Zwischen „ausgelaugter Gewerkschaft“ und dem Nachtreten derjenigen, die das Streikrecht schleifen wollen

Derzeit läuft in der Öffentlichkeit die Debatte über die
Bewertung der Ergebnisse der Mitgliederbefragungen zum Schlichterspruch im
Streik des Sozial- und Erziehungsdienstes. Sowohl bei ver.di wie auch bei der
GEW wurde der mit fast 70% abgelehnt – und das sorgt jetzt für viel Diskussion.

Pascal Beucker kommentiert in der taz mit Blick auf den Ende
September anstehenden Bundeskongress der Gewerkschaft ver.di, wo Frank Bsirske
für eine fünfte Amtszeit als Gewerkschaftschef kandidiert, sehr kritisch unter
der Überschrift Ausgelaugte
Gewerkschaft
: »Die aktuelle Verdi-Führung gibt eine schlechte Figur ab –
konzeptionslos und müde. Ein Neuanfang ist jedoch nicht in Sicht.«

Und weiter: »Das Motto des kommenden Verdi-Bundeskongresses soll
Optimismus verbreiten: „Stärke. Vielfalt. Zukunft.“ Ein Fall von Autosuggestion
… Um es deutlicher zu formulieren: Verdi befindet sich in einer veritablen
Krise. Das Führungspersonal um den Dauervorsitzenden Frank Bsirske, der seit
der Gründung von Verdi 2001 an der Spitze steht, und seine beiden
StellvertreterInnen Andrea Kocsis und Frank Werneke wirkt konzeptionslos und
ausgelaugt. Doch hoffnungsvolle Nachwuchskräfte, die an ihre Stelle treten
könnten, sind nicht in Sicht. Alle drei müssen nicht mal mit einer
Gegenkandidatur rechnen.«


Beucker trifft einen zentralen wunden Punkt, wenn er über
die eigentliche Notwendigkeit personeller Konsequenzen schreibt:

»Dafür spricht die dramatisch schlechte Figur, die die
Verdi-Spitze zuletzt in gleich zwei zentralen Arbeitskämpfen abgegeben hat: im
Tarifkonflikt im Sozial- und Erziehungsdienst und in der Auseinandersetzung bei
der Post. Das Ergebnis war das gleiche. In beiden Fällen hat die Führung ihre
Mitglieder in den unbefristeten Streik geführt – und ist dann jeweils zum
völligen Unverständnis ihrer kämpferischeren Basis vor den Arbeitgebern
eingeknickt.«

Er weist zudem darauf hin, dass hinter vorgehaltener Hand
spekuliert wird, dass der Gewerkschaftsspitze die Streikkosten, die auf 100
Mio. Euro geschätzt werden für die beiden großen Streiks, also bei der
Deutschen Post und den Sozial- und Erziehungsdiensten, schlichtweg zu teuer
geworden sind. Immerhin hat die Gewerkschaft ver.di allein in diesem Jahr bis
Juli 2015 nach Angaben von Bsirske auf einer Pressekonferenz am 10.08.2015 insgesamt
1,5 Mio. Streiktage bewältigen müssen. Die Ausführungen von Bsirske auf dieser
Pressekonferenz (vgl. dazu einen Ausschnitt als Video von Phoenix) sind
sehr aufschlussreich, weite Teile muss man werten als Versuch einer
Verteidigung gegen die durchaus naheliegende Überlegung, ob er nicht die
politische Verantwortung übernehmen sollte und müsste angesichts der
katastrophalen Bilanz der letzten großen Arbeitskämpfe (vgl. in diese Richtung
auch meinen Beitrag Die
Gewerkschaftsspitze allein zu Haus? Das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum
Schlichtungsergebnis im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste und das
„Fliegenfänger“-Problem der Verdi-Führungsebene
vom 8. August 2015).
Das sei – so Bsirske heute  gegenüber der
Presse– „völlig absurd“ und im übrigen bewertet er den völlig überhasteten
Abbruch des Streiks bei der Post als „absoluten Erfolg“ (vgl. hierzu aber
meinen Beitrag Das
Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die,
die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post
vom 6. Juli
2015 mit einer ganz anderen Einschätzung). Man kann nur hoffen, dass sich die
Gewerkschaftsbasis gegen einen möglicherweise jetzt von oben verordneten Zustand
der organisationspolitischen Friedhofsruhe wehren wird.
Ganz anders hingegen muss diese Kommentierung gelesen werden
– und sie sollte aufmerksam gelesen werden von allen, die sich mit
gewerkschaftlichen Rechten, zu denen natürlich das Streikrecht gehört,
beschäftigen: Unter der sympathieheischenden Überschrift Verlierer
sind die Kinder
versucht Rainer Blasius in der FAZ zum einen, vor einer
Wiederaufnahme der Arbeitskampfmaßnahmen zu warnen (»Das alles wird auf dem
Rücken der Kinder ausgetragen, für die das Kita-Personal fürsorglich da sein
will«). Am Ende kommt er dann aber zum eigentlichen Anliegen – und man muss sich seine Formulierung in aller Ruhe zu Gemüte führen:

»Das unbotmäßige Verhalten der Gewerkschaften zeigt darüber
hinaus, dass das Streikrecht für öffentlich Tarifbeschäftigte neu geregelt
werden muss. Im Bereich der Daseinsvorsorge, zu dem Kitas zählen, müssen
Arbeitskämpfe eingeschränkt werden, damit das Wohl der Kleinsten besser
geschützt wird.«

Hier wird etwas offensiv vorangetrieben, was sich seit der
Debatte über den Lokführerstreik der GDL sowie den Arbeitskampfaktionen der
Pilotengewerkschaft Cockpit bei der Lufthansa immer stärker im politischen Raum
konturiert (vgl. dazu den Beitrag Bayern
legt nach. Das Streikrecht auf der Rutschbahn nach unten. Erst das
Tarifeinheitsgesetz und jetzt die Forderung nach „obligatorischen
Schlichtungsverfahren“ in der „Daseinsvorsorge“
vom 10. Juli
2015).
Wie es im Fall der Sozial- und Erziehungsdienste – es sei an
dieser Stelle erneut darauf hingewiesen, dass es sich nicht nur um einen
Aufwertungsstreik der Kita-Beschäftigten handelt, sondern auch die Fachkräfte
beispielsweise in der Jugend- und Behindertenhilfe betroffen sind, die bei der
Schlichtung übrigens völlig leer ausgegangen sind – nun weitergehen wird, kann
man naturgemäß zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren. Verdi-Chef Bsirske hat
bereits „unkonventionelle Streikmaßnahmen“ in Aussicht gestellt, wenn die nun
folgenden Verhandlungen mit den kommunalen Arbeitgebern keine Verbesserung des
Schlichtungsergebnisses bringen sollten, was ja mehr als plausibel ist, denn
warum sollten sich die Arbeitgeber in irgendeiner Form bewegen? Die
Formulierung „unkonventionell“ kann darauf hindeuten, dass es keine
unbefristeten Streiks mehr geben wird in einzelnen Einrichtungen, sondern eher
tageweise Arbeitskampfmaßnahmen stattfinden werden. Vgl. dazu auch das Interview des Deutschlandunks mit Gabriele Schmidt, Landesvorsitzende von Verdi in Nordrhein-Westfalen: „Wir werden zu neuen Streikformen greifen“, wo man allerdings keine substanziellen Hinweise findet, was das denn sein kann – „unkonventionelle Streikformen“. Sie diagnostiziert nur, dass man bislang nicht wirklich hat durchdringen können:

»Wir haben jetzt am Wochenende beraten, dass wir mit der Streikstrategie, mit der wir angefangen haben, so nicht weiterkommen. Wir haben den Streik ja begonnen, haben dauerhaft aufgerufen. Das hat zum Ergebnis geführt, dass wir so keinen zufriedenstellenden Tarifkompromiss erreichen konnten.
Wir haben 2009 mit einer tageweisen Streikstrategie auch sehr lange gestreikt und haben festgestellt, das ist nicht die glücklichste Streikvariante, und wir haben am Wochenende diskutiert, dass wir andere Streikvarianten brauchen.«

