Die Großen fehlen, die Kleinen bleiben auf der Strecke. Personalnot (nicht nur) in den Jugendämtern in Berlin

Es gibt ja seit Jahren eine kontroverse Debatte über „den“ Fachkräftemangel. Die einen belegen einen solchen massiv und dass das immer schlimmer werde, die anderen melden Skepsis und Zweifel an, ob es einen solchen wirklich gibt oder wir nicht eher Zeuge des nachvollziehbaren,  aber eben auch sehr einseitigen Wehgeklages der Arbeitgeber sind, die veränderte Angebots-Nachfrage-Bedingungen auf den Arbeitsmärkten zu spüren bekommen.

Aber es gibt einen real existierenden Fachkräftemangel in bestimmten Bereich a) definitiv schon heute und b) mit fatalen Folgewirkungen auf andere, in diesem Fall schutzbedürftige Menschen: In vielen Jugendämtern. Und wenn wir von Jugendämtern sprechen, dann geht es nicht um irgendwelche Aktenproduktionsanlagen und Stempelverwaltungsenklaven, sondern um Institutionen der Daseinsvorsorge, die es mit vielen Dilemmata zu tun haben in ihrer täglichen Arbeit – man denke nur an den Teilbereich der Gefahr für das Kindeswohl, wo bei den konkreten Fällen die einen oftmals den Jugendämtern vorwerfen, sie haben zu spät oder gar nicht interveniert, die anderen aber Jugendämter als „Kinderklaubehörden“ anklagen, weil sie angeblich zu Unrecht Kinder aus Familien geholt haben.

Ein Hotspot des seit Jahren immer wieder beklagten Fachkräftemangels und der schieren Personalnot sind die Jugendämter in Berlin. In diesen Tagen werden wir Zeuge dieser unendlich daherkommenden Fortsetzungsgeschichte. 

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Die Herstellung einer Jugendhilfe zweiter Klasse über die minderjährigen Flüchtlinge? Und wenn man schon dabei ist …

Die Kinder- und Jugendhilfe ist eine eigene Welt – auch und gerade für die Politik und die „Kostenträger“, wie das bei uns so heißt. Es handelt sich auf der einen Seite um kommunalisierte Systeme und damit allein ist schon eine erhebliche Varianz der Angebote und der Bedingungen verbunden. Die Länder spielen mit und auf der Bundesebene gibt es als großen Rahmen eines der (noch) „schönsten“ Sozialgesetzbücher. Das SGB VIII, das Kinder- und Jugendhilferecht. „Schön“ deshalb, weil hier zum einen tatsächlich anders als in anderen Sozialgesetzbüchern (noch) zahlreiche individuelle Rechtsansprüche auf bestimmte Hilfen und Leistungen normiert sind, zum anderen wegen der Konzeption als ein umfassend von den Kindern, Jugendlichen und ihren Familien ausgehendes Regelwerk, dass eben nicht nur auf einen defizitfokussierten Ansatz der Hilfe, wenn es nicht mehr anders geht, eingeengt ist. Folglich nehmen Beratung und andere Angebote einen entsprechenden Raum ein.

Das alles ist verbunden mit einer hohen Fachlichkeit, sowohl auf Seiten des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe, also den Jugendämtern, wie auch bei den vielen Jugendhilfeanbietern, oftmals in freigemeinnütziger Trägerschaft, wobei auch hier und in Teilbereichen zunehmend privatgewerbliche Anbieter anzutreffen sind.

Das kostet. Und die Kosten fallen überwiegend auf der kommunalen Ebene an. Man kann sich vorstellen, dass in Verbindung mit der Tatsache, dass individuelle Rechtsansprüche eine Sperre gegen budgetbedingte Einsparungen darstellen, große Anreize gegeben sind, nach Möglichkeiten zu suchen, Aufgabenanstiege schon im bestehenden System zu begrenzen.

Das gilt natürlich erst recht, wenn neue und zusätzliche Klienten im bestehenden System aufschlagen. Und genau das ist passiert mit den „unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland gekommen sind – und für die nun das Jugendhilfesystem zuständig ist. Mit allen (dort noch) hohen Standards und daraus resultierenden Kosten. Wir ahnen schon, wohin die Vorrede führen wird.

