An sich gute Nachrichten aus der Schattenwirtschaft. Wenn da nicht die Flüchtlinge wären, von denen Gefahr droht. Aber ist das wirklich so?

Es ist schon eine Krux mit dieser Schattenwirtschaft. Im vergangenen Jahr sollte sie steigen – „natürlich“ wegen dem Mindestlohn. Das ist jetzt nicht wirklich passiert, „natürlich“ wegen der „guten Konjunktur“. Aber bloß nicht ausruhen und freuen, denn nun sind es – „natürlich“ – die Flüchtlinge, die den positiven Trend gefährden. Spiegel Online bilanziert forsch: Das sei so, „weil viele Flüchtlinge illegal beschäftigt werden“. Klingt für viele auf den ersten Blick auch nachvollziehbar, aber kann man das dem Material wirklich entnehmen?

Zum Hintergrund: Jedes Jahr veröffentlicht das Institut für angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) mit Sitz in Tübingen in Zusammenarbeit mit dem an der Universität Linz lehrenden Schattenwirtschaftsexperten Professor Friedrich Schneider Modellberechnungen zum Umfang der „Schattenwirtschaft“. Darunter versteht man Schwarzarbeit, aber auch illegale Beschäftigung (beispielsweise illegale Arbeitnehmerüberlassung) sowie weitere illegale Tätigkeiten.

Anfang Februar 2015 veröffentlichten die Forscher ihre Modellberechnungen für 2015 unter der Überschrift Langfristiger Rückgang der Schattenwirtschaft kommt zum Stillstand.
Darin findet man den Hinweis, „steigende Sozialbeiträge und die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 € (verstärken) die Anreize, in der Schattenwirtschaft zu arbeiten.“ Allerdings wurden auch gegenläufige Effekte gesehen: „Die robuste Situation auf dem Arbeitsmarkt und das geringe, aber positive erwartete Wirtschaftswachstum üben einen dämpfenden Effekt auf das Ausmaß der Schattenwirtschaft aus.“

Zum Einfluß des damals gerade erst eingeführten Mindestlohns schrieben die Wissenschaftler differenzierter:

»Der am 1. Januar 2015 eingeführte Mindestlohn in Höhe von 8,50 € wird die Schattenwirtschaft nach den Modellrechnungen um 1,5 Mrd. € erhöhen. Ergänzende Berechnungen auf der Basis des Sozio-ökonomischen Panels zeigen, dass in Bereichen mit hohem Vorkommen von Schwarzarbeit (persönliche Dienstleistungen, Landwirtschaft, Gaststätten und Hotels und Teile der Bauwirtschaft) vor der Einführung des Mindestlohns vielfach Löhne unter 8,50 € gezahlt wurden. Dies galt für knapp 40 % der Beschäftigten. Die gesamte zur Einhaltung des Mindestlohns notwendige Lohnsteigerung in diesen Bereichen beträgt 7 Mrd. €, also ein Mehrfaches des prognostizierten Anstiegs der Schattenwirtschaft. Nach der Modellschätzung wird also nur ein relativ kleiner Teil der notwendigen Anpassungen durch ein Ausweichen in die Schattenwirtschaft umgangen.«

Gut, da war eben der gegenläufige Effekt durch die „gute Konjunktur“ stärker, so dass man davon nicht wirklich was merken konnte.

Und wie sieht es nun mit den Flüchtlingen aus? Was schreiben die Forscher in ihrem neuesten Bericht, der unter der Überschrift Gute Arbeitsmarktlage reduziert erneut die Schattenwirtschaft erschienen ist?

»Der Beschäftigungsanstieg auf dem offiziellen Arbeitsmarkt sowie das positive Wirtschaftswachstum werden im Jahr 2016 zu einem Rückgang der Schattenwirtschaft um ca. ein Prozent führen. Das Verhältnis von Schattenwirtschaft zu offizieller Wirtschaft reduziert sich dadurch auf 10,8. Andere Einflüsse machen sich kaum bemerkbar.«

Ja und die Flüchtlinge nun?

