In regelmäßigen Abständen wird man vor dem Bildschirm konfrontiert mit einer natürlich bedrohlich daherkommenden punktuellen Skandalisierung des Themas Jugendgewalt und generell Jugendkriminalität, nicht selten hinterlegt mit dem Hinweis auf eine überproportionale Beteiligung junger Menschen mit Migrationshintergrund und gerne mit einem besonderen Fokus auf die jugendlichen „Intensivtäter“, die ja auch tatsächlich schon früh eine „beeindruckende“ Liste an Straftaten aufweisen können. Vor kurzem war es wieder soweit. Eine ganze Packung wurde dem normalen Fernsehzuschauer serviert:
Am 19.11.2014 konnte man im ARD-Fernsehen Das Ende der Geduld sehen, eine fiktive Geschichte rund um die Jugendrichterin Corinna Kleist. Es handelt sich um die fiktionale Aufarbeitung der Geschichte der echten Jugendichterin Kirsten Heisig. Hinzu kam eine Dokumentation zum Themenabend: „Tod einer Richterin – Auf den Spuren von Kirsten Heisig“. Und damit das nicht alleine stehen bleibt, wurde an diesem Abend das Thema auch bei „Anne Will“ aufgerufen. Die Sendung wurde breit rezensiert, vgl. beispielsweise Wer stoppt die jungen Intensivtäter? oder Der Ausländer ist natürlich der Kriminelle. Katrin Hummel erinnert in ihrem Beitrag an Kirsten Heisig: »Die Berliner Jugendrichterin legte mit dem „Neuköllner Modell“ die Grundlage dafür, dass jugendliche Straftäter schneller vor Gericht gestellt werden. Sie ragte mit ihrer Vorgehensweise heraus und machte sich viele Feinde. Ihre eigenen Probleme blieben verborgen. 2010 nahm sie sich das Leben.« Das angesprochene „Neuköllner Modell“, das auf Heisig zurückgeht, soll zur effektiveren Strafverfolgung von jugendlichen Straftätern führen. Diese sollten sich bei kleineren Delikten in einem vereinfachten Jugendstrafverfahren möglichst schnell nach der Tat vor Gericht verantworten müssen. „Schnell“ meint meist drei bis fünf Wochen.
Die Ausgangsüberlegung der Richterin wird in diesem Zitat erkennbar: „Es kann nicht sein, dass ein 14-Jähriger vor mir steht, Käppi verkehrt rum aufm Kopf, Hände in den Hosentaschen, 60 Straftaten begangen. Und kaugummikauend sagt: Mir kann eh keiner was.“ Wer kann das nicht intuitiv nachvollziehen? Aber offensichtlich sieht die Umsetzungsrealität wieder einmal anders aus: Seit seiner Einführung im Jahr 2010 werde das beschleunigte Verfahren »nur selten angewendet: 2013 wurden 246 Jugendliche nach dem Neuköllner Modell verurteilt, das sind nur etwa ein Prozent der Gesamtzahl jugendlicher Tatverdächtiger in Berlin.« Eine neue Studie zum „Neuköllner Modell“, über die im September berichtet wurde, kommt zu durchwachsenen Ergebnissen:
»Man habe eine „Beschleunigung“ erreicht, sagt Studienautor Claudius Ohder, Professor der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht, der die Studie im Auftrag der Berliner Justizverwaltung durchführte. Von der Anzeige bis zur Hauptverhandlung vergehen statt der durchschnittlichen 131 nur noch 57 Tage. Die Akten sind schneller vom Tisch, aber zwischen Tat und Verhandlung liegen noch immer zwei Monate. Der Wunsch, mutmaßliche junge Straftäter würden möglichst zeitnah nach der Tat vor ihren Richter treten, hat sich damit nicht erfüllt.«
Immer wieder werden die Debatten über Jugendgewalt und jugendliche Intensivtäter schnell sehr emotionalisiert und auch verzerrt geführt. So schriebt Antje Hildebrandt in ihrem Artikel Der Ausländer ist natürlich der Kriminelle anlässlich der Talk-Sendung von „Anne Will“: Die ARD »zeigt … einen Spielfilm über die 2010 verstorbene Jugendrichterin Kirsten Heisig, der alle Vorurteile gegen jugendliche Straftäter mit Migrationshintergrund schürt und den Eindruck erweckt, der Problemkiez Neukölln sei so etwas wie die Bronx.« Der punktuelle Eindruck, wenn man in manchen Großstädten unterwegs ist, mag diese Wahrnehmung durchaus festigen. Aber was sagt die kriminologische Forschung zu diesem Thema?