Allerdings muss man sehen, dass die Rahmenbedingungen für
neue Arbeitskampfmaßnahmen nicht besser geworden sind – eher ist vom Gegenteil auszugehen.
Dass die anfängliche Sympathiewelle in den Medien und bei vielen Bürgern bei
einer zweiten Welle niedriger ausfallen wird, das muss man annehmen. Aber hinzu
kommen die weiterhin ungelösten strukturellen Dilemmata, mit denen der
berechtigte Aufwertungskampf der Sozial- und Erziehungsdienste konfrontiert
ist:
  • Zum einen handelt es sich um einen „arbeitgeberfreundlichen“
    Arbeitskampf, denn anders als ein Streik bei einem Automobilhersteller oder
    einem anderen „normalen“ Unternehmen werden die kommunalen Arbeitgeber nicht
    direkt getroffen, sondern primär die Eltern (und ihre Kinder). Der ansonsten
    mit einem Streik verbundene massive ökonomische Druck auf den Arbeitgeber ist
    somit ausgeschaltet bzw. wenn überhaupt, dann nur indirekt erfahrbar, wenn die
    primär Betroffenen den Druck auf die kommunal Verantwortlichen richten würden,
    nicht aber auf die Streikenden selbst, was aber bereits am Ende der
    Streikaktionen vor der Schlichtung zu erleben war.
  • Zum anderen werden sich die kommunalen Arbeitgeber aus zwei
    für sie durchaus substanziellen und in deren Binnenraum auch nachvollziehbaren
    Gründen nicht bewegen in Richtung auf größere, spürbare Verbesserungen im
    Vergleich zu dem, was der Schlichterspruch enthält. Zum einen muss hier das
    strukturelle Grundproblem der Fehlfinanzierung der Kita-Systeme in den
    Bundesländern angesprochen werden, also die Tatsache, dass der größten
    Kostenblock auf die Kommunen entfällt, während der Bund viel zu wenig an der
    Regelfinanzierung beteiligt ist. Solange das „föderale Finanzierungsdilemma“
    nicht aufgelöst wird in Richtung auf eine deutlich stärkerer anteilige
    Bundesfinanzierung an den laufenden Kosten der Kitas, die im Wesentlichen
    Personalkosten sind, wird sich an der Blockadehaltung der Kommunen, von denen
    sich viele in einer überaus prekären Haushaltslage befinden, nichts ändern
    (können). Zum anderen leisten die kommunalen Arbeitgeber auch deshalb so einen
    Widerstand gegen eine strukturelle Aufwertung der Sozial- und Erziehungsdienste
    im Tarifgefüge (denn darum geht es ja, nicht um eine „normale“ Tarifsteigerungsrunde),
    weil ein wirkliches Entgegenkommen hier zu schweren Verwerfungen im gesamten
    Tarifgefüge führen würde mit der plausiblen Folge, dass dann auch andere
    Berufsgruppen im öffentlichen Dienst eine entsprechende Anpassung einfordern
    werden.

Außerdem ist eine weitere Besonderheit zu berücksichtigen,
die pessimistisch stimmt: Die Streikaktionen können sich nur auf den Bereich
der kommunalen Kitas beziehen, allerdings sind fast zwei Drittel der
Kita-Plätze in Hand der „freien Träger“, wobei die beiden Kirchen die größten
Player darstellen. Und die dort beschäftigten Fachkräfte dürfen – auch wenn sie
es wollten – gar nicht streiken.

Fazit: Auch wenn man die Aufwertungsforderung absolut
unterstützt und eine entsprechende Bewegung nach oben nur wünschen mag, in der
Gesamtschau sieht die Lage überaus schwierig aus und die
Erfolgswahrscheinlichkeit geht eher gegen Null. Allerdings war das auch schon
Anfang des Jahres vor Beginn der unbefristeten Streikaktionen die bekannte
Ausgangslage und man muss zu dem Ergebnis kommen, dass die Führungsebene der
Gewerkschaft strategisch eine kapitale Fehleinschätzung an den Tag gelegt hat.
Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt,
lautet eine der fundamentalen Weisheiten im Militärgewerbe, die sich aber auch
auf Arbeitskämpfe übertragen lässt. Man kann nur hoffen, dass die
Gewerkschaften die Erfahrungen aus diesem Jahr gründlich reflektieren und
letztendlich sollte man auch deutliche Konsequenzen ziehen, allein schon
deshalb, weil ansonsten innerhalb der Gewerkschaften erhebliche Frustrations-
und Rückzugseffekte eintreten könnten und werden.

Zugleich sollte man denjenigen, die diese objektiv nur als
Niederlage zu bezeichnende Entwicklung nutzen wollen, um darauf aufbauend ihre
eigentlichen Ziele, also eine Einschränkung des Streikrechts im Bereich der
öffentlichen Dienstleistungen voranzutreiben (was man auch sehen muss im
Kontext mit der faktischen Einschränkung des Streikrechts für Berufs- und Spartengewerkschaften
im Gefolge des „Tarifeinheitsgesetzes“), die rote Karte zeigen. Im Interesse
aller Gewerkschaften.

Die Gewerkschaftsspitze allein zu Haus? Das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum Schlichtungsergebnis im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste und das „Fliegenfänger“-Problem der Verdi-Führungsebene

War da nicht noch was? Genau, die Schlichtung im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste, in der Öffentlichkeit oftmals fälschlicherweise verkürzt auf „Kita-Streik“, aber es haben nicht nur die Fachkräfte der Kindertageseinrichtungen di Arbeit niedergelegt, sondern auch die Sozialarbeiter beispielsweise in der Jugend- oder Behindertenhilfe, die aber in der öffentlichen Berichterstattung so gut wie gar nicht vorgekommen sind.

Heute findet in Fulda die vierte bundesweite Streikdelegiertenkonferenz der Gewerkschaft ver.di statt und dort wird der Verdi-Chef Frank Bsirske das Ergebnis der seit Wochen laufenden Mitgliederbefragung über eine Annahme oder Ablehnung des Schlichterspruchs vorstellen und mit den Delegierten sicherlich sehr kontrovers diskutieren. Vgl. dazu auch den Artikel Die nächste Runde droht. Alfons Frese schreibt darin: »Die Verdi-Mitglieder haben über den Schlichterspruch im Kita-Streit abgestimmt. Jetzt wird wieder verhandelt – und womöglich gestreikt. Verdi-Chef Bsirske sitzt in der Klemme.«

„In der Klemme“ ist noch nett ausgedrückt. Nicht nur der Streik der Sozial- und Erziehungsdienste – als unbefristeter Arbeitskampf begonnen, nicht um ein paar Prozente im bestehenden Tarifsystem, sondern mit dem Ziel einer strukturellen Aufwertung der Fachkräfte im Tarifgefüge durch eine deutliche Höhergruppierung – ist krachend gescheitert, wenn man den Schlichterspruch, der bei langer Laufzeit nur kosmetische Anhebungen vorsieht und die Sozialarbeiter sogar leer ausgehen lässt, annehmen würde bzw. wird, denn die Führungsspitze von ver.di plädiert genau dafür (vgl. dazu meinen Beitrag Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Das Schlichtungsergebnis im Tarifstreit der Sozial- und Erziehungsdienste – ein echtes Dilemma für die Gewerkschaften vom 24. Juni 2015).

