Eine Wahl zwischen Pest und Cholera oder doch eine notwendige „Modernisierung“? Der „halbierte“ Wahlsieg von Emmanuel Macron in Frankreich und die Sozialpolitik

Noch ist nichts entschieden. Dieser Beitrag datiert auf den späten Nachmittag des Wahlsonntags in Frankreich, an dem sich Marine Le Pen und Emmanuel Macron in der Stichwahl um das Amt des französischen Präsidenten gegenüberstehen. Erst um 20 Uhr schließen die Wahllokale. Die meisten Auguren sagen einen deutlichen Abstimmungserfolg für Macron voraus, aber zugleich ist doch überall auch eine große Demut vor dem wählenden Citoyen (und vor allem den Nicht- oder Ungültigwählern) zu spüren. Zu tief sitzen noch die Überraschungserfahrungen, die man sowohl bei der Wahl von Donald Trump wie auch bei der Exit-Abstimmung in Großbritannien mit Umfragen hat machen müssen. Deshalb gilt heutzutage dann doch zuweilen das Motto: Die Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Aber dennoch wird hier davon ausgegangen, dass Macron die Wahl mit einem Stimmenanteil von um die 60 Prozent für sich verbuchen wird. Das lenkt den Blick auf die Frage, was denn nach der Wahl von Macron passieren wird bzw. könnte – hier natürlich vor allem hinsichtlich der sozialpolitischen Themen. 

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Ein deutscher Wiedergänger in der französischen Arbeitsmarktpolitik? Der sozialistische Präsident Hollande versucht 2016, den Gerhard Schröder zu machen

Ein Blick über den deutschen Tellerrand ist geboten, schon grundsätzlich, aber mit Blick auf Frankreich im Besonderen. Es geht dabei ja nicht nur um einen unserer Nachbarn, sondern die deutsch-französischen Beziehungen sind für Europa von substanzieller Bedeutung, wie man derzeit in den Untiefen der (Nicht-)Flüchtlingspolitik innerhalb der EU schmerzhaft von deutscher Seite zur Kenntnis nehmen muss. Und die besondere Bedeutung macht sich auch rein ökonomisch bemerkbar. Über viele Jahre hinweg konnte man bei einer Analyse des deutschen Außenhandels gewissermaßen automatisch ohne weitere Prüfung der Daten bei der Frage, wer denn gemessen an den Exporten der wichtigste Handelspartner Deutschlands sei, antworten: Frankreich. In dieses Land wird aus Deutschland am meisten exportiert.

Nun aber muss man erstmals seit 1961 sagen: wurde. Denn das vergangene Jahr markiert eine Zäsur: Frankreich ist nicht mehr Deutschlands größter Kunde: »Die Vereinigten Staaten haben Frankreich nach mehr als einem halben Jahrhundert als wichtigsten Kunden der deutschen Wirtschaft abgelöst. Die deutschen Warenexporte in die Vereinigten Staaten schnellten 2015 um fast 19 Prozent auf 114 Milliarden Euro nach oben … Die Ausfuhren nach Frankreich wuchsen dagegen nur um 2,5 Prozent auf 103 Milliarden Euro.« Diese nackten Zahlen sind nur einer der vielen Hinweise auf die tiefgreifende Krise, in der sich die französische Volkswirtschaft befindet – eine fundamentale Krise, die bis in alle Ecken der französischen Gesellschaft ausstrahlt. Die anhaltend hohe (registrierte) Arbeitslosigkeit verdeutlicht die Malaise – gerade im Vergleich mit den deutschen Werten aus den vergangenen Jahren. Seit 2009 laufen die Kurven auseinander – in Frankreich steigt die Arbeitslosenquote, in Deutschland ist sie deutlich zurückgegangen. 

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Es geht leider nicht einfacher: Das real existierende Wohlstandsgefälle in der EU, eine eigentlich gut gemeinte Richtlinie sowie osteuropäische Billigarbeiter in Frankreich und am Bett von Pflegebedürftigen in Deutschland

Frankreich steht unter erheblichen Druck. Eine offizielle Arbeitslosenquote von über 11%, zunehmende soziale Spannungen, Geländegewinne rechtspopulistischer Strömungen – und gleichzeitig haben Baufirmen oder Großbauern in Frankreich in diesem Jahr etwa 350.000 Arbeiter vorwiegend aus Osteuropa geholt, wie Schätzungen der französischen Arbeitsverwaltung besagen. Europaweit soll eine Million Arbeiter aufgrund der EU-Richtlinie in Partnerstaaten „entsandt“ sein. Frankreich stellt damit ein Drittel dieser „Lowcost-Arbeiter“. Die französischen Unternehmen reagieren damit auf solche für sie verlockenden Angebote, wie Stefan Brändle in seinem Artikel „Feldzug gegen Billigarbeit“ berichtet:

