Noch ist nichts entschieden. Dieser Beitrag datiert auf den späten Nachmittag des Wahlsonntags in Frankreich, an dem sich Marine Le Pen und Emmanuel Macron in der Stichwahl um das Amt des französischen Präsidenten gegenüberstehen. Erst um 20 Uhr schließen die Wahllokale. Die meisten Auguren sagen einen deutlichen Abstimmungserfolg für Macron voraus, aber zugleich ist doch überall auch eine große Demut vor dem wählenden Citoyen (und vor allem den Nicht- oder Ungültigwählern) zu spüren. Zu tief sitzen noch die Überraschungserfahrungen, die man sowohl bei der Wahl von Donald Trump wie auch bei der Exit-Abstimmung in Großbritannien mit Umfragen hat machen müssen. Deshalb gilt heutzutage dann doch zuweilen das Motto: Die Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Aber dennoch wird hier davon ausgegangen, dass Macron die Wahl mit einem Stimmenanteil von um die 60 Prozent für sich verbuchen wird. Das lenkt den Blick auf die Frage, was denn nach der Wahl von Macron passieren wird bzw. könnte – hier natürlich vor allem hinsichtlich der sozialpolitischen Themen.
An den Anfang dieses Beitrags sollen vorab einige allgemeine Anmerkungen gestellt werden. Das Staats- und Wahlsystem in Frankreich unterscheidet sich fundamental von dem in Deutschland. Gerade die heutige Stichwahl zeigt, welche polarisierende Kraft ein Mehrheitswahlrecht hat, das am Ende immer auf die Wahl zwischen (nur noch) zwei Kandidaten zuläuft. Alle anderen Kandidaten sind zwischenzeitlich vom Schlachtfeld gefegt worden und deren Anhänger stehen am Ende vor der Aufgabe, sich einem der verbliebenen Kandidaten entweder anzuschließen oder aber auf eine Beteiligung an der Wahl zu verzichten.
2017 hat Frankreich einen wirklich neuartiges Stadium erreicht – der Parteilose Emmanuel Macron trifft in der Stichwahl auf die Rechtsradikale Marine Le Pen. Die beiden bislang das System dominierenden Volksparteien, Sozialisten und konservative Republikaner, wurden an den Katzentisch verbannt. Aber: Macron ist ohne politische Hausmacht in der derzeitigen Nationalversammlung, die im Juni neu gewählt wird – deshalb auch der Begriff eines „halbierten“ Wahlsiegs. Und dass er bis zur Wahl so etwas wie eine funktionsfähige Partei auf die Beine stellen kann, sei hier mal mit einem großen Fragezeichen dahingestellt.
Claus Leggewie hat schon im April 2017 diese Entwicklung in den Mittelpunkt seines Beitrags Emmanuel Macron und der Niedergang der fünften Republik gestellt. Seine persönliche Schlussfolgerung: »Im Grunde ist eine Verfassungsreform überfällig, weg von der Präsidialrepublik hin zu einem stärker parlamentarisch geprägten System.« Unabhängig davon diagnostiziert er: Die drei Hauptstützen der derzeitigen 5. Republik erweisen sich als stark ramponiert:
»Der Machtwechsel zwischen Linken und Rechten beruhte auf der ziemlich krisenfesten Garantie gut bezahlter Arbeit und einem hohen, durch beachtliche Privatvermögen ausstaffierten Konsumniveau, abgesichert durch eine selbstbewusste Arbeitnehmerschaft und einen breiten Mittelstand sowie einem ausgebauten Wohlfahrtsstaat … Inzwischen haben der harte globale Wettbewerb, der unwiederbringliche Verlust des Großmachtstatus dem republikanischen Konsens ebenso die Grundlagen entzogen wie das Erstarren der Arbeitsbeziehungen: Frankreichs Volkswirtschaft ist mit 20 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, 100 Prozent Staatsverschuldung und einer Vielzahl abgehängter Industrieregionen in einer zähen Malaise gefangen. Und die Repräsentanten des „Systems“ machen sich mit einem unverschämten Klientelismus immer angreifbarer … Die Unzufriedenen sammelt neben dem linksnationalen Jean-Luc Mélenchon vor allem Marine Le Pen ein.«
Interessant – gerade mit Blick auf sozialpolitische Themen – ist die Einschätzung von Leggewie vor dem ersten Wahldurchgang, was den offiziellen Kandidaten der (noch) regierenden Sozialisten betrifft:
»Chancenlos ist wohl der Überraschungssieger der sozialistischen Vorwahlen, Benoît Hamon. Und das, obwohl er mit einem ebenso anspruchsvollen wie umstrittenen Projekt beeindruckt: dem bedingungslosen Grundeinkommen. Damit hat er eine interessante sozialpolitische Debatte angestoßen, die vom traditionellen Linkskeynesianismus wegführt und sich auch nicht in Reformen des Typs Blair-Schröder-Hollande erschöpft. Hamon verkörpert einen juvenilen Politikstil und die offenbar unverzichtbare Distanz zur politischen Klasse – obwohl er ein Mann des Parteiapparates ist. Zudem setzt er deutliche ökologische Akzente.«
So ist es dann ja auch gekommen. Er bekam nur knapp über 6 Prozent der Stimmen.