Es muss an dieser Stelle leider auch noch auf die zweite ebenfalls krachende Niederlage in einem aktuellen Arbeitskampf hingewiesen werden, gemeint ist der Streik bei der Deutschen Post DHL, wo man das eigentliche Ziel, eine Verhinderung bzw. wenigstens eine Abschwächung der Auslagerung der Zustellung in Billigtöchter des eigenen Unternehmens (DHL Delivery), nicht ansatzweise erreicht hat und mit einem mager daherkommenden Ergebnis den ebenfalls unbefristet begonnenen Streik abgebrochen hat nach einem Verhandlungstreffen mit dem Konzern in Bad Neuenahr-Ahrweiler (vgl. dazu meinen kritischen Beitrag Das Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die, die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post vom 6. Juli 2015).

Was steht heute also an in Fulda auf der Streikdelegiertenversammlung?
»Kommt der Ende Juni nach zähen Verhandlungen, Streiks und einer Schlichtung erreichte Tarifkompromiss zum Tragen, oder geht das ganze Theater von vorne los, weil die Erzieherinnen und Sozialarbeiter das Ergebnis ablehnen?«, so Alfons Frese in seinem Artikel.
Und weiter:

»Wenn die Mehrheit zugestimmt hat, ist alles gut. Wenn nicht, hat Bsirske ein Problem. „Dann hängen wir am Fliegenfänger“, heißt es im Umfeld des Verdi-Vorsitzenden.«

Ein leider schönes Bild, bringt es doch das ganze Dilemma auf den Punkt. Die Gewerkschaft hat sich mit der Zustimmung ihrer Unterhändler zu dem Schlichtungsspruch in eine letztendlich unauflösbare Situation manövriert, sollte die Basis diesem Votum nicht folgen, denn warum sollten die kommunalen Arbeitgeber das Fass neu aufmachen, haben sie doch bereits die – natürlich nur unter „größten Bauchschmerzen“ erfolgte – Annahme des Schlichterspruchs verkündet, zugleich aber darauf hingewiesen, dass mehr nicht drin ist (zugleich steht der Verhandlungsführer der Arbeitgeber tatsächlich vor einer Ablehnungsfront vor allem der ostdeutschen Kommunen, die seinen Bewegungsspielraum gegen Null verengen).

Wenn die Verdi-Mitglieder aber dem Votum der Gewerkschaftsspitze, die offensichtlich die Panik ergriffen hat, nicht folgen, müsste man konsequenterweise eigentlich die abgekühlten Arbeitskampfmaßnahmen nach den Sommerferien wieder aufnehmen.
Die unrühmliche Rolle des Verdi-Vorsitzenden Bsirske verdeutlicht auch dieses Zitat aus dem Artikel von Frese:

„Wir müssen abwägen, ob wir es uns zutrauen können, durch weitere Streikwochen substanziell mehr zu erreichen.“ In dem Fall müsste man aber „gegen die Schlichtungsempfehlung und erhebliche Teile der Öffentlichkeit anstreiken“, warnte der Verdi-Chef seine Basis.

Wer hat denn seine Leute – auch für der Sache gewogene Leute überstürzt daherkommend – in einen unbefristeten Arbeitskampf geschickt mit der Maßgabe, nur so lasse sich die angestrebte substanzielle Aufwertung der Berufe erreichen? Der heilige Geist oder die Führungsebene der Gewerkschaft? Wobei man an dieser Stelle der Vollständigkeit halber anmerken muss, dass es neben Verdi auch noch die GEW gibt, die ebenfalls gestreikt hat – und die offensichtliche Nicht-Synchronisation des gewerkschaftlichen Vorgehens wäre ein eigenes Thema.

Wenn man in einen unbefristeten Streik geht, dann muss man doch eine klare Vorstellung haben, wie und vor allem womit mindestens man da wieder rauskommen will. Es handelt sich um die schärfste Waffe der Gewerkschaften im Arbeitskampf und man sollte diese auch so nur verwenden. Die gleiche offensichtliche Nicht-Strategie bei der Post und das gleiche fatale Ergebnis – eine Niederlage.
Wie auch immer die Sache heute ausgeht – unabhängig davon sind die Auswirkungen für die gewerkschaftliche Sache desaströs. Wenn man – wie es die Spitze der Organisation will – dem Schlichterspruch zustimmt, dann werden sich viele Aktive enttäuscht abwenden und sicher werden auch viele, die während des Streiks eingetreten sind, die Gewerkschaft wieder verlassen. Auf der anderen Seite wird eine Wiederaufnahme des Arbeitskampfes tatsächlich sehr schwierig bis unmöglich sein, nachdem man die Bewegung, die sich vor Ort im Streik entfaltet hat, abrupt ab- bzw. ausgebremst hat durch die mehrwöchige Abkühlphase über die Mitgliederbefragung, die natürlich auch deshalb so lange angelegt war, um die Leute am Ende dann doch wieder auf Linie zu bekommen.

Was folgt daraus? Zum einen sicherlich die Notwendigkeit einer gewerkschaftsinternen offenen und kritischen Analyse der offensichtlichen Fehler in den vergangenen Monaten. Zum anderen – auch wenn das jetzt sicher manche nicht gerne hören möchten – sollte sich jede echte politische Führungskraft immer fragen, wann es an der Zeit ist, Verantwortung für schlechte Ergebnisse und Niederlagen zu übernehmen. Allerdings beabsichtigt Frank Bisirske, auf dem demnächst anstehenden Gewerkschaftstag von Verdi erneut als Vorsitzender zu kandidieren und sich wählen zu lassen für eine weitere Amtszeit. Unabhängig von der hier nur am Rande angemerkten Tatsache, dass er dann das Renteneintrittsalter, für das Verdi ansonsten so vehement kämpft, überschreiten wird bei einer Wiederwahl – man muss schon die Frage stellen, warum nicht wenigstens einmal in Betracht gezogen wird, dass es nach zwei derart schlechten Ergebnissen von Arbeitskämpfen gute Gründe geben könnte, den Vorsitzenden dahin zu schicken, wohin viele Arbeitnehmer gerne möchten: in den Ruhestand.

Nachtrag: Mittlerweile sind die Abstimmungsergebnisse der befragten Mitglieder der beiden Gewerkschaften veröffentlicht worden: Ver.di-Basis lehnt Schlichterspruch ab: »Insgesamt lehnten 69,13 Prozent der Ver.di-Mitglieder im Sozial- und Erziehungsdienst den Schlichterspruch ab« und von der GEW wird gemeldet: Mitgliederbefragung abgeschlossen: Enttäuschung, Wut und Realismus: »31,2 Prozent der befragten GEW-Mitglieder wollen den Schlichterspruch annehmen, 68,8 Prozent sprechen sich dagegen aus.«

Interessant in diesem Zusammenhang der Hinweis auf das Dilemma mit den an sich sehr hohen Ablehnungswerten seitens der GEW-Mitglieder in der Pressemitteilung der Gewerkschaft: »Das von der Satzung geforderte Quorum für eine Urabstimmung – mindestens 75 Prozent müssen für den Streik stimmen – wurde klar verfehlt. Gleichzeitig lehnt eine deutliche Mehrheit der Abstimmenden das Verhandlungsergebnis ab. Jetzt müssen die GEW-Gremien das Ergebnis politisch bewerten und das weitere Vorgehen beraten.« Anders ausgedrückt: Der erforderliche hohe Anteilswert von 75 Prozent für einen Streik wurde nicht erreicht, auf der anderen Seite einen Tarifabschluss auf der Basis von fast 70 Prozent Ablehnung? Es wird spannend bleiben, wie die beiden Gewerkschaften mit dieser Gemengelage umgehen werden.

Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Das Schlichtungsergebnis im Tarifstreit der Sozial- und Erziehungsdienste – ein echtes Dilemma für die Gewerkschaften

Auch wenn es mit Blick auf die Sozial- und Erziehungsdienste unangebracht erscheint, sei dieser Beitrag dennoch mit einer der zentralen strategischen Weisheiten aus dem Militärwesen eröffnet. Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Was passieren kann, wenn man sich daran nicht hält, mussten wir gerade in der jüngeren Vergangenheit an mehreren Stellen auf dieser Welt zu Kenntnis nehmen. Letztendlich trifft diese grundlegende strategische Weisheit auch und gerade auf Arbeitskämpfe zu, mit deren Hilfe ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll und bei denen es sich nicht um irgendwelche Verzweiflungsaktionen handelt.  Man muss davon ausgehen, dass diese Überlegungen auch im Vorfeld des unbefristeten Streiks der Beschäftigten in den kommunalen Sozial- und Erziehungsdiensten, vor allem in den kommunalen Kindertageseinrichtungen, von den Gewerkschaften Verdi und die GEW angestellt und mit der notwendigen Sorgfalt abgewogen worden sind.

Dabei stellen sich von außen betrachtet zwei grundsätzliche Fragen: Ist die Streikbereitschaft der organisierten Beschäftigten, vor allem der Erzieherinnen in den Kitas, ausreichend vorhanden, um nicht nur einen Warnstreik von ein oder zwei Tagen durchzuführen, sondern eben in eine unbefristete Auseinandersetzung zu gehen, die erfahrungsgemäß eine ganz andere Qualität entfaltet, je länger sie andauert. Ich muss zugeben, dass ich genau an dieser Stelle im Vorfeld des Streiks erhebliche Fragezeichen gesetzt habe. Ich war mir nicht wirklich sicher, ob die Erzieherinnen zu einem größeren Arbeitskampf bereit und in der Lage wären. Aber gerne gebe ich zu, dass ich die Motivation und die dann auch tatsächlich erkennbare Streikleistung Beschäftigten unterschätzt habe. Hinzu kommt allerdings eine zweite grundsätzliche strategische Frage, über die man sich im Vorfeld einer solchen Aktion klar sein muss: Besteht eine realistische Chance, die Arbeitgeberseite durch den Arbeitskampf dermaßen unter Druck zu setzen, dass man die – sicher nicht alle – eigenen Forderungen in einem substanziellen Umfang wird durchsetzen können oder aber gibt es spezifische Bedingungen, die eine solche Wahrscheinlichkeit eher gegen Null gehen lassen, was dann erhebliche Auswirkungen hätte auf die Frage, ob man seine eigenen Leute in eine solche Schlacht führt, die mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit in einer Niederlage enden muss.

Und an dieser Stelle muss man darauf hinweisen, dass die Konstellation beim unbefristeten Streik der  kommunalen Sozial- und Erziehungsdienste in mehrfacher Hinsicht als überaus komplex zu charakterisieren ist, um das noch freundlich auszudrücken.  Denn es handelt sich beim aktuellen Tarifkonflikt nicht um eine „klassische“ Tarifauseinandersetzung, in der um mehr oder weniger Prozente gestritten wird. Denn der TVöD – Sozial- und Erziehungsdienst (TVöD – SuE) in seiner bestehenden Form läuft noch bis zum 29.02.2016. Anders ausgedrückt: Im Frühjahr des kommenden Jahres wird es erneut normale Tarifverhandlungen über die Vergütung geben. Denn die Anhebung um +2,4 Prozent zum 01.03.2015 ist die zweite Stufe des Abschlusses der Tarifrunde 2014, die eine Entgelterhöhung in 2 Stufen gebracht hat: Zum 01.03.2014: + 3,0 Prozent mindestens aber 90 €. Und eine zweite Erhöhung, zum 01.03.2015, um + 2,4 Prozent. Im kommenden Jahr gibt es also die nächste Tarifrunde.

Hintergrundinformation zum TVöD – SUE: Der Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD) gilt seit dem 1. Oktober 2005 für alle Beschäftigten beim Bund und bei den Kommunen. Er hat den bis dahin geltenden BAT abgelöst. Im Juli 2009 haben sich die Gewerkschaften und die kommunalen Arbeitgeber nach einer langwierigen Tarifauseinandersetzug mit ersten größeren Arbeitskampfaktionen darauf geeinigt,  für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst eine neue Entgeltordnung und eine eigene Entgelttabelle zu schaffen. Darüber hinaus wurden Vereinbarungen zur betrieblichen Gesundheitsförderung getroffen.

Offensichtlich geht es beim aktuellen Streit um etwas anderes. Die Gewerkschaften belegen das, worum es hier geht, mit dem Begriff und zugleich dem Ziel „Aufwerten“. Die Beschäftigten sollen besser vergütet werden, aber nicht durch „normale“ prozentuale Anhebungen dessen, was sie im bestehenden System verdienen, sondern durch eine Anhebung der Eingruppierung der Beschäftigten. Wenn also eine Erzieherin derzeit in der Entgeltgruppe S 6 eingruppiert ist, dann soll sie – so der Ansatz der Forderung – in Zukunft mehrere Gruppen höher gehoben werden. Beim „Aufwerten“ geht es also zum einen um eine höhere Eingruppierung der Fachkräfte wie auch um eine Anpassung und Modernisierung der Tätigkeitsmerkmale, die den einzelnen Gruppen zugeordnet sind und die angesichts der rasanten Entwicklung und Veränderung der pädagogischen Arbeit nicht mehr zeitgemäß sind.

Zugleich haben nicht nur die Beschäftigten in den kommunalen Kindertageseinrichtungen gestreikt, sondern auch beispielsweise Sozialarbeiter aus den Jugendämtern oder Fachkräfte aus den Einrichtungen der Behindertenhilfe – aber davon hat die Öffentlichkeit so gut wie gar nichts mitbekommen, wenn, dann wurde immer über den „Kita-Streik“ gesprochen und berichtet.

Grundsätzlich gab und gibt es in der breiten Öffentlichkeit ein großes Verständnis für die Forderung, dass gerade die pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen besser gestellt werden sollten. Das ist sicherlich auch ein Ergebnis der Diskussion in den zurückliegenden Jahren über den Ausbau der Kindertagesbetreuung, vor allem für die Kinder unter drei Jahren. Außerdem ist es immer deutlicher geworden, welche veränderte Bedeutung den Kindertageseinrichtungen eben nicht nur als Betreuungseinrichtungen, sondern auch als eine wichtige Städte der Erziehung und Bildung der Kinder in einem überaus sensiblen Altersrahmen zukommt. Also insgesamt eine so gesehen ganz gute Voraussetzung für die Durchsetzung einer realen Aufwertung, also eine, die sich in der Eingruppierung niederschlagen müsste.

Aber schon ein erster Blick auf die Gegenseite kann verdeutlichen, dass wir es hiermit eine überaus schwierigen Gefechtslage zu tun haben. Es handelt sich bei den kommunalen Arbeitgebern eben nicht um „normale“ Unternehmen, die bei einem Streit ihrer Beschäftigten sofort und unmittelbar von den Folgen betroffen wären in Form von Produktions- und damit Einnahmeausfällen. Wenn beispielsweise die IG-Metall die großen Automobilhersteller bestreiken würde, dann würden Tag für Tag Schäden in Millionenhöhe für das Unternehmen entstehen und damit hätte die Gewerkschaft natürlich ein enormes Druckpotenzial gegenüber dem Arbeitgeber.