„Sie suchen Flexibilität, niedrige Kosten, Qualität und Legalität?“, fragt die polnische Jobagentur französische Bauunternehmer, um gleich selbst die Antwort zu geben: „Die Lösung für ihre Einstellungen – polnische, lettische, rumänische Interimsarbeiter.“ Solche Angebote finden französische Firmen zuhauf in ihren Briefkästen. Und immer mehr greifen darauf zurück: Osteuropäer werden angeheuert, kosten sie im Durchschnitt doch dreimal weniger – statt rund 20 bloß etwa sechs bis sieben Euro pro Stunde, Sozialabgaben eingerechnet.«

Und das alles sei „völlig legal“. Also muss es dafür eine Grundlage geben – und die wurde im Jahr 1996 in die Welt gesetzt: Es handelt sich um die Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern, auch als „Entsenderichtlinie“ bekannt. Wie so oft erleben wir hier den Mechanismus von gut gemeint und ganz anders gelandet: Die Richtlinie wurde ursprünglich geschaffen, um ins Ausland „entsandte Arbeiter“ besser zu schützen. Gerade Franzosen konnten damit im EU-Ausland arbeiten, ohne die großzügige französische Sozialversicherung zu verlieren. Der EU-Beitritt der osteuropäischen Länder hat dieses Prinzip aber auf den Kopf gestellt. Jetzt wird mit Hilfe dieses Regelwerks schlicht und einfach krasses Lohn- und Sozialabgabendumping betrieben.

Dass über die Entsenderichtlinie sowohl beim Stundenlohn als auch bei den Sozialabgaben massiv „gespart“ werden kann, beschreibt Brändle so:

»Ein Rumäne kostet seinen französischen Arbeitgeber deshalb deutlich weniger, weil die Sozialabgaben in seinem Land viel niedriger sind als in Frankreich. Er hat zwar laut Direktive Anspruch auf den im Land oder der Branche gültigen Mindestlohn. Den erhält er aber nur auf dem Papier: Meist werden davon diverse Ausgaben für Kost und Logis abgezogen – selbst wenn er auf dem Zeltplatz oder im Hühnerstall übernachtet.«

Also noch mal in anderen Worten: Auf der Grundlage der Richtlinie muss man zwar den entsandten Arbeitnehmern z.B. aus Polen oder Rumänien den im jeweiligen Staatsgebiet – falls vorhanden – gültigen gesetzlichen Mindestlohn (oder die bislang in Deutschland in einigen Branchen über das „Arbeitnehmerentsendegesetz“ für allgemeinverbindlich erklärte Branchen-Mindestlöhne) zahlen, was man aber faktisch durch „Rückverlagerung“ angeblicher Kosten auf die Arbeitnehmer sogleich wieder „abschmelzen“ kann.

Von großer Bedeutung sind die Einsparpotenziale aus Arbeitgebersicht bei den Sozialabgaben auf den Faktor Arbeit. Denn die Richtlinie verschließt gerade den Zugang zu dem Sozialversicherungssystem des Ziellandes: Für entsandte Arbeitnehmer gelten hier während der ersten 24 Monate einer Entsendung entsprechend Art. 12 (1) der VO (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit die Bestimmungen des Herkunftslandes. Mit anderen Worten: Die entsandten Arbeitnehmer z.B. aus Rumänien müssten zwar (wie wir gesehen haben oftmals nur formal) nach Mindestlohn bezahlt werden, aber für sie müssen keine Sozialabgaben in dem Land abgeführt werden, in dem sie arbeiten, also in Frankreich oder Deutschland, sondern in ihren Herkunftsländern (und bei vielen Sozialdumpern erfolgt das auch nur eingeschränkt oder nur auf dem sprichwörtlich geduldigen Papier). Für das Unternehmen in dem Zielland ist es ein weiterer Vorteil, dass die entsendenden Agenturen verantwortlich sind für die Einhaltung der Schutzbestimmungen, so dass man Verantwortung immer abdrücken kann. Das erschwert zugleich die Arbeit der Kontrollbehörden. Hierzu Brändle in seinem Artikel:

»Kontrollen der Zollbehörden stoßen regelmäßig an ihre Grenzen, sobald zur Rekrutierung von Arbeitskräften Ketten über mehrere Länder hinweg gebildet werden. Wenn etwa ein französisches Bauunternehmen Arbeiter anheuern will, bedient es sich einer irländischen Jobvermittlerin; diese reicht die Anfrage weiter an eine litauische Firma, die ihrerseits eine polnische Agentur einschaltet, welche die Arbeiter schließlich von einer rumänischen Partnerin bezieht.«