Und dann war da ja noch der Linksparteichef Jean-Luc Mélenchon. Zu ihm schrieb Leggewie: »Dieser präsentiert ein prononciert linkspopulistisches Projekt mit im Kern nationalstaatlichem Fokus. Europäisch ist es nur insofern, als es seine Bündnispartner in Südeuropa, bei Syriza oder Podemos sucht. Mit diesem recht rigiden „Lepenismus von links“ dürfte Mélenchon ein zweistelliges Ergebnis erreichen.« So ist es dann ja auch gekommen im ersten Wahldurchgang. Es waren fast 20 Prozent.
Und Macron? Emmanuel Macron aus der „leeren Mitte“, so hat das Leggewie in seinem Artikel formuliert. Der früh aus der glücklosen sozialistischen Regierung ausgetretene ehemalige Wirtschaftsminister hatte erst im April 2016 die Bewegung „En marche!“ gegründet. Zu seiner Person erfahren wir, dass er wie die anderen Mitglieder der französischen Oberschicht an der Eliteschmiede ENA studiert hat, er wurde hoher Beamter im Finanzministerium und wechselte in das Bankhaus Rothschild, bis Präsident Hollande den damals 36-jährigen Parteilosen ins Wirtschafts- und Industrieministerium berief. »Dort beschnitt er uralte Privilegien von Notaren, privatisierte den Busverkehr, erlaubte Sonntagsarbeit in Warenhäusern und mokierte sich über den aufgeblähten Beamtenapparat«, berichtet Leggewie.
Gerade weil in den letzten Tagen auch in Deutschland eine interessante Debatte geführt wurde, dass nun „selbstverständlich“ alle für Macron sein müssten, um Le Pen zu verhindern. Für viele Franzosen war das heute sicher kein einfacher Wahlgang, wenn sie denn zur Wahl gegangen sind. Jens Berger hat seinen Beitrag dazu unter diese Überschrift gestellt, die sich direkt an das deutsche Publikum richtet: Stellen Sie sich vor, Sie hätten nun die Wahl zwischen Frauke Petry und Christian Lindner. Berger verweist in seinem Beitrag auch auf eine Alternative zu dem, was wir in der heutigen Stichwahl zwischen Macron und Le Pen gesehen haben:
»Was wäre passiert, wenn Benoit Hamon, der komplett aussichtslose Kandidat der Sozialisten, vor der ersten Wahlrunde seine Wähler aufgerufen hätte, ihre Stimme aus taktischen Gründen doch lieber dem inhaltlich ganz ähnlich aufgestellten linken Kandidaten Jean-Luc Melénchon zu geben und die Sozialistische Partei (PS) dafür bei den Parlamentswahlen im Juni zu wählen? Wäre nur die Hälfte der 6,4% der Franzosen, die Hamon ihre Stimme gegeben haben, dieser Empfehlung gefolgt, hätte nicht Le Pen, sondern Mélenchon die zweite Runde erreicht und sehr gute Chancen gehabt, in zwei Wochen in den Élysée-Palast einzuziehen. Zusammen mit der Linkspartei hätte die PS dafür in den Parlamentswahlen die besten Chancen gehabt, eine Mehrheit zu bekommen, um die Politik eines Präsidenten Mélenchon zu stützen. So hätte es kommen können.«
Jetzt haben wir aber eine ganz andere Situation, was – wieder einmal – auf strategische Schwächen bzw. der Zersplitterung auf der linken Seite des politischen Spektrums verweist (vgl. dazu auch den Beitrag von Julien Mechaussie: Die französische Linke. Eingekeilt zwischen Sozialisten und Front National).