Jugendliche »begehen weniger Gewalttaten als noch vor wenigen Jahren, deutlich weniger. Dies hat das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) festgestellt. Die Kriminologen hatten in den Jahren 2007/2008 bundesweit 45.000 Neuntklässler anonym über deren Gewalterfahrungen befragt, als Täter und als Opfer. Diese Umfrage wiederholten die Forscher vergangenes Jahr mit fast 10.000 Neuntklässlern in Niedersachsen, das in seinen Sozialdaten wie Bildungsstand und Migrantenanteil der bundesweiten Situation sehr nahe kommt. Ergebnis: die Jugend ist besser als ihr Ruf. Auch Schüler aus Migrantenfamilien prügeln, nötigen und rauben deutlich seltener als früher.« Das kann man dem Artikel „Weniger Hiebe“ von Roland Preuss, erschienen in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung am 15.11.2014 entnehmen. Wie wird diese Entwicklung erklärt?
»Einen wichtigen Grund sieht das KFN in einer Erziehung, die weniger auf Gewalt setzt. Wenn Eltern ihre Kinder schlagen und lieblos erziehen, so sei dies die Quelle für neue Gewalt gegen andere, sagt der KFN-Direktor Christian Pfeiffer. „Wir stellen in unseren Befragungen fest, dass die Gewalt in der Familie, auch in Migrantenfamilien, abgenommen hat“, sagt der Kriminologe.«
Dieser Ansatz ist durchaus anschlussfähig an die Wahrnehmung anderer hinsichtlich der Frage nach den Ursachen der Jugendgewalt, so beispielsweise die Position der Journalistin Güner Balci in der „Anne Will“-Sendung, die von Antje Hildebrandt so zitiert wird: »Alle diese harten Jungs, sagte Balci, seien als Kinder selber Opfer von Gewalt in der Familie geworden. „Das ist es ja genau, was sie irgendwann selber zu Tätern werden lässt.“ In dem Moment, da sie vor dem Richter säßen, seien sie schon verloren. Hilfe brauchten sie viel früher, nämlich dann, wenn sie mit dem Schuleschwänzen anfingen.« An dieser Stelle passend dann die weiteren Ausführungen in dem Artikel von Roland Preuss zum beobachtbaren Rückgang der Jugendgewalt:
»Der Rückgang der Delikte bei migrantischen Jugendlichen ist besonders bemerkenswert. Sie stehen unter Beobachtung, weil sie durch die Zahl der Gewalttaten herausstechen, auch wenn es dafür soziale Erklärungen gibt: Misserfolg in der Schule etwa oder eine höhere Arbeitslosigkeit. „Beides spielt eine große Rolle“ … Und in beiden Punkten hat sich einiges gebessert: es gibt deutlich weniger Schulabbrecher und deutlich weniger Jugendliche ohne Job oder Ausbildungsplatz als noch vor zehn Jahren. Auch an den Schulen selbst hat sich nach Einschätzung von Pfeiffer einiges getan. „Es ist eine Kultur des Hinschauens gewachsen, Gewalt wird nicht mehr so hingenommen wie früher“ … «
In die gleiche Richtung geht der Beitrag Die Mär vom kriminellen Ausländer: »Populisten wettern oft gegen „Ausländerkriminalität“ und schüren Ängste vor Zuwanderung. Jetzt zeigt ein neues Gutachten: Migranten begehen nicht generell mehr Straftaten als Jugendliche ohne Migrationshintergrund.«
Es geht um das Gutachten Migration und Jugenddelinquenz – Mythen und Zusammenhänge von Christian Walburg vom Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster, das im Juli 2014 veröffentlicht worden ist. Walburg hat zahlreiche Studien aufgearbeitet und verglichen. Sein Papier wirft ein Schlaglicht auf den Forschungsstand zur Jugendkriminalität. Es wird darauf hingewiesen, dass es keine eindeutige, sondern eine widersprüchliche Datenlage gibt. Einige Punkte werden von Walburg hervorgehoben:
➔ Die offiziellen Statistiken lassen die Aussage nicht zu, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund eher zur Kriminalität neigen als andere. Allerdings werden Jugendliche aus Zuwandererfamilien in strittigen Situationen offenbar häufiger angezeigt. Sie unterliegen demnach einem „erhöhten Kriminalisierungsrisiko“.