Denn die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die nach Deutschland eingereist sind und nun versorgt, betreut und ggfs. auch behandelt werden müssen – und das nach den Standards der Kinder- und Jugendhilfe, die bis heute (noch) hoch sind -, kosten eine Menge Geld. Und da überrascht es nicht, wenn Kostenträger auf den Gedanken kommen, die Ausgaben für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge nach unten zu drücken – auch vor dem Hintergrund, dass die Legitimation für eine solche Absenkung bei der Gruppe der Flüchtlinge einfacher erscheint aufgrund des gesellschaftlichen Klimas, als wenn man mit einem generellen Angriff auf die Standards beginnen würde, von dem alle Kinder und Jugendlichen betroffen wären. Um das zu erreichen, muss man ihre automatische Einbettung in das bestehende Kinder- und Jugendhilfssystem aber erst einmal aufbrechen.

Genau das war das Anliegen eines Vorstoßes des Landes Bayern bei der Ministerpräsidentenkonferenz, dem Treffen aller Länderchefs, die Ende Oktober in Rostock stattgefunden hat. Und von vielen nicht erwartet hat sich Bayern offensichtlich durchgesetzt, denn hinsichtlich des Ergebnisses wird uns mitgeteilt:

»Die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder bitten die Bundesregierung im Dialog mit den Ländern, rechtliche Regelungen für die Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu erarbeiten. Hierbei sollen die Steuerungsmöglichkeiten verbessert und die Kostendynamik begrenzt werden. Dabei soll auch die Leistungsart „Jugendwohnen“ bei den Vorschriften zur Jugendsozialarbeit nunmehr explizit beschrieben werden.« (vgl. Sellering und Haseloff informieren über Ergebnisse der MPK, 28.10.2016).

Der Beschluss wurde übrigens einstimmig gefasst.

»Die Länderchefs fordern ein Sondergesetz zur Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Jugendhilfe-Verbände zeigen sich empört» – so beginnt der Artikel Jugendhilfe zweiter Klasse von Kaija Kutter, die das ausgereift, was da beschlossen wurde.

Als die rund 50.000 unbegleiteten jungen Flüchtlinge im vergangen Jahr bundesweit verteilt wurden, gab es für sie vielerorts nur Provisorien und keine Unterbringung nach Jugendhilfe-Standard. Was die Länder jetzt wollen, ist eine dauerhafte Sonderregelung für diesen Personenkreis, schreibt Kutter.

Wir aber will man die Absenkung der („teuren“) Standards in der Jugendhilfe umsetzen? Der entscheidende Begriff ist das „Jugendwohnen“ – und den kann man sozialtechnokratisch und mit erheblichen praktischen Auswirkungen auch übersetzen als erhebliche Absenkung des Personalschlüssels:

»Anders als in Heimen, wo ein Fachkraft-Kind-Schlüssel von eins zu vier oder fünf die Regel ist, ist das Jugendwohnen im Rahmen der Jugendsozialarbeit schon mit einem Schlüssel von eins zu zehn oder gar eins zu 40 zulässig.«

Übrigens: Der ursprüngliche Beschlussvorschlag des Landes Bayern ging sogar noch weiter. Bayern wollte dem „Jugendwohnen“ im Rahmen der Jugendsozialarbeit im Gesetz „Vorrang“ vor anderen Hilfsangeboten einräumen. Der Vorrang-Begriff zumindest konnte verhindert werden.

Faktisch bedeutet der Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz, dass für junge alleinreisende Flüchtlinge schlechtere Standards gelten sollen als für inländische Jugendliche. Sonst bräuchte man keine entsprechenden eigenen Regelungen im SGB VIII.

Und nicht vergessen werden sollte das Kleingedruckte: »Die unionsregierten Länder Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Saarland, Sachsen und Sachsen-Anhalt setzen noch eine Protokoll-Notiz hinzu … So sollten Länder die Möglichkeit bekommen, „Landesrahmenverträge mit den kommunalen Spitzenverbänden und den Leistungserbringern“ zur Finanzierung von Maßnahmen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge abzuschließen. Dabei sollen die Vereinbarungen der örtlichen Träger diesen Rahmenvereinbarungen entsprechen. Und weiter: Zudem ist gesetzlich sicherzustellen, dass sich die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe „im Regelfall“ auf Minderjährige konzentrieren.«