Bei den kommunalen Arbeitgeber im Bereich der Kindertageseinrichtungen sieht es hingegen völlig anders aus. Man kann es sogar zuspitzen: Wenn die Kitas bestreikt werden, dann hat die Kommune keinen monetären Verlust zu beklagen, sondern – wie in vielen Kommunen auch beobachtet werden muss – man spart sogar Geld, da man während des Streiks keine Personalausgaben für die streikenden Erzieherinnen hat. Das ist ein strukturelles, ein systematisches Problem, wenn wir über Streiks in personenbezogenen Dienstleistungsbereichen reden, die nicht so aufgestellt sind wie „normale“ Unternehmen. In der gleichen Dilemma-Situation befindet sich übrigens auch die Pflege. Die Gewerkschaften Verdi und GEW haben also nicht die kommunalen Arbeitgeber direkt bestreiten können, sondern gleichsam deren „Kunden“, also die Eltern und ihre Kinder. Letztendlich muss man angesichts dieser Konstellation darauf hoffen, dass der Druck, der auf der „Kundenseite“ aufgebaut wird, gleichsam über Bande gespielt an den kommunalen Arbeitgeber weitergereicht wird. Es ist müßig, dieser Stelle darüber zu diskutieren, warum es so war und ob es anders hätte sein können: Aber man muss zur Kenntnis nehmen, dass in den Wochen des unbefristeten Streiks der Erzieherinnen es nicht gelungen ist, die Wut und die zunehmende Verzweiflung der betroffenen Eltern  gegen die kommunalen Arbeitgeber zu richten, sondern die Berichterstattung und damit auch große Teile der öffentlichen Wahrnehmung verengten die Perspektive auf eine angebliche „Schuld“ der streikenden Fachkräfte in den Einrichtungen.

In den ersten Wochen des Arbeitskampfes kam von Seiten der Arbeitgeber – nichts. Sie sind einfach auf Tauchstation gegangen und haben die Entwicklung laufen lassen. Dafür gibt es sicherlich unterschiedliche Gründe. Zum einen konnten sie sich darauf verlassen, dass die Medienmaschinerie ab einem bestimmten Zeitpunkt, also dann, wenn die überaus schmerzhaften Folgen eines lang andauernden Streiks für Eltern sichtbar werden, mit vollem Einsatz über die Folgen für die betroffenen Eltern berichten wird und die Stimmung zu kippen droht. Darüber hinaus gibt es aber auch strukturelle Gründe, dass die Kommunen mit einem Totstell-Reflex reagiert haben.
Dazu gehört zum einen die Tatsache, dass die Kommunen jede Verbesserung hinsichtlich der Vergütung der Fachkräfte in den kommunalen Kindertageseinrichtungen (sowie den anderen Einrichtungen, die aber kaum Beachtung finden) sofort und unmittelbar in ihren Haushalten zu spüren bekommen denn aufgrund der spezifischen Finanzierungsstrukturen im System der Kindertagesbetreuung sind die Kommunen nun mal der Hauptkostenträger in diesem Bereich. Das an sich ist schon ein schweres Argument, sich die Forderung zu verweigern.

Hinzu kommt allerdings ein weiterer Tatbestand: Wie gesagt, es geht bei diesem Tarifkonflikt nicht um eine „normale“ Erhöhung der Tarife, sondern um eine neue Systematik der Eingruppierung im Sinne einer von den Gewerkschaften angestrebten Höhergruppierung der Beschäftigten. Den Kommunen war und ist klar, dass wenn sie den Erzieherinnen und dem anderen Personal in den Kindertageseinrichtungen mit einer entsprechenden Aufwertung entgegenkommen würden, dass dann das gesamte Tarifgefüge im kommunalen Dienst ins Rutschen kommen könnte bzw. wird. Denn natürlich würden die anderen Beschäftigtengruppen dies zum Anlass nehmen, ebenfalls eine entsprechende höhere Bewertung ihrer Tätigkeiten zu verlangen.

Für die Gewerkschaften erschwerend kommt der Tatbestand hinzu, dass sich der Ausstand ausschließlich auf die kommunalen Kindertageseinrichtungen beziehen kann, diese aber nur noch eine Minderheit der Kita-Plätze überhaupt anbieten, denn der größte Teil befindet sich in Hand der so genannten freien Träger, vor allem bei den kirchlichen Trägern. Und die Beschäftigten dort unterliegen einem Streikverbot, d.h., auch wenn sie wollten, können sie gar nicht in einen Arbeitskampf gehen.

Insofern – und darauf habe ich frühzeitig und immer wieder hingewiesen – kann und wird es eine im Sinne der Beschäftigten substantiell positive Lösung dieses Problems nur geben können, wenn die Finanzierungsfrage angegangen und gelöst wird, also die derzeit gegebene völlig verzerrte Kosten-Nutzen-Verteilung vom Kopf auf die Füße gestellt wird, in dem der Bund endlich in umfängliche Art und Weise in die Regelfinanzierung der Kindertageseinrichtungen (und der Kindertagespflege) eingebunden wird. Nur dann bekommen die Kommunen die notwendigen finanziellen Freiheitsgrade, um zum einen die Vergütung der pädagogischen Fachkräfte erkennbar anzuheben und gleichzeitig auch die mindestens, wenn nicht noch deutlich wichtigere Aufgabe einer Verbesserung der Personalschlüssel anzugehen.

Vor diesem Hintergrund musste es so kommen, wie es gekommen ist. Der Streik wurde ausgesetzt, um in ein Schlichtungsverfahren einzusteigen. Und die Schlichter haben eine Empfehlung abgegeben, die – auch wenn man sich etwas anderes wünschen würde – eine mehr als schwere Kost für das Gewerkschaftslager darstellt. Die angestrebte systematische Aufwertung wird nicht stattfinden, stattdessen gibt es eine Erhöhung der Geldbeträge in einem Korridor von 2 – 4,5 Prozent, aber in der bestehenden Vergütungsstruktur bzw. die überaus pragmatischen Schlichter schlagen vor, die etwas angehobenen Beträge in der Vergütungsgruppe S 6 einfach mit einem neuen Etikett zu versehen, auf dem jetzt S 8a steht, so dass man der geneigten Öffentlichkeit eine „Aufwertung“ symbolhaft verkaufen kann.

Ds wird auch an anderer Stelle kritisch gesehen. In einem Kommentar schreibt Detlef Esslinger unter der mehr als deutlichen Überschrift Ruhigstellung für die Alten – kaum Verbesserungen für die Jungen: »Der Schlichterspruch ist schwach; eine Perspektive für Angestellte im Sozial- und Erziehungsdienst fehlt nach wie vor.« Und weiter:

»Man muss sich nur mal anschauen, was das Ergebnis der Schlichtung ist. Bei den Kinderpflegern: Die Jüngsten bekommen 61 Euro mehr, die Ältesten jedoch 110 Euro. Bei den Erzieherinnen: 55 Euro mehr für die Jüngsten, doch 161 Euro mehr für die Ältesten. Ach je. Auch bei Tarifkonflikten gibt es offensichtlich einen Unterschied zwischen den Argumenten, mit denen die Öffentlichkeit gewonnen werden soll – und jenen, die am Ende wirklich zählen. Wäre tatsächlich die leichtere Rekrutierung von Nachwuchs das Kernanliegen von Verdi und Co., hätten die Gewerkschaften besonders auf Verbesserungen für die Jüngeren bestanden. Wäre es ihnen um die Qualifizierung des Personals für neue Aufgaben gegangen, hätten sie eine Verknüpfung von höherer Bezahlung und Teilnahme an Fortbildung angestrebt …  So endet dieser Konflikt mit einer Ruhigstellung: nämlich derjenigen älteren Aktivisten, die das Gros der Mitglieder, also auch der Streikenden stellen.«

Nun muss man allerdings einschränkend anmerken, dass es sich bislang nur um eine Empfehlung der Schlichter handelt, die von beiden Seiten angenommen und entsprechend vertraglich umgesetzt werden muss. Und es ist klar, dass die Kröte, die die Gewerkschaft zeitlicher schlucken muss, für nicht wenige Mitglieder zu groß ist. Insofern besteht ein erheblicher Diskussionsbedarf innerhalb der Gewerkschaften, ob man diesen Schlichtungsspruch akzeptieren soll. Aus Sicht der Führungsebene beider Gewerkschaften besteht daran aber gar kein Zweifel mehr, man muss seine Bodentruppen jetzt nur in diese Richtung bewegen. Denn eine Ablehnung würde bedeuten, dass man erneut in den Arbeitskampf ziehen müsste, und ganz offensichtlich hat die Führungsebene kalte Füße bekommen, was die Zielerreichungswahrscheinlichkeit in diesem Konflikt angeht.