Spiegel Online klärt uns auf:

»Der Rückgang der Schwarzarbeit könnte den Studienautoren zufolge allerdings durch den Flüchtlingszuzug abgebremst werden. Sie rechnen verschiedene Modelle durch, denen zufolge zwischen 100.000 und 300.000 Flüchtlinge illegal beschäftigt sein werden, etwa als Putzkraft oder Hilfsarbeiter auf dem Bau. „Wegen der fehlenden Deutschkenntnisse vieler Schutzsuchender ist es wahrscheinlich, dass es zunächst Jobs im Niedriglohn-Sektor sein werden“, sagt Schneider.
Am plausibelsten sei wohl die Zahl 300.000. Das entspräche einer Wertschöpfung von 2,16 Milliarden Euro. „Die Flüchtlinge sind monatelang in ihren Unterkünften zum Nichtstun verdammt, also ist es doch naheliegend, dass sie irgendwann raus wollen und sich als Schwarzarbeiter verdingen“, sagt der Linzer VWL-Professor.«

In der schriftlichen Fassung von Schneider und IAW (2016) liest sich das – nun ja – irgendwie weniger aufregend:

„Flüchtlinge und Schattenwirtschaft: verlässliche Prognose nicht möglich“, schreiben sie auf Seite 2 des neuen Berichts. Warum das?

»Der Zustrom an arbeitsfähigen Personen erhöht das potenzielle Angebot an Arbeitskräften. Allerdings ist eine Modellabschätzung noch nicht möglich, zumal die Zusammensetzung des Flüchtlingsstroms noch nicht bekannt ist.«

Das Problem kennen andere Akteure, die sich mit der Flüchtlingsfrage beschäftigen, zur Genüge.

Was hat man also gemacht? Projektionen hat man gemacht:

»Um eine Vorstellung über mögliche Größenordnungen zu gewinnen, wurde eine Projektion der Schattenwirtschaft von Asylbewerbern und Flüchtlingen vorgenommen. Nach Angaben des IAB ist 2016 infolge der Zuwanderung mit einer Erhöhung des (legalen) Erwerbspersonenpotenzials um 380.000 Personen zu rechnen. Hinzu kommen diejenigen, deren Asylantrag noch bearbeitet wird oder die in Deutschland bleiben, obwohl ihr Asylantrag abgelehnt wurde. Nach einer Abschätzung ist insgesamt mit ca. 800.000 Personen im erwerbsfähigen Alter zu rechnen.
Nimmt man an, dass 25 % dieser Personen in der Schattenwirtschaft tätig werden, so ergibt sich unter weiteren Annahmen über Arbeitsumfang und Entlohnung eine zusätzliche Wertschöpfung von knapp 1,5 Mrd. Euro.«

Der aufmerksame Leser wird erkannt haben, dass Spiegel Online eine höhere Wertschöpfung aus einem der Szenarien zitiert, während die Autoren selbst mit 1,5 Mrd. Euro darunter bleiben. Und nein, wir fragen jetzt nicht, warum man annimmt, dass 25 Prozent eine Tätigkeit in der Schattenwirtschaft aufnehmen werden. Projektionen leben von den Annahmen, die man macht.

Aber auch wenn es 25 Prozent sein sollten, worüber man streiten kann – die Ergebnisse in der Veröffentlichung von Schneider und IAW klingen nun wirklich eher ernüchternd:

»Nimmt man an, dass 25 % dieser Personen in der Schattenwirtschaft tätig werden, so ergibt sich unter weiteren Annahmen über Arbeitsumfang und Entlohnung eine zusätzliche Wertschöpfung von knapp 1,5 Mrd. Euro … Dieses zusätzliche Volumen der Schattenwirtschaft ist aber geringer als die für 2016 prognostizierte Abnahme der gesamten Schattenwirtschaft. Dies gilt auch für alternativ aufgestellt Szenarien.«

Wie man daraus „Doch der Trend gerät in Gefahr – weil viele Flüchtlinge illegal beschäftigt werden“ machen kann, wie in dem zitierten Spiegel Online-Artikel, bleibt ein Geheimnis des Mediums. Vielleicht hat man sich da aber auch nur gedacht, diese forsche Interpretation passt in den Zeitgeist. Und hängen bleibt bekanntlich oftmals das, was ganz oben steht. Und das aus einigen Annahmen herausdestillierte Diktum „weil viele Flüchtlinge illegal beschäftigt werden“ steht direkt unter der Artikelüberschrift, es wird sich einprägen und passt sicher derzeit vielen ins Weltbild.