Wo liegt der Unterschied zwischen einem 16-jährigen deutschen Jungen, der keine fürsorgenden Eltern hat, und einem allein geflüchteten aus einem anderen Land? Diese Frage stellt Kaija Kutter in ihrem Kommentar Recht nach Herkunft. Die Antwort aus fachlicher Sicht ist einfach: »Beide haben Anspruch auf geeignete Hilfe. Sei es eine gut betreute Jugendwohnung oder – falls es sie gibt – eine nette Pflegefamilie, in die er gut passt.« Genau das soll jetzt offenbar aufgebrochen werden. Dazu Kutter:

»Was die Ministerpräsidenten offenbar wollen, was aber nicht geht, ist ein abweichendes Recht je nach Herkunft der Kinder. Beispielsweise ein schlechter betreutes Jugendwohnen als billiges Angebot für junge Geflüchtete. Das verstößt gegen das Diskriminierungsverbot. Man darf gespannt sein, wie die Familienministerin ein solches Gesetz ausgestalten wird.«

Aber sie sieht selbst die mögliche „Weiterentwicklung“ des Sparkonzepts am Horizont, sollte es bei der selektiven Herausnahme der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge irgendwelche Schwierigkeiten geben: So »gibt es auch die Idee, die Ansprüche aller jungen Volljährigen zu kappen, also sowohl die der bereits hier in Deutschland geborenen, als auch die der nach Deutschland geflüchteten. Sie sollen, so die Linie der CDU-geführten Länder in der Protokollnotiz der Ministerpräsidentenkonferenz, nicht mehr regelhaft unter das Kinder- und Jugendhilfegesetz fallen.«

In diese Richtung würde auch passen, was bereits aus dem Koalitionsausschuss am 6. Oktober 2016 berichtet worden ist:

»Bei der Pressekonferenz zum Treffen des Koalitionsausschusses am 6. Oktober erklärt die Vorsitzende der CSU Landesgruppe Gerda Hasselfeldt, man habe sich aus Kostengründen darauf geeinigt, dass die Länder eine zusätzliche Kompetenz erhalten sollen, um über Inhalt und Umfang der Leistungen der Kinder – und Jugendhilfe in ihrem Bundesland zu bestimmen. Dies soll insbesondere bei Leistungen an unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sowie an junge Volljährige gelten. Damit wird der Weg für die seit langem von einigen Bundesländern geforderte Gesetzesänderung zum sog. Ländervorbehalt geöffnet.« (vgl. Jugendhilfe zweiter Klasse: Einigung zu Kosteneinsparungen bei jungen Flüchtlingen auf dem Weg, 13.10.2016)

Darum geht es wohl in Wirklichkeit – man hat ein Einfallstor gesucht und gefunden, um eine generelle weitere Föderalisierung des  Jugendhilferechts zu erreichen. Und das beißt die Maus keinen Faden ab – Kostensenkungen kann man nur erreichen, in dem man die Standards und die damit verbundenen Finanzbedarfe nach unten drückt.

Dietrich Mittler bringt das in der Überschrift seines Artikels auf den Punkt: Betreuung soll billiger werden.  Es gehe darum, „die Steuerungsmöglichkeiten zu verbessern und die Kostendynamik zu begrenzen“, wird ein Sprecher der bayerischen Staatskanzlei zitiert. Die Länder müssten die Möglichkeit bekommen, „die Kosten für die Jugendhilfe-Maßnahmen mit steuern zu können“. Bislang seien ihre Einwirkungsmöglichkeiten „äußerst begrenzt“. Technokratisch daherkommend, es geht auch handfester, so beispielsweise von Seiten der bayerischen Sozialministerin Emilia Müller:

„Wir wollen steuern können, welcher junge Mensch welche Hilfe vom Staat bekommt.“ Es gleicht einer Kampfansage, wenn sie sagt: „In vielen Fällen braucht es zum Beispiel keine heilpädagogische Rundum-Betreuung, andere Hilfsangebote sind passgenauer und weniger aufwendig.“

Da läuft er mit, der Verdacht gegen die Träger von Jugendhilfemaßnahmen,  dass Jugendhilfe-Einrichtungen auch jenen jungen Flüchtlingen das teuere Vollprogramm zugute kommen lassen, die es gar nicht brauchen. Belege für diesen Verdacht? Fehlanzeige. Und man sollte an dieser Stelle daran erinnern dürfen – nicht die Träger, sondern die Jugendämter bestimmen, wer welche Jugendhilfe-Maßnahme benötigt.