Auch wenn es immer so schön heißt, dass man hinterher schlauer ist, muss an dieser Stelle doch der Hinweis darauf gegeben werden, dass man angesichts der beschriebenen überaus schwierigen Konstellationen bereits vorher zu der Erkenntnis hätte kommen können, dass man sich diesen Arbeitskampf wirklich mehrmals überlegen sollte.

Bei der Streikdelegiertenversammlung der Gewerkschaft Verdi hat es erwartbar viel Unmut und wohl auch Ablehnung gegeben. Die Reaktion darauf ist organisationspolitisch rational: Man lässt jetzt alle abstimmen und damit die sich mit der Sache vertraut machen können, wird jetzt erst einmal vier Wochen diskutiert und abgestimmt. Und dann muss man wissen, dass für eine Annahme des Schlichtungsergebnisses eine Zustimmung von 25 Prozent ausreichen würde.

Ein Bestandteil des Schlichterspruchs ist besonders perfide für die Gewerkschaften: Gemeint ist hier die vorgesehene Laufzeit von fünf langen Jahren. In dieser Zeit würde dann also an der Front der Eingruppierungssystematik Ruhe herrschen. Und wenn man ganz schlecht drauf ist, dann kann man hinsichtlich der im Schlichtungsspruch enthaltenden Erhöhungen der Tarife (die allerdings nicht für alle Beschäftigtengruppen, sondern nur für einige) auch dadurch weiter relativieren, dass man ein Szenario an die Wand wirft, das so aussieht:  Im nächsten Frühjahr, wenn die nächste normale Tarifrunde ansteht, werden die kommunalen Arbeitgeber versuchen, einen Teil der jetzigen Erhöhungen durch eine entsprechende Dämpfung bei der dann zugestandenen Erhöhung  für alle kommunal Beschäftigten wieder zurückzuholen. Aber das ist natürlich nur ein Szenario.

Erzieherinnen als „Müllmänner 2.0“? Der Kita-Streik stellt mehrere Systemfragen gleichzeitig

Auch wenn es übertrieben formuliert erscheint: Wir stehen vor einem historischen Moment. Weit über 90 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder von ver.di und GEW und auch denjenigen, die im Deutschen Beamtenbund organisiert sind, haben sich für einen unbefristeten Arbeitskampf ausgesprochen. Wir sprechen hier von Erzieher/innen und anderen Beschäftigten der kommunalen Kindertageseinrichtungen. Die Medienmaschinerie läuft an und produziert überall solche Meldungen: Ab Freitag bleiben viele Kitas zu: »Rund 150 Kitas werden am Freitag in Rheinland-Pfalz geschlossen bleiben. Schwerpunkte sind die Regionen Koblenz, Rheinhessen mit Mainz und die Pfalz.« Die Streiks in Rheinland-Pfalz sollen nach und nach ausgeweitet werden. Am Dienstag, dem 12. Mai, wird es einen landesweiten Streiktag geben, zu dem alle Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst bei den Kommunen aufgerufen werden. So oder ähnlich kann man es aus vielen Regionen Deutschlands hören und lesen. Der Streik ist unbefristet und kann nach Angaben der Gewerkschaften mehrere Wochen dauern. Sie fordern eine finanzielle Aufwertung der Sozial- und Erziehungsberufe unter anderem durch eine deutlich höhere Eingruppierung. Der nun anlaufende Kita-Streik ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil mit ihm mehrere „Systemfragen“ verbunden sind.

Den Gewerkschaften geht es um eine deutliche Anhebung der Vergütungen für die Fachkräfte in den kommunalen Kindertageseinrichtungen, wobei das Besondere darin besteht, dass nicht eine prozentuale Erhöhung der gegebenen tariflichen Vergütung gefordert wird, sondern die Fachkräfte sollen um mehrere Stufen nach oben gehoben werden. In der Gesamtschau würde das Vergütungsniveau um 10 % ansteigen müssen, die betroffenen Kommunen bzw. ihre Spitzenverbände geben an, dass dies Mehrkosten in einer Bandbreite von 500 Mio. bis 1,2 Milliarden € zur Folge hätte.

Zur Begründung für diesen erheblichen Vergütungssprung wird vor allem auf zwei Aspekte verwiesen: Zum einen sei das Aufgabenprofil der pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen in den vergangenen Jahren erheblich ausgeweitet wie auch vom Anspruch her gesehen angehoben worden. Dies stellt vor allem auf die Tatsache ab, dass die Kindertageseinrichtungen in den vergangenen Jahren, vor allem seit der Rezeption der Pisa-Ergebnisse, zu Bildungseinrichtungen deklariert worden sind (die sie auf dem Papier schon immer waren, denn das Kinder- und Jugendhilfegesetz, also das SGB VIII, spricht seit jeher von dem frühpädagogischen Dreiklang aus Bildung-Betreuung und Erziehung). Aber unbestreitbar ist, dass sich seit dem vergangenen Jahrzehnt sowohl die Erwartungen der Politik an die Kindertageseinrichtungen hinsichtlich des Bildungsauftrags nach oben verschoben haben (so gibt es in allen Bundesländern so genannte Bildungspläne bzw. Bildungsempfehlungen für die Kitas), wie aber auch auf Seiten eines (wachsenden) Teils der Eltern, die sehr viel Wert legen auf die Bildungselemente in der frühpädagogischen Arbeit. Diese Entwicklung korrespondiert mit einer intensiven Auseinandersetzung über die Bedeutung der ersten Lebensjahre vor dem Schuleintritt für die weitere Bildungslaufbahn der Kinder und in jeder Sonntagsrede zu diesem Thema wird das besonders hervorgehoben.

Hinzukommt unbestreitbar eine erhebliche Veränderung der Belastungsprofile der Arbeit der pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen. Dies zum einen dadurch, dass in den vergangenen Jahren, vor allem in Westdeutschland, immer mehr jüngere Kinder in die Kindertageseinrichtungen aufgenommen werden (müssen), die ganz andere Anforderungen an die Arbeit der Fachkräfte stellen hinsichtlich der Betreuungsintensität wie auch der Bildungsaufgaben, die dieser Altersgruppe angemessen sind. Hinzu kommt eine deutliche Zunahme der Ganztägigkeit, also immer mehr Kinder, die anders als früher nicht nur vier oder fünf Stunden in der Einrichtung verbleiben, sondern teilweise sieben Stunden oder noch länger.

Vor diesem Hintergrund wird derzeit argumentiert, dass das Niveau der Vergütung der pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen, das tatsächlich im Vergleich über alle Bildungsstufen derzeit am niedrigsten ist, eigentlich auf das Niveau der Grundschullehrer angehoben werden müsste. An dieser Stelle ist eine erste „Systemfrage“ zu diagnostizieren: Eine Umsetzung dieser Forderung würde unweigerlich zu einem Konflikt innerhalb der bestehenden Hierarchie der gegebenen Ausbildungssysteme führen, denn die Kritiker dieser Forderung verweisen sofort darauf, dass die – sicherlich sehr anspruchsvolle und teilweise bis zu fünf Jahre umfassende – Ausbildung der Erzieherinnen als eine fachschulische Ausbildung nicht vergleichbar sei mit dem Studium, dass Grundschullehrer zu absolvieren haben. Die überaus ausgeprägte Hierarchie unseres Ausbildungssystems wird dann daran erkennbar, dass die im Vergleich geringere Vergütung der Grundschullehrer gegenüber den Lehrern an weiterführenden Schulen ebenfalls damit begründet wird, dass sie nicht das gleiche Studium wie beispielsweise ein Gymnasiallehrer absolviert haben. Insofern wird hier zum einen grundsätzlich die Ausbildungsfrage aufgeworfen, zum anderen bekommen wir hier ein wenig Licht in das „Schattendasein“ der fachschulischen Ausbildung in Deutschland, die neben der üblicherweise im Mittelpunkt der Diskussion stehenden „dualen Ausbildung“ sowie der an Hochschulen steht. Die fachschulische Berufsausbildung, zu der beispielsweise auch die meisten Gesundheitsberufe gehören, ist eine Domäne der Frauen.
Insofern wird hier auch als eine weitere „Systemfrage“ die Diskussion über den Stellenwert und die Ausgestaltung „typischer“ Frauenberufe aufgeworfen.