Die Flüchtlinge in der Bruttowelt der Kostenrechner und das – wie so oft vergessene – Netto

„Die“ Flüchtlinge „kosten“ 50 Milliarden Euro bis Ende des kommenden Jahres. Aber kosten sie das wirklich? Oder doch weniger oder mehr? Fragen über Fragen.

Immer diese unvollständigen Botschaften könnte einem in den Sinn kommen, wenn man solche Überschriften liest: Studie beziffert Kosten der Flüchtlingskrise auf 50 Milliarden Euro: »Verpflegung, Unterkunft, Integration: Der Staat könnte bis Ende kommenden Jahres knapp 50 Milliarden Euro für Flüchtlinge ausgeben müssen. Eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft bestätigt bisherige Schätzungen.« Wer sich das Original anschauen möchte, der wird beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft fündig: Tobias Hentze und Holger Schäfer: Flüchtlinge – Folgen für Arbeitsmarkt und Staatsfinanzen. IW-Kurzberichte 03/2016, Köln 2016.
Das Institut schreibt dazu: »Steuergelder in erheblichem Umfang sind erforderlich, um den Flüchtlingen Unterkunft und Verpflegung sowie eine Perspektive zur Integration bieten zu können. Das verschärft den Druck auf die öffentlichen Kassen.« Dort werden aber auch die Annahmen offen gelegt, die den nun veröffentlichten Schätzwerten zugrunde liegen.

Die Zahlen an sich sind nicht wirklich neu oder überraschend, die Prognose des Kölner Instituts liegt in einer ähnlichen Größenordnung wie eine Analyse des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) aus dem Dezember (vgl. dazu Institut für Weltwirtschaft (IfW): Simulation von Flüchtlingskosten bis 2022: Langfristig bis zu 55 Mrd. € jährlich, Kiel, 11.12.2015) sowie eine Schätzung der Wirtschaftsweisen (die in ihrem Jahresgutachten 2015/16, das im November 2015 veröffentlicht wurde, auf der Basis von Szenarien zu dem Ergebnis gekommen sind, »dass die Flüchtlingsmigration zu direkten jährlichen Bruttoausgaben für die öffentlichen Haushalte in Höhe von 5,9 bis 8,3 Mrd Euro im Jahr 2015 und 9,0 bis 14,3 Mrd Euro im Jahr 2016 führt. Angesichts der guten Lage der öffentlichen Haushalte sind diese Kosten tragbar. Längere Asylverfahren und eine schlechtere Arbeitsmarktintegration dürften die Kosten merklich erhöhen.« Damit gehören sie zu der sehr kleinen Gruppe derjenigen, die völlig zu Recht von „Bruttoausgaben“ sprechen). Die Kieler Ökonomen waren im Dezember auf der einen Seite noch zu deutlich höheren Werten gekommen, allerdings gab es bei ihnen auch eine erhebliche Bandbreite der geschätzten Kosten: Von 22 Mrd. Euro „im günstigsten“ bis hinauf zu 55 Mrd. Euro „im ungünstigsten Fall“.