➔ Größere Aussagekraft als die Zahlen aus der Polizeistatistik haben Walburg zufolge repräsentative Befragungsstudien. Sie kommen zu dem Schluss, dass sich Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund bei Kleinkriminalität wie Sachbeschädigung und Diebstahl fast gar nicht unterscheiden.
➔ Etwas anders sieht es bei Gewalttaten aus: Zwar berichten Jugendliche mit Migrationshintergrund in vielen Studien häufiger von solchen Delikten; auch stammen vergleichsweise viele Wiederholungstäter aus Zuwandererfamilien. Jedoch deuten neuere Studien darauf hin, dass die Unterschiede mit jeder Einwanderergeneration schrumpfen.
➔ Ein Zusammenhang zwischen Religion oder Ethnie und Gewaltbereitschaft lässt sich durch keine Studie belegen. Speziell für junge Muslime zeige sich, dass ihre religiösen Bindungen „nicht mit signifikant vermehrter Gewaltausübung einhergehen“.
➔ Auch zeigt sich, dass Bildung die Unterschiede bei der Gewaltbereitschaft einebnet. Anders herum gesagt: Wer schlecht gefördert wird, schlägt eher zu, unabhängig von der Herkunft.
Studienautor Walburg warnt vor diesem differenzierten Hintergrund vor „Pauschalisierung“ und „Fehlschlüssen“.
Fazit: Die immer wiederkehrende punktuelle Skandalisierung des höchst komplexen Themas Jugendgewalt führt zu einer sehr verzerrenden Wahrnehmung und Diskussion in der Öffentlichkeit. Die ernüchternden, relativierenden Befunde aus der aktuellen Forschung werden zu wenig wahrgenommen. Unauflösbar ist natürlich das Dilemma, dass es einen Bias gibt zwischen dem, was man statistisch, bezogen auf das Kollektiv aussagen kann und der tragischen individuellen Dimension des Themas, den jede Gewalttat muss immer auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass wir hier von den Opfern sprechen müssen, denen es nichts nützt, dass im statistischen Mittel die Gewalttaten zurückgehen.
Allerdings bleibt ein „skeptisches Restgefühl“, was vor allem den (Nicht-)Umgang mit einem kleinen Teil der jugendlichen Gewalttäter, den so genannten „Intensivtätern“ angeht. Hier kann man schon den Eindruck bekommen, dass deutliche und schnelle Reaktionen erforderlich sind, um eine Verfestigung der Problematik zu unterbinden – oder wenigstens, um die Schutzfunktion des Staates gegenüber seinen Bürgern zu gewährleisten, was mindestens genau so legitim ist wie das Kümmern um die einzelnen Jugendlichen. Man kann das so sehen wie die Journalistin Günter Balci:
Sie ist in Neukölln aufgewachsen. Sie kennt viele Familien dieser sogenannten Intensivtäter. Sie sagt, es sei jedes Mal ein Aufatmen durch den Kiez gegangen, wenn wieder einer von denen in den Knast gewandert sei. „Das ging so, bis die dreißig waren. Dann haben die geheiratet und hatten plötzlich andere Probleme. Bis dahin war es aber angebracht, die öfter mal einzusperren.“
Und es ist so, dass es hier Probleme gibt, auch im Zusammenhang mit einem anderen, höchst aktuellen Thema – und man sollte das aktiv angehen, damit eine sehr kleine Gruppe nicht durch eine skandalisierende Berichterstattung ganz viele Flüchtlinge völlig unzulässigerweise in eine Kollektivhaftung nehmen kann. Hierzu beispielsweise der Artikel mit der effektheischenden Überschrift Polizei kapituliert vor kriminellen Flüchtlingskindern, allerdings durchaus ein reales Problem ansprechend, das man nicht ausblenden sollte: »Rund ein Viertel der 115 bekannten schwerkriminellen jugendlichen Intensivtäter in Hamburg sind unbegleitete junge Flüchtlinge. Ein LKA-Dossier zeigt die Hilflosigkeit der Ordnungshüter.«
Es ist nicht nur die Hilflosigkeit der Polizei, sondern richtig und wichtig wäre an dieser Stelle auch eine offene und vor allem entideologisierte Debatte innerhalb der Jugendhilfe über den Umgang mit dieser kleinen Gruppe, die allerdings erheblichen Schaden anrichten kann und das auch tut. Hier würde man sich auch zuweilen wünschen, dass man die Schützengräben der 1970er Jahre verlässt und sich den Realitäten stellt.