Aber damit noch lange nicht genug. Der nun anlaufende unbefristete Kita-Streik wirft zugleich eine fundamentale „Systemfrage“ auf, die sich zugleich als zentrale „Achillesferse“ des Kita-Streiks erweisen könnte, wenn man sie nicht mitdenkt bzw. parallel adressiert: die Finanzierungsfrage der – teilweise völlig unterschiedlich ausgestalteten – Kita-Finanzierungssysteme in den Bundesländern.

Vereinfachend und zuspitzend formuliert: Die derzeit bestehenden Finanzierungssysteme der Kindertageseinrichtungen in den einzelnen Bundesländern weisen trotz aller Unterschiede Zwei zentrale Schwachstellen auf. Zum einen müssen wir von einer erheblichen Unterfinanzierung des Kita-Systems ausgehen. Schon vor vielen Jahren hat die Wirtschaftsorganisation OECD als Soll-Vorgabe für eine ausreichende finanzielle Ausstattung des Elementarbereichs einen Wert in Höhe von einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes der jeweiligen Volkswirtschaft vorgegeben, in Deutschland kommen wir derzeit auf etwa 0,6 %. Dabei handelt es sich keineswegs um eine „Wünsch dir was“-Größe, sondern skandinavische Länder erreichen diese Größenordnung und auch unser Nachbarland Frankreich kommt in die Nähe dieses Werts. Anders ausgedrückt: In Deutschland müssten mehrere Milliarden Euro zusätzlich zu den bereits getätigten Ausgaben aufgewendet werden, um nach diesen Maßstäben eine angemessene Finanzausstattung erreichen zu können.

Neben der Unterfinanzierung von besonderer Bedeutung gerade auch mit Blick auf den nun anlaufenden großen Kita-Streik ist die eklatante Fehlfinanzierung des Systems der Kindertagesbetreuung in Deutschland.  Diese Finanzierung lässt sich vereinfachend so beschreiben: Über alle Bundesländer hinweg tragen die Kommunen mindestens 60 % der Kosten der Kindertagesbetreuung. Betrachtet man nun auf der anderen Seite die monetär bezifferbaren Nutzen aus der Kindertagesbetreuung, vor allem in Form der Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, die nicht nur von den Beschäftigten im Kita-System generiert werden, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass die Eltern, vor allem die Mütter, durch die Bereitstellung dieser Infrastruktur überhaupt erst in die Lage versetzt werden, einer Teilzeit- oder gar Vollzeitbeschäftigung nachgehen zu können, aus der wiederum Steuern und Sozialversicherungsbeiträge generiert werden,  dann wird man zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die Hauptnutznießer auf der Ebene des Bundes und vor allem der Sozialversicherungen zu verrotten sind. Würde man nun ein rationales Finanzierungskonzept zugrundelegen, dann müssten diese Hauptnutznießer auch entsprechend an der Regelfinanzierung der Kindertageseinrichtungen (sowie der Kindertagespflege, die in der Diskussion oftmals vergessen wird) beteiligt werden. Das ist heute aber keineswegs der Fall, der Bund ist erst seit einigen Jahren an der Finanzierung vor allem des Ausbaus der Betreuungsangebote für die unter dreijährigen Kinder beteiligt. Die Sozialversicherungen überhaupt nicht. Seit Jahren wird vor diesem Hintergrund eine regelgebundene anteilige Finanzierung der Betriebskosten der Kindertageseinrichtungen (sowie der Ausgaben für die Kindertagespflege) seitens des Bundes gefordert. Entsprechende Modelle, wie man das umsetzen kann, beispielsweise in Form eines Kita-Fonds  sind in den vergangenen Jahren ausgearbeitet worden. Es fehlt schlichtweg der politische Wille, diesen Ansatz umzusetzen.

Vor dem Hintergrund der Forderung der Gewerkschaften und der Lage vieler Kommunen in Deutschland, die sich beispielsweise unter der Haushaltssicherung befinden und mit einer enormen Verschuldung konfrontiert sind, wird schnell erkennbar, das die zentralen und durchaus berechtigten Forderungen der Gewerkschaften, die Vergütungen deutlich anzuheben, in diesem Bereich nur dann wirklich eine Chance auf Umsetzung gekommen werden, wenn die Finanzierungsfrage im Sinne einer Entlastung der Kommunen gelöst wird.

Eine weitere „Systemfrage“ berührt die Gewerkschaften und ihre Strategie als solches. Die älteren Semester werden sich an die 70er und teilweise 80er Jahre erinnern, in denen die damalige Gewerkschaft ÖTV bei Tarifauseinandersetzungen gerne auf die berühmten Müllmänner zurückgegriffen hat, wenn es um die Demonstration der möglichen bzw. tatsächlichen Folgen eines Arbeitskampfes im öffentlichen Dienst ging. Die Nachfolgegewerkschaft Verdi steht heute vor dem Problem, dass die meisten Müllmänner privatisiert worden sind und als Speerspitze eines Arbeitskampfes im öffentlichen Dienst schlichtweg nicht mehr zur Verfügung stehen (können). Es gibt durchaus Strategen im Gewerkschaftslager, die den Erzieherinnen in den Kindertageseinrichtungen angesichts ihrer enorm gewachsenen Bedeutung im gesellschaftlichen Gefüge unseres Landes eine vergleichbare Funktionalität zu schreiben, wie sie früher die Müllmänner im öffentlichen Dienst eingenommen hatten. Die konnten durch einen Arbeitskampf innerhalb einer sehr überschaubaren Frist weite Teile der Bevölkerung empfindlich treffen und damit einen entsprechenden Druck aufbauen, dass die öffentlichen Arbeitgeber in einer Tarifauseinandersetzung einlenken. Es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass man angesichts der die enormen Bedeutung, die die Kindertagesbetreuung heute angesichts der gestiegenen Erwerbstätigkeit der Mütter in unserer Gesellschaft hat, davon ausgehen kann und muss, das Streikaktionen in diesem Bereich zu empfindlichen Einschränkungen führen können und müssen. Vor diesem Hintergrund kann es durchaus Sinn machen, perspektivisch die Erzieherinnen gleichsam zu einer Speerspitze zukünftiger Arbeitskämpfe zu machen, also gleichsam zu „Müllmänner 2.0“.

Auf der anderen Seite kann und darf man nicht übersehen, dass wir gerade in diesem Bereich nicht nur aus gewerkschaftlicher Sicht mit zahlreichen Besonderheiten konfrontiert sind: Zum einen gibt es nicht „die“ Gewerkschaft, die in diesem Bereich alleine für die Interessen der Beschäftigten kämpft, sondern mit Verdi und der GEW zwei DGB-Gewerkschaften und auch der Deutsche Beamtenbund mischt teilweise mit seinen Mitgliedern mit., vor allem hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den beiden DGB-Gewerkschaften Verdi und GEW. Hinzu kommt eine weitere Besonderheit, die auch in den vor uns liegenden Tagen deutlich erkennbar werden wird: Viele Bürger werden aus ihrer Perspektive mehr oder weniger erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass eben nicht „die“ Kitas streiken bzw. gestreikt werden, sondern nur ein Teil der kommunalen Kitas. Man wird dann ebenfalls zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Mehrheit der Kindertageseinrichtungen nicht in kommunaler Trägerschaft betrieben werden, sondern von den so genannten freien Trägern, insbesondere handelt es sich hierbei um konfessionell gebundene Einrichtungen der evangelischen und der katholischen Kirche. In diesen Einrichtungen arbeitet die Mehrzahl der Erzieherinnen, die haben aber aufgrund der Sonderrechte der Kirchen kein Streikrecht. Sie werden in der nun anlaufenden großen Auseinandersetzung lediglich als Zaungäste die Entwicklung begleiten und beobachten können.