Schauen wir uns die neuen Werte des IW einmal genauer an:

»Laut dem IW Köln werden im laufenden Jahr für Unterbringung und Verpflegung von rund 1,5 Millionen Asylbewerbern 17 Milliarden Euro anfallen. Hinzu kämen fünf Milliarden Euro für Sprach- und Integrationskurse. 2017 erhöhten sich die Unterbringungskosten auf 22,6 Milliarden Euro – unter der Annahme, dass die Zahl der Flüchtlinge auf 2,2 Millionen steigt. Zusammen mit den Integrationskosten fielen im Wahljahr 2017 also 27,6 Milliarden Euro an«, so der Artikel Studie beziffert Kosten der Flüchtlingskrise auf 50 Milliarden Euro.

Es geht hier jetzt gar nicht um die Tatsache, dass das erhebliche Mittel sind, die erst einmal aufgebracht werden müssen – und Gegner der Flüchtlingspolitik werden mit Freude das hier vorgetragene „Kostenvolumen“ zitieren, um darüber die Belastung „der“ einheimischen Bevölkerung zu belegen (das wird dann befördert durch solche Überschriften ohne eine aber notwendige Differenzierung: Flüchtlinge kosten Deutschland 50 Milliarden Euro). Es geht hier auch nicht um die Frage, wie die notwendige Mittelaufbringung seitens des Staates organisiert wird, obgleich das eine spannende und überaus wichtige Frage wäre, denn tatsächlich kann man die These vertreten, dass „die“ Bevölkerung durchaus sehr ungleich belastet werden wird, wenn ceteris paribus im gegebenen System besteuert wird. Nicht umsonst haben wir auch unabhängig von der Debatte über die Flüchtlinge eine Diskussion über alternative Ansätze der Besteuerung, um die Lastenverteilung zu korrigieren, beispielsweise durch eine veränderte Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung oder auch eine höhere Belastung der oberen Einkommen angesichts der gegebenen und sich verstärkenden Ungleichheitsstrukturen.

Hier geht es um einen anderen Aspekt: Ökonomisch korrekt und eben nicht von nur nebensächlicher Bedeutung wäre der Hinweis, dass man hier die Bruttokosten zu bilanzieren versucht in Form einer Schätzung. Und wie jeder Arbeitnehmer weiß: brutto ist nicht gleich netto.

Ein Blick auf die einzelnen Posten, die zu den Kosten führen, lässt erkennen, worauf ich hinaus will: Wenn Gelder ausgegeben werden für die Unterbringung der Flüchtlinge, für die Sprachkurse usw., dann löst sich dieses Geld ja nicht in Luft aus, sondern es gibt eine Gegenseite, auf der es verbucht werden muss. Davon wird eingekauft, Personal bezahlt, daraus werden Steuer- und Sozialabgaben generiert, die wieder an den Staat zurückfließen. Genau, interessant wäre eine Auseinandersetzung, was die Bruttokosten in einer ersten, zweiten und möglichen weiteren Runden an positiven ökonomischen Effekten auslöst. Und man kann sicher sein: die Nettokosten sehen dann schon ganz anders aus. Dass man diesen Hinweis aber in der aktuellen Berichterstattung (noch) nirgendwo finden kann, ist eine nicht zu unterschätzende Achillesferse der ökonomischen Diskussion über „die“ Kosten, die mit den Flüchtlingen (wahrscheinlich) verbunden sind. Und die hohen Bruttokosten bleiben bei vielen hängen als eine negative Folge der Zuwanderung.

Damit kein Missverständnis entsteht: Kosten werden in einer erheblichen Größenordnung anfallen, die von der Allgemeinheit der Steuerzahler und der Beitragszahler in den Sozialversicherungen generiert werden müssen – und man sollte die Bevölkerung keinesfalls im Unklaren darüber lassen, dass sich diese Kosten nicht werden vermeiden lassen. Vor allem dann nicht, wenn unter „den“ Flüchtlingen eben auch viele, z.B. Kinder oder Mütter mit kleinen Kindern, sind, die auf absehbare Zeit nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen werden und deren Versorgung folglich aus anderen Quellen erfolgen muss. Hinzu kommt unbestreitbar, dass viele an sich erwerbsfähige Zuwanderer aus den Hauptgruppen der Flüchtlinge über keine relevante oder nur sehr eingeschränkt hier bei uns verwertbare Qualifikation verfügen, was eine Arbeitsmarktintegration sehr schwierig erscheinen lässt. Aber auch, wenn man den „Qualifizierungsweg“ gehen würde, also möglichst viele gerade der jüngeren Flüchtlinge erst einmal nach einem aufwendigen Sprachkurs in eine deutsche Berufsausbildung platziert, werden diese Menschen auf Jahre auf staatliche Unterstützung angewiesen sein, die sie dann – wenn es mit der Ausbildung klappen sollte – in den späteren Jahren um ein Vielfaches werden abzahlen werden.