Was aber hat das nun mit der Betreuung von Pflegebedürftigen in Deutschland zu tun, mag sich der eine oder die andere jetzt fragen. Wer das genauer wissen möchte, dem sei hier der wirklich lesenswerte Beitrag „Legal, illegal, fast egal“ von Markus Klohr aus der Stuttgarter Zeitung empfohlen: Etliche Agenturen werben mit billiger Rund-um-die-Uhr-Pflege für Senioren. Das Geschäftsmodell ist lukrativ – aber oft gegen das Gesetz. Dubiose Anbieter nutzen eine Grauzone, die eine EU-Regel eröffnet. Und die Behörden sind meist machtlos.

Schauen wir einmal genauer in den Beitrag hinein.

»24 Stunden Arbeitszeit, an sieben Tagen pro Woche – und das alles für einen Monatslohn von 900 Euro oder noch weniger. Für Tausende Frauen aus Osteuropa sind solche Arbeitsbedingungen Alltag in Deutschland, einer Republik im Pflegenotstand … Fachleute schätzen, dass in Deutschland etwa eine halbe Million Frauen aus Osteuropa leben, die deutsche Senioren zu Hause betreuen … Ein gigantischer Wachstumsmarkt. Und ein Tummelfeld für dubiose Vermittlungsagenturen.«

Klohr zitiert Werner Huptas (57), der vor ein paar Jahren noch selbst Betreuerinnen vermittelt hat. Doch jetzt kann der gebürtige Oberschlesier mit der Billigkonkurrenz nicht mehr mithalten. Seitdem führt er einen Kampf gegen die Billig-Agenturen: „Die Leute müssen wissen, dass für diese Agenturen Senioren nur Renditeobjekte sind“, sagt er. Und dann wird er in dem Artikel mit einer harschen, aber die Realität leider gut treffenden Bemerkung zitiert: Es würden Sozialkassen betrogen, Tarife und gesetzliche Standards ausgehöhlt. Sein Fazit: „Die Behörden dulden die Schattenwirtschaft, weil sie keine einfachen Alternativen sehen.“

Als Beispiel für die entstandene „Schattenwirtschaft wird den Agentur „Promedica Plus“ erwähnt. »Der Tochterbetrieb des polnischen Unternehmens Promedica 24 – nach eigenen Angaben europäischer Marktführer bei der Vermittlung von Betreuungskräften – hat ein deutschlandweites Netz mit vielen örtlichen Franchisepartnern aufgebaut. So wurden nach eigenen Angaben schon rund 17 000 Arbeitskräfte nach Deutschland vermittelt. Promedica Plus wirbt im Internet mit „24-Stunden-Betreuung zu Hause, ab 45 Euro pro Tag“ – also rund 1300 Euro monatlich.« Und der Geschäftsführer des Unternehmens wird zitiert mit den Worten: Man biete den Mitarbeiterinnen „Verdienstmöglichkeiten, die in der Regel weit über denen in ihrer Heimat liegen“.«

Genau das hier erkennbare „doppelte Gefälle“ treibt diesen Menschen-Markt: Die Preise für die Betreuungsleistungen sind aus deutscher Sicht unschlagbar, auf der Basis auch unterster Standards des deutschen Sozial- und Arbeitsrechts nur für einige wenige sehr reiche Menschen finanzierbar, zum anderen sind die Hungerlöhne hier für die Betroffenen zu Hause immer noch „viel“ Geld, also vergleichsweise gemessen an dem, was sie dort erwirtschaften können, wenn sie überhaupt eine Erwerbsarbeit finden.

„Bei jedem Angebot einer ‚entsendeten‘ Rund-um-die-Uhr-Pflegekraft zum Preis von 1.600 oder 1.800 Euro pro Monat kann es nicht mit rechten Dingen zugehen“. Mit dieser Aussage zitiert Klohr den Bundesverband Europäischer Betreuungs- und Pflegekräfte (BEBP).

Die Basis des Promedica-Modells und das anderer Agenturen heißt – „Arbeitnehmerentsendung“. Womit wir wieder beim Thema wären. Allerdings ist dieser Bezug nach Ansicht der Finanzkontrolle Schwarzarbeit auf dem Pflege- und Betreuungssektor höchst fragwürdig. Das liegt daran, dass die entsandten Arbeitnehmer (eigentlich) nicht an Anweisungen ihrer deutschen Kunden gebunden werden dürfen, denn das Weisungsrecht verbleibt beim entsendenden Unternehmen, z.B. in Polen. Was natürlich total lebensfremd ist, worauf ich bereits in einer frühen Phase der Debatte über die Problematik der osteuropäischen Pflege- und Betreuungskräfte in Deutschland hingewiesen hatte.