Nun also möglicherweise eine Revolution von rechts, so die Überschrift eines Artikels von Hansgeorg Hermann. Und auch hier werden wir mit altbekannten und enttäuschenden Mustern von der politischen Linken versorgt. Zu Macron schreibt Hermann: »Sein Mentor, der ihn in die Politik geholt hat und im August 2015 zum Finanzminister machte, ist der scheidende Präsident François Hollande. Als Wahlkämpfer hatte er 2012 auch scharf angefangen. In einer berühmten Rede im Pariser Banlieue-Bezirk Bourget hatte er erklärt: „Unser Feind ist das Finanzwesen.“ Das saß, die linke Wählerschaft liebte diesen Hollande, der offenbar gegen die Macht des Geldes antreten wollte.« Wir wissen, wie es weitergegangen ist.
„Macron ist noch schlimmer als Le Pen“, derart zuspitzend beschreibt ein Artikel von Bernadette Mittermeier die Probleme vieler junger Wähler in Frankreich, denn man muss wissen: »30 Prozent der Wähler unter 35 stimmten für den linken Kandidaten Jean-Luc Mélenchon, er wurde in dieser Altersgruppe stärkste Kraft.« Und nicht nur die, auch andere leiden: »Warum fällt es den Linksintellektuellen so schwer, Macron zu wählen? Ein Gespräch mit Tristan Garcia, dem Wunderkind des neuen französischen Denkens«, so Tobias Haberkorn zur Einleitung eines Interviews mit Tristan Garcia. Garcia wird in der Pariser Intellektuellenszene gefeiert Mit gerade mal Mitte dreißig hat er schon dreizehn Bücher veröffentlicht, sechs philosophische und sieben belletristische, in denen er die Gedanken von Alain Badiou und Quentin Meillassoux zu einer eigenen Form philosophischer Lebensdeutung jenseits der Theorie fortführt.
Es sind wichtige Aspekte, die Garcia anspricht – schon vor dem Wahlsieg Macrons, den wir heute Abend serviert bekommen werden: »Le Pen wird alles Rassistische herunterfahren und sich voll auf die Konfrontation zwischen der „schützenden“ Nation und dem „gefährlichen“ Globalisierungseuropa einschießen. Sie hat eine gut geölte Parteimaschinerie hinter sich, außerdem steht die Öffentlichkeit heute viel weiter rechts als damals. Im Grunde haben die Reaktionären in den letzten fünfzehn Jahren einen politischen Sieg nach dem anderen eingefahren. Wahlen sind dabei gar nicht das Entscheidende, es kommt auf die gesellschaftliche Deutungshoheit an.«
Und was sagt er zu Macron – den er übrigens als „kleineres Übel“ heute wählen wird?