Aber bei allem berechtigten Blick auf die Kosten, die jetzt und in der vor uns liegenden Zeit anfallen (werden), sollten wir nicht vergessen, dass den Kosten immer auch Einnahmen an anderer Stelle gegenüberstehen und von dort aus ebenfalls weitere Wachstumsimpulse in die Volkswirtschaft hineingegeben werden. Diese Seite wird derzeit sträflich vernachlässigt bzw. vollständig ausgeblendet.

Wir werden erneut Zeugen einer volkswirtschaftlichen Entleerung der ökonomischen Diskussion, wenn man denn von der „alten VWL“ ausgeht, die sich über Kreislaufwirkungen, Multiplikatoreffekte usw. noch bewusst war.

Nachtrag (16.02.2016): Dieter Wermuth hat das Thema in seinem Beitrag Flüchtlinge zwingen den Staat zu einem Konjunkturprogramm aufgegriffen und macht folgende Rechnung auf: Auch er geht von den seitens des IW gemeldeten 50 Mrd. Euro bis Ende 2017 aus.

»Wenn ich zunächst davon ausgehe, dass es keine Flüchtlinge zu betreuen gibt, wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2016 gegenüber 2015 überschlägig um 106 Milliarden Euro, im nächsten Jahr um 110 Milliarden Euro zunehmen. Ich nehme hier an, dass das nominale BIP sowohl 2016 als auch 2017 gegenüber dem Vorjahr jeweils um 3,5 Prozent zunimmt, also so rasch wie im Jahr 2015. Ich nehme weiterhin an, dass der Staat wie in der Vergangenheit etwa 44 Prozent des zusätzlichen BIP als Einnahmen verbuchen kann – ergibt ein Plus von rund 95 Milliarden Euro, einfach durch normales Wachstum.
Und jetzt die Flüchtlinge! Gegenüber seinen ursprünglichen Annahmen muss der Staat für sie auf einmal 50 Milliarden Euro mehr ausgeben. Dadurch nimmt das nominale BIP nicht um jeweils 3,5 Prozent, sondern schätzungsweise um zweimal 4,5 Prozent zu, was insgesamt einem Zusatz-Output von 92 Milliarden Euro entspricht und bei einer Abgabenquote von 44 Prozent zu staatlichen Zusatzeinnahmen von 40,5 Milliarden Euro führt.«

Wermuths Fazit: Auf Bund, Länder, Kommunen und Sozialversicherungen kommen netto jährliche Zusatzausgaben von etwa fünf Milliarden Euro zu.

Die Vermeidung von Ghettoisierung durch Landverschickung? Residenzpflicht, Wohnsitzauflage: Zur Diskussion über eine Einschränkung der Wohnortwahl für Flüchtlinge

„Es ist nicht gut, wenn sich fast alle anerkannten Flüchtlinge und Asylbewerber in wenigen Städten und Ballungsräumen konzentrieren, denn dann wird die Integration dort schwieriger.“ Mit diesen Worten wird die Oberbürgermeisterin der Stadt Ludwigshafen und zugleich Präsidentin des Deutschen Städtetages, Eva Lohse (CDU), in dem Artikel Städtetagpräsidentin befürwortet Residenzpflicht zitiert. Und viele werden dieser Aussage auf der allgemein gehaltenen Ebene sicher voll zustimmen können. Man muss sich nur die erheblichen Probleme anschauen, die man in bestimmten Städten in bestimmten Stadtteilen hat. Und wenn nun auch noch die vielen Flüchtlinge in nur wenige meist größere Städte drängen, in denen wir bereits vor ihrer Ankunft massive Probleme beispielsweise im Wohnungsbereich hatten, dann muss man nicht lange überlegen, einer ausgewogeneren Verteilung dem Grunde nach zuzustimmen.