Die betroffenen Organisationen selbst legen Zahlen vor, die ihre eigene Sprache sprechen:

Unter dem Dach von evangelischen und katholischen Jugendhilfeträgern in Bayern befinden sich »gut 4.600 unbegleitete jugendliche Flüchtlinge, davon 1.793 in Wohngruppen mit erhöhtem Betreuungsaufwand. Fast 3.000 indes seien bereits in Wohnformen untergebracht, in denen die Betreuungsleistungen gering und damit kostengünstig seien. Dies sei dem Sozialministerium bekannt.« Aber wen interessieren schon Fakten.

Der Hintergrund verweist erneut aus den monetären Aspekt, wenn man berücksichtigt, dass in den kostenintensiven heilpädagogischen Wohngruppen der Betreuungsaufwand besonders hoch ist. Die dort anfallenden Kosten liegen bei 125 bis 160 Euro pro Tag, bezogen auf den Freistaat Bayern. Michael Eibe, der Vorsitzende der Katholischen Erziehungshilfe in Bayern, weis darauf hin, dass gemeinsam mit den Jugendämtern schon heute sehr sorgfältig darauf geschaut wird, welcher der unbegleiteten Flüchtlinge mehr und welcher weniger Betreuungsaufwand braucht:Viele Jugendliche bräuchten nachweislich nur geringe Betreuungsmaßnahmen, deren Kosten sich um die 40 bis 45 Euro pro Tag bewegen. Das habe man dem Sozialministerium bereits mit fundierten Zahlen im Juni belegen können«, kann man dem Artikel Sozialverbände stellen sich vor junge Flüchtlinge entnehmen.

Die Antwort des bayerischen Ministeriums ist ein Zeugnis einer – nun ja – sehr grobschlächtigen Sicht auf Menschen: „Ein junger Mensch, der Wochen, wenn nicht gar Monate oder Jahre selbständig unterwegs war, braucht eine völlig andere Form der Unterstützung als zum Beispiel ein Jugendlicher, der aus schwierigen sozialen Verhältnissen in eine Einrichtung der Jugendhilfe kommt.“
Klar, wer es bis hierher geschafft hat, ist irgendwie tendenziell top fit im Vergleich zu den Multiproblem-Luschen aus unseren Reihen.

Aber wie gesagt, es geht ja nicht wirklich um die fachlich berechtigte Frage, welche Hilfen wann und wo für wen sinnvoll sein können. Es geht ums Geld. Dazu abschließend die bayerische Sozialministerin: „Der Staat, der für ein Angebot zahlt, muss auch Möglichkeiten haben, Einfluss darauf zu nehmen, was mit staatlichen Mitteln tatsächlich an Leistungen gewährt wird.“

Fazit: Wir erleben unter dem Deckmantel einer Sonderregelung für junge Flüchtlinge einen erneuten Vorstoß gegen die in der Vergangenheit erkämpften und erarbeiteten (hohen) Standards der Jugendhilfe, die ihren Preis haben, den man aber drücken will – und wir sehen die Ausweitung auf das gesamte SGB VIII (was das eigentliche Ziel sein wird) bereits in Umrissen erkennbar vor uns, wenn man an die aktuellen Überlegungen aus der Bundesregierung hinsichtlich der anstehenden gesetzlichen Neuregelung des SGB VIII denkt.

Wer sich aus einer fachlichen und damit inhaltlichen Perspektive für das Thema „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ interessiert, der sei hier neben den Informationen des Bundesfachverbands unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) auf diese beiden Schwerpunktausgaben von Jugendhilfe-Fachzeitschriften verwiesen, in denen die Bandbreite der Maßnahmen aufgezeigt wird:

Jugendhilfe-aktuell, Heft 2/2016: Schwerpunktthema: jung geflüchtet

Jugendhilfe-Report, Heft 1/2016: Schwerpunktthema: Kinder und Jugendliche mit Fluchthintergrund