Darüber hinaus den Blick wieder gerichtet auf die nun vor einem unbefristeten Streik stehenden Erzieherinnen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen: Es handelt sich im wahrsten Sinne des Wortes um ein „Experiment“, denn so eine Arbeitskampfmaßnahme hat es in der bisherigen Geschichte im Bereich der pädagogischen Fachkräfte von Kindertageseinrichtungen noch nicht gegeben. Im Jahr 2009 gab es bereits über einen längeren Zeitraum zahlreiche Warnstreikaktionen in Kindertageseinrichtungen, die allerdings begrenzt waren auf in der Regel ein bis zwei Tage. Es wird spannend sein, zu verfolgen, wie die Erzieherinnen auf einen längeren Ausstand reagieren werden, vor allem dann, wenn nach ein bis zwei Tagen die am Anfang sicher vorhandene breite Sympathie vor allem bei den Eltern einer heftigen Kritik an den Streikaktionen weichen wird. Es gibt zahlreiche Skeptiker, die befürchten, dass die Erzieherinnen gerade aufgrund ihrer hohen intrinsischen Motivation erhebliche Probleme haben werden, einen längeren Arbeitskampf auch durchzuhalten. Dem wird entgegengehalten, dass es in den vergangenen Jahren eine erhebliche Politisierung vieler Erzieherinnen gegeben hat, dass also die Haltung und die Verfassung vieler betroffener Fachkräfte heute eine andere sei als noch vor ein paar Jahren und man deshalb diesen Schritt wagen könne.

Über all diese inneren Fragen den Kita-Streik betreffend weit hinausreichend ist als eine weitere „Systemfrage“ der Hinweis erlaubt, dass es bekanntlich das so genannte „Lernen am Modell“ gibt. Damit soll an dieser Stelle zum Ausdruck gebracht werden, dass wenn die Erzieherinnen erfolgreich bzw. halbwegs erfolgreich sein sollten mit ihrer unbefristeten Streikaktion, dann wird das auf andere Bereiche ausstrahlen, wo sich mittlerweile ein erheblicher und überaus nachvollziehbarer Druck aufgebaut hat: gemeint ist an dieser Stelle vor allem der ganze Bereich der Pflege, also die Pflegekräfte und ihre wachsende Unzufriedenheit angesichts der teilweise wirklich desaströsen Arbeitsbedingungen, denen sie ausgesetzt sind. Die werden sich dann in absehbarer Zeit auch der Entscheidung ausgesetzt sehen, ob sie in den großen Konflikt gehen werden bzw. wollen bzw. können.

Ist der Internationale Frauentag zum Valentinstag degeneriert? Auf alle Fälle: Jenseits der wenigen Aufsichtsräte spielt sich das wahre Leben ab. Und da geht es oft um über die Runden kommen

Heute ist der Internationale Frauentag – viele salbungsvolle Worte sind gesprochen worden. Und die Verabschiedung der Frauenquote im Bundestag am Freitag (Fußnote: Einer Quote für die Besetzung von Aufsichtsräten in gut 100 großen, börsennotierten Konzernen;vgl. dazu bereits kritisch Erde an Raumschiff Berlin: Die Geschlechterfrage ist weitaus komplexer als man zu glauben meint zu müssen. Vor allem für die vielen unterhalb der Aufsichtsräte sehr großer Unternehmen) wurde dann als passender Beweis des Fortschritts in der „Frauenfrage“ herausgestellt. Auf Twitter gab es dazu von Frank Lübberding einen durchaus nachdenklich stimmenden Tweet.  Der Frauentag auf dem Niveau vom Valentinstag? Eine solche Be- und Abwertung muss man nicht teilen, sehr wohl sollte aber die Perspektive auf die vielen Frauen, die niemals in die Nähe von Aufsichtsratspöstchen kommen werden, sondern deren Hauptbeschäftigung darin besteht, irgendwie über die Runden zu kommen, in den Mittelpunkt gestellt werden. Und gerade für die unter den geschätzt 99,9% der Frauen könnte man viele Beispiele finden.

Die Gewerkschaft GEW hat eines von eben ganz vielen denkbaren Beispielen herausgegriffen und angesichts der sozialpolitischen Relevanz soll das hier aufgerufen werden: Es geht um die Honorarlehrkräfte insbesondere in der öffentlich finanzierten Weiterbildung. Vier von fünf der 150.000 hauptberuflichen Honorarlehrkräfte in der Weiterbildung sind Frauen. »Von den Honoraren bleibt häufig weniger als der Mindestlohn von 8,50 Euro in der Stunde übrig. Damit liegt das Einkommen vieler akademisch qualifizierter Frauen auf Hartz-IV-Niveau.« Sagt die Gewerkschaft in ihrer Pressemitteilung GEW: „Überwiegend Frauensache: prekäre Arbeitsbedingungen in der Weiterbildung“.

Und was wäre eine Gewerkschaft ohne Forderungen?

„Wir fordern ein Mindesthonorar von 30 Euro in der Stunde sowie eine Beteiligung der Arbeitgeber an den Sozialversicherungsbeiträgen, die die Honorarlehrkräfte zahlen müssen“, so wird Frauke Gützkow, für Frauenpolitik verantwortliches GEW-Vorstandsmitglied der GEW zitiert.
Man kann und sollte die Forderung nach einem „Mindesthonorar“ tatsächlich als eine Ergänzung zur Großbaustelle „Mindestlohn“ sehen: »In der Weiterbildung würden Honorarkräfte nur für die Zeit bezahlt, in der sie Kurse geben … Vorbereitung und Nachbereitung des Unterrichts, Beratung von Kursteilnehmerinnen und –teilnehmern sowie Verwaltungstätigkeiten seien in den Honoraren nicht berücksichtigt. Zudem gebe es weder eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall noch beteiligten sich die Arbeitgeber an den Sozialversicherungsbeiträgen der Honorarkräfte.« So die Erläuterung der GEW zu ihrer Forderung.

Und dann kommt ein wichtiger Hinweis auf einen ganz besonderen – und man denke an die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Zuwanderung und der Flüchtlingspolitik ganz besonders brisanten – Teilbereich der Weiterbildungsbranche: die „Integrationskurse“. Dazu die GEW:

„Skandalös ist die Situation der rund 22.000 Lehrkräfte, die Integrationskurse leiten. Viele müssen ihr Einkommen bei einem Durchschnittshonorar von 20 Euro mit Sozialhilfeleistungen aufstocken. In diesem Bereich arbeiten zu 85 Prozent Frauen … So produziert der öffentliche Auftraggeber, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Einkommens- und Altersarmut.“

Die Gewerkschaft weist darauf hin, dass das BAMF eine akademische Qualifikation sowie einen weiteren Nachweis im Bereich Deutsch als Fremdsprache für Lehrkräfte, die Integrationskurse geben, voraussetze.

Zu den Integrationskursen und den dort vorherrschenden wirklich teilweise skandalösen Bedingungen vgl. auch meinen Blog-Beitrag Integration wollen alle. Und Integrationskurse für Migrantinnen werden gekürzt. Das passt nicht. Das gilt auch für die Existenz der pädagogischen Tagelöhner vom 27.02.2015.

Wie gesagt, nur ein Beispiel von ganz vielen über die reale Frauenfrage jenseits der Aufsichtsräte und der Quoten.