Allerdings liegt der Teufel mal wieder im Detail, denn: Viele Flüchtlinge und Asylbewerber lassen sich in Orten nieder, wo bereits Angehörige und Landsleute leben. Syrer wollen oft nach Berlin, Afghanen nach Hamburg. Wenn man das nicht (mehr) will, dann muss man steuern, lenken und natürlich auch die Frage beantworten (können), was man denn zu tun gedenkt, wenn sich die Menschen, um die es hier geht, nicht daran halten, was man ihnen auferlegt.

Beschränkungen hinsichtlich des Wohnortes gibt es derzeit nur für Asylbewerber im Verfahren und Geduldete, solange sie nicht selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Anerkannte Flüchtlinge hingegen können frei ihren Wohnort wählen. Nun aber wird seit einigen Tagen immer intensiver eine Debatte geführt um die Frage, ob man die Wohnortwahl auch für die anerkannten Asylbewerber restriktiver gestalten soll:

Regierungssprecher Steffen Seibert wird mit den Worten zitiert, es werde derzeit „intensiv geprüft“, ob Wohnsitzauflagen für anerkannte und subsidiär geschützte Flüchtlinge ausgedehnt werden sollten.

»Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) argumentierte, die Wohnsitzauflage werde gebraucht, sonst zögen alle in die Großstädte „und wir kriegen richtige Ghetto-Probleme“. Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte bereits für solch eine Auflage plädiert.«

Auch andere beteiligen sich an der Diskussion: Bundesagentur für Arbeit will Asylbewerbern Wohnort vorschreiben, kann man beispielsweise lesen: Angeblich hat sich die BA mit einem vertraulichen Schreiben an den saarländischen Innenminister Klaus Bouillon gewandt, der derzeit Vorsitzender der Innenministerkonferenz ist. Darin wir nach Medienberichten seitens der BA für eine dreijährige Residenzpflicht für Asylbewerber votiert. »Flüchtlinge sollten demnach nur dann ihren Wohnsitz ändern können, wenn sie woanders im Bundesgebiet eine Wohnung und einen Arbeitsplatz fänden. Seit 1. Januar muss jeder Asylbewerber an seinem Wohnort bleiben – allerdings nur für drei Monate.« In dem Schreiben warnt die BA, »durch ungesteuerten Zuzug könne es zu einer Gettoisierung insbesondere in Metropolregionen wie Berlin kommen. Außerdem drohten Parallelgesellschaften.«

Anna Reimann hat in ihrem Artikel Flüchtlinge aufs Land – was das bedeuten würde die unterschiedlichen Aspekte der aktuellen Diskussion aufzudröseln versucht:
»Bei der aktuellen Diskussion geht es genau genommen nicht um eine Residenzpflicht, sondern um eine Wohnsitzauflage. Reisen dürften die anerkannten Flüchtlinge ja innerhalb Deutschlands trotzdem, sie müssten – etwa nach Vorstellung der BA – nur an einem bestimmten Ort leben.«
Sie weist allerdings auch darauf hin, dass die nun von vielen beklagte Konzentration der Zuwanderer nach ihrer Herkunft aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann:

»Für die neuen Flüchtlinge bedeutet das: Wenn man etwa als Syrer überall auf Arabisch durchkommt, in Geschäften, beim Friseur – dann gibt es natürlich weniger Anreize, Deutsch zu lernen, aus seiner Gruppe herauszutreten, sich mit der neuen Kultur auseinanderzusetzen. Dieses Problem verschärft sich natürlich, je größer eine Gruppe im Vergleich zu der anderen Bevölkerung ist.
Andererseits: Wer sich wohlfühlt und von Landsleuten aufgefangen wird, kann sich möglichweise auch leichter öffnen und integrieren.«