Abschließend noch ein kurzer Verweis auf unser Nachbarland Österreich, denn auch dort gibt es unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Und auch dort gibt es eine Diskussion über den Umgang mit den jungen Menschen. Junge Flüchtlinge nur auf dem Papier gleichberechtigt, so hat Gudrun Springer ihren Artikel überschrieben. »Minderjährige ohne österreichische Staatsbürgerschaft und Staatenlose sind österreichischen Kindern also in Bezug auf Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe gleichgestellt – das besagt ein Gutachten von Karl Weber und Michael Ganner von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck. Laut der Hilfsorganisation SOS Kinderdorf, die das Gutachten in Auftrag gegeben und am Mittwoch präsentiert hat, liegt hier aber vieles im Argen.«

Das angesprochene rechtswissenschaftliche Gutachten findet man hier:

Karl Weber, Stephanie Jicha und Michael Ganner (2016): Gutachten zu Rechtsproblemen von SOS-Kinderdorf – Österreich mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, Innsbruck, 27.10.2016

Auch in Österreich geht es um das Geld.

SOS Kinderdorf-Geschäftsführer Christian Moser: „Auf dem Papier hat zwar das Jugendamt die Obsorge übernommen, in der Realität bleiben asylwerbende Jugendliche aber weiterhin oft nur grundversorgt.“ Dem Innenministerium zufolge befinden sich derzeit österreichweit 5.500 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) in Österreich in Grundversorgung – zwar bei höherem Tagessatz als Erwachsene, dieser entspreche laut NGOs aber weitaus nicht dem, was für österreichische Kinder in Betreuungseinrichtungen aufgewendet werde. Grundversorgungsleistungen sollten laut Gutachten „die fundamentalen Lebensbedürfnisse“ abdecken, jene der Jugendhilfe „darauf aufbauend pädagogische Zielsetzungen beinhalten“.

Und die Probleme, die aus Österreich berichtet werden, kommen uns sehr bekannt vor:

»Bei Einrichtungen für österreichische Kinder liege etwa laut SOS Kinderdorf die durchschnittliche Zahl der betreuten Kinder bei acht bis zehn, bei UMF befänden sich aber oft 40 andere asylwerbende Jugendliche im gleichen Haus. Tausende wohnen laut Moser in Großquartieren. Außerdem würden Qualitätskontrollen durch die Behörden sowie der regelmäßige Kontakt zum zuständigen Sozialarbeiter fehlen.«

Immer das gleiche Muster.

Die Jugend: Ausbleibende Rebellion und alle wollen Mainstream sein. Aber ist das so? Und gibt’s die überhaupt, die Jugend?

Bereits die Überschriften verdeutlichen den Eindruck: Endlich mal wieder eine Nachricht über unsere Jugend, die man gut unter die Leute bringen kann als Erwachsener: Alle wollen Mainstream sein oder Die Rebellion bleibt aus, um nur zwei Beispiele zu zitieren.

Was ist passiert? »Noch nie seit der Nachkriegszeit ist die Jugend in Deutschland so wenig rebellisch wie heute gewesen. Zumindest sagt das die Sinus-Jugendstudie«, berichtet Johannes Leithäuser. Und Barbara Vorsamer sekundiert: »“Mainstream“ ist kein Schimpfwort mehr. Für die heute 14- bis 17-Jährigen ist es wichtig, Teil der Mehrheitsgesellschaft zu sein. Jugendliche „gehen“ nicht online, sie sind es – immer. Das Internet ist eine Selbstverständlichkeit für sie, das Sinus-Institut spricht von „digitaler Sättigung“.«

Strebsam, pragmatisch und fast schon überangepasst – so wird „die“ heutige Jugend typisiert. »Mehr noch als vor einigen Jahren wollten nun viele Jugendliche bewusst so sein „wie alle“. Die Mehrheit greife stärker als früher auf einen gemeinsamen Wertekanon zurück. Die Autoren stellen eine „gewachsene Sehnsucht nach Aufgehoben- und Akzeptiertsein“ fest sowie stärker als früher den Wunsch nach Geborgenheit, Halt und Orientierung in zunehmend unübersichtlichen Verhältnissen einer globalisierten Welt«, so Leithäuser in seinem Artikel.
»Der Wertekanon der jungen Menschen ist größtenteils identisch mit dem der Erwachsenen: Anpassungs- und Leistungsbereitschaft, stabile Beziehungen, Halt und Orientierung in der Gemeinschaft«, ergänzt Barbara Vorsamer in ihrem Beitrag.