»Macron verkauft Widersprüche. Sein Programm ist eine diffuse Mischung aus liberalen Schockmaßnahmen und populistisch-protektionistischen Versprechungen. Wenn er wirklich Steuern und Abgaben senken will, wird er für einen schützenden Staat wenig tun. Im Grunde würde er das Gleiche tun wie Hollande – nur nicht so verdruckst … Macron … sagt: Schaut her, es gibt ein Frankreich der Führungskräfte, der Gutverdiener, der Europafreunde. Diesem Frankreich geht es gut!«
Wird man Widerstand seitens der Gewerkschaften erwarten dürfen? Die Befunde über deren Zustand sind wenig vielversprechend: »Die französische Gewerkschaftsbewegung befindet sich in ihrer größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Mitgliederverlust, Zersplitterung und fundamentale Auseinandersetzungen über die strategische Orientierung haben die Gewerkschaften in der Vergangenheit enorm geschwächt. Aufgrund ihres geringen Organisationsgrads und der nur schwach ausgeprägten betrieblichen Verankerung fällt es ihnen schwer, die Interessen der Beschäftigten außerhalb von großen (ehemaligen) Staatsbetrieben und der Staatsbürokratie zu vertreten. Zugleich fehlen den Gewerkschaften Antworten auf die arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen des Landes. Ihre politischen Kämpfe sind oftmals Verteidigungskämpfe, die über ein Festhalten an bestehenden Strukturen nur selten hinausgehen.« So Felix Syrovatka: Die Krise der französischen Gewerkschaften. Warum sie im Wahljahr 2017 politisch so schwach wie selten zuvor sind, 2017.
Und Felix Syrovatka hat eine weitere Studie vorgelegt, die sich explizit mit Macron beschäftigt: Die Rückkehr der Modernisten. Der untypische Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron und seine Bewegung «En Marche!», 2017.
Macron »gilt als der Kopf hinter der unternehmensfreundlichen Wirtschaftspolitik der derzeitigen sozialistischen Regierung. Das sogenannte CICE-Programm, das Unternehmen von steuerlichen Abgaben in Höhe von 30 Milliarden Euro pro Jahr befreite, konzipierte er noch als Präsidentschaftsberater. Damals überzeugte er François Hollande, von seinem nachfrageorientierten Wirtschaftskurs abzuweichen. Das nach ihm benannte «Loi Macron» dagegen verantwortete er bereits als Wirtschaftsminister. Das umfangreiche Reformprojekt beinhaltete eine ganze Reihe an Maßnahmen, unter anderem eine Flexibilisierung des Kündigungsschutzes und eine Lockerung der Nacht- und Sonntagsarbeit. Auch Teile der umstrittenen Arbeitsrechtsreform «Loi El Khomri» sind durch das Wirtschaftsministerium und auf Initiative von Emmanuel Macron zustande gekommen.«
Zu dem von Syrovatka angesprochenen „Loi El Khomri“ vgl. auch den Blog-Beitrag Ein deutscher Wiedergänger in der französischen Arbeitsmarktpolitik? Der sozialistische Präsident Hollande versucht 2016, den Gerhard Schröder zu machen vom 20. Februar 2016.
Ende August 2016 trat Macron von seinem Posten als Wirtschaftsminister zurück. Er machte damals deutlich, dass er eine radikalere Reformpolitik durchgesetzt hätte, jedoch durch die Regierung und Präsident Hollande gestoppt worden sei.
Felix Syrovatka versorgt uns mit weiteren Informationen: »Macron gibt sich modern, weltgewandt, unkonventionell und als ein Vertreter der «Generation Erasmus». Er sieht sich als Anführer progressiver und pragmatischer Kräfte, die er zu einer «dritten Kraft» formieren möchte, um «Blockaden» zu überwinden und das Land mithilfe technokratischer Ansätze und modernster Methoden reformieren zu können … Sein linksliberales Profil sowie die programmatische Schwerpunktsetzung auf Chancengleichheit, Freiheit und Sicherheit machen ihn für breite Wählerschichten rechts und links der politischen Mitte attraktiv. Als Kandidat des liberalen und kosmopolitischen Pols erhält Emmanuel Macron vor allem aus den Reihen der Sozialdemokratie und den Grünen starke Unterstützung.«
Bei einem Blick auf die Unterstützer Macrons sollte man die beiden französischen Ökonomen Jacques Attali und Jean Pisani-Ferry.
