An Berliner Krankenhäusern wird nach Einschätzung von Patientenschützern immer mehr auf Kosten des Pflegepersonals gespart. Zwischen Ärzten und Pflegern habe sich ein Missverhältnis entwickelt: Von 1991 bis 2013 stieg die Zahl der Ärzte an Kliniken um 14 Prozent. Dagegen gab es bei den Pflegern im gleichen Zeitraum einen Rückgang um rund ein Drittel. Dabei lägen inzwischen mehr alte und pflegebedürftige Menschen auf den Stationen … Der Pfleger-Schwund von rund 19.700 auf 12.900 Kräfte ist in Berlin … so ausgeprägt wie in keinem anderen Bundesland. Ein deutschlandweit verbindlicher Personalschlüssel würde diese Entwicklung stoppen, so die Stiftung. Solche festen Quoten will die Gewerkschaft Verdi mit dem Streik an der Charité durchsetzen.« Vgl. dazu auch Statistik: Krise in Kliniken ist hausgemacht – bundesweiter Personalschlüssel nötig, dort kann man die Übersicht über alle Bundesländer als Datei abrufen.

Aber was sind schon Fakten – wir werden möglicherweise bald schon gewisse Elemente der SNI-Methoden zu sehen, hören und lesen bekommen. Und wenn man nicht aufpasst, werden die Pflegekräfte auf die GDL-Rutschbahn geschoben. Das muss verhindert werden, nicht nur im Interesse der Streikenden, sondern auch der (potenziellen) Patienten. Dafür braucht es Solidarität mit dem Pflegepersonal, das sich traut, nicht mehr nur zu schlucken und zu funktionieren, bis sich die Folgen der strukturellen Überbelastung als individuelle Schicksale atomisieren lassen.