Sell, S. (2010): Abschied von einer „Lebenslüge“ der deutschen Pflegepolitik. Plädoyer für eine „personenbezogene Sonderregelung“ und für eine aktive Gestaltung der Beschäftigung von ausländischen Betreuungs- und Pflegekräften in Privathaushalten (= Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 09-2010), Remagen, 2010

In der Praxis sieht es aber so aus, dass die betreuten Senioren und deren Familien faktisch als Arbeitgeber auftreten – ohne dass sie dafür aber Steuern und Abgaben in Deutschland entrichten.
Klohr weist in seinem Artikel auf ein zweites Problem der Agentur-Modelle hin: Die Agentur darf nur Arbeitnehmer ins EU-Ausland entsenden, wenn ihr Kerngeschäft und ihr Stammpersonal – laut EU-Richtlinie mindestens 25 Prozent – im Herkunftsland sind. Es sei nicht im Sinne der Richtlinie, „wenn Unternehmen gegründet werden, nur um Mitarbeiter ins Ausland zu entsenden und Sozialabgaben zu sparen“, so ein Sprecher des Zolls.

Und mit Blick auf Forderungen nach „mehr Kontrolle“ sollte man nicht vergessen, dass es sich um einen zahnlosen Tiger handelt, denn: Die Unverletzlichkeit der Wohnung verhindert das, was dem Zoll bei Großbaustellen oft die größten Schlagzeilen bringt: Kontrollen ohne Anlass oder Verdacht, bei denen Kommissar Zufall eine wichtige Rolle spielt, kommen bei privaten Betreuungsmodellen nicht infrage.

Ein weiterer problematischer Befund: Mittlerweile hat »die Billigkonkurrenz den legalen Vermittlungsmarkt fast verdrängt. Die Diakonie in Stuttgart etwa stellt die Vermittlung von Hilfskräften im Projekt Fair-Care ein. „Wir wollten zeigen, dass es auch legale Wege gibt“, sagt Maria Simo von der Diakonie. Aber die Nachfrage sei inzwischen gleich null.«

Könnte es eine legale Form der Beschäftigung geben – und zu welchem Preis? Auch dazu finden wir in dem Artikel von Klohr Hinweise, die wiederum von Werner Hupkas stammen:

»Rund 2.200 Euro muss den Familien ihre Pflegekraft schon wert sein. Dafür werden die Frauen dann direkt bei den Familien angestellt, Sozialbeiträge und Lohnsteuer werden regulär abgeführt – und: die Frauen sind bei schweren Unfällen oder Krankheiten regulär versichert. Für die Frauen selbst bleiben unterm Strich 1.000 bis 1.200 Euro – plus Kindergeld aus der deutschen Staatskasse …«
Allerdings auf Basis einer zu vereinbarenden Arbeitszeit von 38,5 Stunden pro Woche. Eine „24-Stunden-Pflege“ ist schlichtweg nicht legal möglich.

Mittlerweile – der „Markt“ funktioniert – haben sich die Modelle, über die die Helferinnen vermittelt werden, immer subtiler ausdifferenziert. Frauen kämen als Scheinselbstständige mit einem Gewerbeschein nach Deutschland. Selbst Hausärzte würden inzwischen Pflegekräfte an Patienten vermitteln – ihr Vertrauensverhältnis nutzend. Real Business halt.

Und nun abschließend wieder zurück zu den Franzosen. Was tun? Stefan Brändle berichtet:

»Die EU-Kommission hat zwar schon vor Monaten eine Reform angeboten. Paris will die Entsenderichtlinie aber von Grund auf revidieren … Die Kontrollen sollen europaweit durchgeführt werden; auch soll der Auftraggeber … verantwortlich werden, wenn die Vermittlungsagenturen die sozialen Mindeststandards nicht einhalten.«

Warten wir also mal ab, ob aus den Brüsseler Mühlen was rauskommt für die Betroffenen. An einem grundsätzlichen Treiber – auch anderer Formen der armutsbedingten Migration – ändert das alles nichts: An dem wirklich massiven Wohlstandsgefälle innerhalb des „einheitlichen Binnenmarktes“ namens EU. Das sichert den Nachschub an Billigarbeitskräften. Und schafft Arbeitsplätze für Kontrolleure, deren Tätigkeit oftmals den Charakter einer frustrierenden Don Quichoterie haben.