»Beide genießen in Frankreich ein hohes Ansehen und ihre Meinung wird breit rezipiert. Attali, ehemaliger Präsidentschaftsberater von François Mitterand und einer der wichtigsten Vordenker des französischen Neoliberalismus, hatte einen enormen Einfluss auf die Karriere von Macron und hat inzwischen eine Wahlempfehlung für seinen «engen Freund» abgegeben. Jean Pisani-Ferry ist noch einen Schritt weitergegangen. Der renommierte Volkswirt und ehemalige Chef der europäischen Denkfabrik BRUGEL hat zur Unterstützung von Emmanuel Macron seinen Job als Präsidentschaftsberater von Hollande aufgegeben und sich Macrons Wahlkampfteam angeschlossen. Er hat große Teile des Wahlprogramms von «En Marche!» zu verantworten.« (Syrovatka 2017: 5. Er meint hier offensichtlich nicht BRUGEL, sondern Bruegel, einen europäischen think tank mit Sitz in Brüssel, da war Jean Pisani-Ferry tatsächlich Direktor).
Das Programm von Macron definiert mit Bildung, Arbeit, Wirtschaft, Sicherheit, Außenpolitik und Demokratie sechs Schlüsselsektoren für den gesellschaftlichen Umbau. Neun zentrale Vorhaben werden benannt (vgl. dazu Syrovatka 2017: 6-8), hier wird auf die sozialpolitisch relevanten Punkte fokussiert:
1. Verbesserung der Grundschulbildung:
Die Mehrzahl der geplanten Maßnahmen im Bildungsbereich konzentriert sich auf die ersten drei Grundschuljahre. Um das Versprechen «gleicher Startbedingungen» … einzuhalten, will Macron den Hebel dort ansetzen, wo die grundlegenden Fähigkeiten vermittelt werden. Dafür sollen die Grundschulen mehr Freiheiten in der Lehrplangestaltung und bei der methodischen Umsetzung erhalten. In «Problemvierteln» wie den Pariser Banlieues will Macron die Klassenstärke in den ersten beiden Grundschuljahren auf zwölf SchülerInnen begrenzen, um sicherzustellen, dass jedes Kind die Grundlagen der französischen Sprache erlernt. Dafür sollen zusätzliche LehrerInnen ausgebildet werden und deren Bezahlung soll deutlich erhöht werden. Ebenso sieht das Programm die Wiedereinführung von zweisprachigen Klassen, eine verstärkte Förderung von Nachhilfeunterricht sowie eine Modernisierung des Zentralabiturs vor.
2. Entlastung von Unternehmen und Aktivierung von Arbeitssuchenden:Macron sieht die Arbeitsmarktpolitik als zentrale Stellschraube seiner Wirtschaftspolitik. Massenarbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung werden als größtes Problem in Frankreich identifiziert und ihre Ursachen in angebotspolitischen Barrieren und Hürden verortet. Macron will Unternehmen steuerlich entlasten und Selbstständigkeit fördern. Bürokratische Hürden sollen abgebaut und Steuerfreibeträge verdoppelt werden. Ziel der Maßnahmen ist es, die Arbeitskosten zu reduzieren und somit Einstellungen zu erleichtern. Die Einstellung von Geringqualifizierten und MindestlohnverdienerInnen soll durch einen Wegfall von Sozialabgaben gefördert werden. Überstunden etwa sollen von Sozialabgaben ausgenommen und steuerlich besser gestellt werden. Die dadurch entstehenden Ausfälle in den Sozialkassen will Macron durch eine Erhöhung der Sozialsteuer CSG ausgleichen.Parallel ist eine stärkere «Aktivierung» von Arbeitssuchenden geplant. Die finanzielle Mittel der Arbeitsämter (pôle emploî) sollen ebenso wie die Personaldecke aufgestockt werden, um eine stärkere Kontrolle und Überwachung von LeistungsbezieherInnen zu gewährleisten. Dazu will Macron auf die arbeitsmarktpolitischen Rezepte von Nicolas Sarkozy zurückgreifen. Dieser hatte Anfang 2008 eine Änderung der Arbeitslosenversicherung durchsetzen können, welche stärkere Aktivierungsmechanismen beinhaltete … Aufgrund des Personalmangels in den Arbeitsämtern konnte diese jedoch nie wirklich im geplanten Umfang umgesetzt werden. Macron schließt nun daran an. «Aktivierungs- und Sanktionselemente» in der Arbeitslosenversicherung sollen verstärkt und ausgebaut werden. Jedem, der zwei Arbeitsangebote ablehnt oder dessen «Intensität der Jobsuche» den Arbeitsämtern nicht ausreichend erscheint, soll die Arbeitslosenunterstützung vollständig gestrichen werden können. Zudem plant Macron eine Verstaatlichung der bisher durch die Konfliktparteien verwalteten Arbeitslosenversicherung und ihre Universalisierung. Künftig sollen auch ArbeitnehmerInnen, die von sich aus kündigen, sowie Bauern, Selbstständige, HandwerkerInnen etc. Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung haben.