Beide schöpfen aus einer neuen Studie mit dem Titel „Wie ticken Jugendliche 2016?“ des SINUS-Instituts (vgl. dazu auch die Pressemitteilung Neue SINUS-Jugendstudie: Die Jugend rückt zusammen). Die Sozialwissenschaftler haben bei den jungen Menschen eine „generelle Anpassungsbereitschaft und selbstverständliche Akzeptanz von Leistungsnormen und Sekundärtugenden“ gefunden und darauf sogleich ein neues Etikett geklebt: „Neo-Konventionalismus“, so nennen sie das. Deutschlands brave Jugend, so hat Matthias Kaufmann seinen Artikel über die Sinus-Studie überschrieben. Das wird all denen, die immer noch „der“ Jugend irgendwelche gesellschaftsverändernden Potenziale zuschreiben, endgültig den letzten Zahn ziehen.

Die zitierte Studie wird von der Bundeszentrale für politische Bildung, von kirchlichen Trägern und weiteren Stiftungen und Verbänden finanziert. Den Wissenschaftler interessiert natürlich vor allem, auf welcher Datengrundlage diese nun durch viele Medien geisternde Studie beruht. Und da muss man sogleich eine Menge Wasser in den „Studien“-Wein gießen. Dazu Johannes Leithäuser in seinem Artike

»Die Ergebnisse der Studie basieren auf langen und persönlichen Interviews mit 72 Teenagern aus verschiedenen Milieus, erläuterte Projektleiter Marc Calmbach. Die Forschung schätzt diese Methode wegen ihrer Tiefenschärfe als seriös ein, allerdings nicht als repräsentativ.«

Also 72 Tiefeninterviews mit Teenagern bilden die Basis für das, was nun überall als gesichertes Wissen in den Raum gestellt wird – aber dennoch schreiben fast alle Medien darüber ohne Hinweis auf die eben nicht repräsentative Datenbasis und vermitteln den Lesern den Eindruck, so tickt „die“ Jugend.

Das ist gelinde formuliert sehr sportlich bzw. anmaßend angesichts der Heterogenität der Gruppe, über die wir hier reden.

Einen Blick auf die junge Generation kann man auch auf einer anderen empirischen Basis werfen. Wie beispielsweise in der Shell Jugendstudie 2015. Die ist zum einen eine seit 1953 laufende Langzeitbeobachtung (mittlerweile liegt die 17. Shell-Jugendstudie vor), zum anderen basiert sie auf einer repräsentativ zusammengesetzten Stichprobe von 2.558 Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren aus den alten und neuen Bundesländern. Was schon mal eine andere Hausnummer ist. Wobei es inhaltlich einige Überschneidungen zwischen den Studien gibt – allein schon an der Begrifflichkeit ablesbar: „Eine pragmatische Generation“, so heißt das in der jüngsten Shell-Jugendstudie. Die aber „im Aufbruch“ sei:

»Im Vergleich zu den vorangegangenen Studien stellen die Autoren bei den Jugendlichen Anzeichen für einen Sinneswandel fest. Seit 2002 charakterisierte die Studie die Jugendlichen als „pragmatisch und unideologisch“. 2006 zeigte sich eine Kontinuität dieser Grundhaltung, jedoch mit steigender Unsicherheit, ob die Jungen und Mädchen ihr Leben tatsächlich so gestalten können, wie sie es sich wünschen. 2010 begannen die Druck- und Angstgefühle zu weichen. Der Optimismus für die persönliche Zukunft wuchs. Und: statt wie in den Vorjahren vor allem auf das eigene Leben und das private Umfeld zu sehen, zeigten Jugendliche wieder wachsendes politisches Interesse und Bereitschaft zum politischen Engagement. Dieser Trend hat sich 2015 deutlich verstärkt.«

Das hört sich doch alles rundum gut an. „Der“ Jugend geht es also gut und zugleich – man denke an dieser Stelle nur an die aktuelle Berichterstattung über die Lage auf dem Ausbildungsstellenmarkt, wird immer offensichtlicher, dass die jungen Menschen im Gefolge der demografischen Entwicklung immer mehr zu einem knappen Gut werden, was derzeit – im im Zusammenspiel mit gesellschaftlichen Wertewandelprozessen, Stichwort Hinwendung zu (formal) höheren Schuldabschlüssen und eine stärkere Orientierung auf Studium – Teilbereiche des dualen Berufsausbildungssystems schmerzhaft zu spüren bekommen, denn ihnen gehen schlichtweg die Bewerber aus.

Aber wie immer im Leben ist es dann doch komplizierter. Das könnte man aufzeigen an dem gerade erwähnten Thema „Lehrlingsmangel“, also den über 40.000 unbesetzten Ausbildungsstellen, die diese Tage in vielen Medienbeträgen beklagt werden. Schaut man genauer hin, dann wird man sehen, dass es gleichwohl auch eine andere, dunkle Seite der Medaille gibt mit nicht wenigen „unversorgten“ Bewerbern. Das aber ist ein eigenes Thema für einen eigenen Blog-Beitrag.

Wenn man mehr wissen möchte über „die“ Jugend und dabei Wert legt auf einen differenzierten Blick auf das, was sich in dieser großen Gruppe an unterschiedlichen Prozessen abspielt, dann lohnt ein (virtueller) Besuch des Deutschen Jugendinstituts, die sich den ganzen Tag mit diesen Fragen beschäftigen. In deren Arbeit werden dann auch deutlich mehr Schattenbereiche und Problemstellen erkennbar. Dafür verfügen die Forscher über ein ganz anderes Instrumentarium als einige Tiefeninterviews, beispielsweise „AID:A“ (die Abkürzung ist kein künstlerischer Versuch, sondern sie steht für „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“), ein Kinder-, Jugend- und Familiensurvey, mit einem Querschnitt- und Längsschnittdesign. Dabei werden die objektivierbaren Lebensverhältnisse von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ebenso erfasst wie subjektive Einstellungen; „weiche“ Faktoren wie individuelles Wohlbefinden stehen neben „harten“ Indikatoren wie Armutsrisiken oder dem (Nicht-)Erreichen schulischer Abschlüsse. Ein Übersicht über erste Befunde aus dem Survey 2015 findet man in dieser Veröffentlichung:

Sabine Walper / Walter Bien / Thomas Rauschenbach (Hrsg.): Aufwachsen in Deutschland heute. Erste Befunde aus dem DJI-Survey AID:A 2015. München 2015

Und natürlich darf an dieser Stelle auch nicht der Hinweis auf den in jeder Legislaturperiode zu erstellenden Kinder- und Jugendbericht fehlen. Der aktuellste, 14. Kinder- und Jugendbericht wurde 2013 veröffentlicht. Auch dort finden sich zahlreiche differenzierte Befunde.

Fazit: Die mediale Resonanz, die man diese Tage beobachten kann ausgehend von den Ergebnissen der „Sinus-Studie“, sollte mit zwei großen Fragezeichen versehen werden. Zum einen muss man einfach methodisch zur Kenntnis nehmen, dass das alles auf 72 Tiefen-Interviews mit Teenagern basiert, die für sich genommen sicher einen Eigenwert haben, die aber nicht wirklich geeignet sind, in der Berichterstattung darüber von „der“ Jugend zu sprechen. Das ist methodisch schlichtweg nicht zulässig, verführt aber angesichts der Tatsache, dass das so gemacht wird, zu dem Eindruck, mit „der“ Jugend sei alles in Ordnung und die werden sogar immer angepasster und konventioneller. Daraus resultiert das zweite Fragezeichen, ob man damit nicht – gleichsam als Kollateralschaden – den Blick vernebelt auf die unbestreitbar vorhandenen Teilgruppen an jungen Menschen, die unter erheblichen Restriktionen aufwachsen (müssen) und die oftmals mit „beschädigten“ Biografien in das Erwachsenenleben starten.

Dass es die gibt kann man – auch, aber nicht nur – an den extremen Rändern aufzeigen, vgl. dazu beispielsweise den Blog-Beitrag Durch alle Netze gefallen, vergessen und jetzt ein wenig angeleuchtet: Der Blick auf die „entkoppelten Jugendlichen“ vom 11. Juni 2015 sowie ergänzend das im November 2015 veröffentlichte Schwerpunktheft Abgewandt? Schwierig? Eigensinnig?! Jugendliche, die aus unserem Rahmen fallen von „dreizehn. Zeitschrift für Jugendsozialarbeit“.