Und sagt er programmatisch auch was zur Rente?
3. Vereinheitlichung des Rentensystems: Macron plant, gleich nach seinem Amtsantritt mit den Konfliktpartnern über eine Vereinheitlichung der verschiedenen, berufsgruppenspezifischen Rentensysteme zu verhandeln. Notare, Beamte, Bergbauarbeiter, die Beschäftigten der Staatsbahn oder des Betreibers des Pariser öffentlichen Nahverkehrs RATP verfügen derzeit über eigene, historisch gewachsene Rentensysteme, die oftmals deutlich bessere Leistungen anbieten als die normale staatliche Rentenversicherung. Macron hat vor, die 37 Sonderrentensysteme in das normale Rentensystem einzugliedern und anzugleichen.
Das Wahlprogramm verspricht, die öffentlichen Ausgaben nach Vorgaben der europäischen Institutionen auf 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) zu senken. Das bedeutet Einsparungen von 60 Mrd. Euro, darunter 15 Mrd. Euro im Gesundheitswesen sowie 25 Mrd. Euro im öffentlichen Dienst und in der Verwaltung.
Syrovatka (2017: 8 -9) bilanziert:
»Das Wahlprogramm von Emmanuel Macron kann grob als linksliberal charakterisiert werden … Es umfasst sowohl neoliberale und progressive als auch konservative Elemente. Letztere finden sich primär im Bereich der Sicherheitspolitik, wo auf eine klassische rechte Law-und-Order-Argumentation zurückgegriffen wird … Das wirtschaftspolitische Programm von «En Marche!» … verknüpft … nachfrage- und angebotsorientierte Maßnahmen … viele andere Maßnahmen im Wahlprogramm von Macron haben eine angebotspolitische Schlagseite. Vor allem die geplante Steuerreform sieht fast ausschließlich Entlastungen für die Arbeitgeberseite vor, vorwiegend für die großen Konzerne aus Industrie und Hochfinanz. Insgesamt zielen viele der wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf eine Stärkung der exportorientierten Unternehmen und des produzierenden Gewerbes sowie auf eine Entlastung des Finanzkapitals. Unterstrichen wird die stark angebotspolitische Ausrichtung durch das Gros der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Vorschläge. Man setzt in erster Linie auf eine Kostenreduzierung der Ware Arbeitskraft und auf eine Flexibilisierung der Löhne «nach unten». Lohnkosten werden als zentrale Stellschraube zu Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs auf dem Weltmarkt und auf dem europäischen Binnenmarkt angesehen … Damit knüpft das Programm … im Prinzip an das an, was Macron in seiner Funktion als Wirtschaftsminister von 2014 bis August 2016 unter Präsident Hollande verfolgt hat. Sowohl das «Loi Macron» als auch das «Loi El Khomri» hatten in erster Linie eine Senkung der Lohnkosten zum Ziel. Insgesamt erinnern die vorgesehenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen an die Reformagenden der sozialdemokratischen Regierungen in Deutschland und Großbritannien in den 1990er und 2000er Jahren.«
Bei allen diesen Punkten bleibt neben der ewigen Frage nach der Differenz zwischen Theorie und Praxis die zentrale Frage, mit wem der neue Präsident Macron diese Punkte im Parlament durchzusetzen gedenkt. Nach dem Wahlsieg am 7. Mai 2017 wird es keine Pause geben, sondern alle Augen werden sich auf die Parlamentswahlen im Juni richten. Und da sind sie dann wieder, die alten Parteien. Und die Front National, die heute scheinbar eine Niederlage eingefahren hat. In Wirklichkeit einen weiteren Etappensieg, denn fast 40 Prozent der Wähler werden Marine Le Pen gewählt haben.