Sie zitiert Olaf Kleist vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück: „Die Tatsache, dass Menschen aus dem gleichen Herkunftsland dicht zusammenleben, ist nicht automatisch ein Problem“. Im Gegenteil: Solche Netzwerke seien hilfreich und „ein Teil von Integration“. Und ebenfalls in die Zeugenstand der Skeptiker gerufen wird Hannes Schammann, Juniorprofessor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim: „An der Entstehung von ethnischen Kolonien würde allein eine Wohnsitzauflage sicher nichts ändern. Auch auf dem Dorf kann es sich für Migranten wie ein Ghetto anfühlen, wenn sie zusammen in mehreren Häuserblocks untergebracht werden.“

Wenn man trotz dieser skeptischen Einwürfe an einer Steuerung der Wohnortwahl festhält, muss man sich mit dem folgenden Hinweis von Anna Reimann auseinandersetzen: »Aus dem Osten Deutschlands zum Beispiel sind die Menschen in den vergangenen Jahrzehnten scharenweise weggezogen, es gibt dort in manchen Gegenden noch immer weniger Jobs, eine schlechtere Infrastruktur. Was sollen nun Flüchtlinge dort?«

Laut Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit haben in der Vergangenheit mehr als 60 Prozent der Flüchtlinge ihre erste Stelle in Deutschland durch persönliche Netzwerke gefunden. Auch seien die Beschäftigungsquoten von anerkannten Flüchtlingen aktuell in den Städten höher als auf dem Land.

Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die beabsichtigte Steuerung eher über Anreizsysteme zu versuchen. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund setzt in der Diskussion auf ein weicheres Anreizsystem: Erleichterungen, etwa beim Familiennachzug, sollten Flüchtlinge ermuntern, in ländlichere Gegenden zu ziehen. Einige Wissenschaftler plädieren für Anreize wie beispielsweise Qualifizierungsangebote in Gemeinden, wo bestimmte Fachkräfte gesucht werden – aber auch Hilfe bei der Job- und Wohnungssuche.

Aber auch wenn man trotz dieser Aspekte an dem Vorhaben festhalten möchte, die Wohnortwahl einzuschränken: Dann stellt sich die Frage, ob eine Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge mit dem internationalen Recht der Genfer Flüchtlingskonvention konform gehen würde.

Daniel Thym, Professor für Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Kodirektor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht (FZAA) glaubt, dass Wohnsitzauflagen grundsätzlich rechtlich möglich seien. Dazu sein Warten auf den EuGH. Artikel Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge.  Dort zeigt er am Beispiel der Wohnsitzauflage, »wie komplex die Rechtsordnung gerade im Bereich des Ausländer- und Asylrechts geworden ist, wenn dieses durch eine wilde Gemengelage von nationalem und überstaatlichem Recht geprägt wird.«
Eine Wohnsitzauflage bei einem Sozialleistungsbezug wurde in Deutschland über lange Jahre praktiziert. In Form von wohnsitzbeschränkenden Nebenbestimmungen zur Aufenthaltserlaubnis wurden Flüchtlinge, die Sozialleistungen beziehen, jeweils zum Aufenthalt in einem bestimmten Bundesland verpflichtet. Aber: Diese Praxis wurde vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) im Jahr 2008 als Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention gewertet (vgl. hierzu BVerwG 1 C 17.07 vom 15.01.2008). Allerdings nicht – wie Thym ausführt – »aufgrund des Art. 26 GFK zum Freizügigkeitsrecht, sondern wegen Art. 23 GFK zur öffentlichen Fürsorge, weil die damalige Praxis die Wohnsitzauflage an den Sozialleistungsbezug knüpfte.« Das ist kein trivialer Punkt, vor allem nicht, wenn man an die notwendigerweise zu beantwortende Frage der Sanktionen bei Verweigerung der Steuerungsbemühungen denkt.

Unabhängig davon, ob man die in der Entscheidung des BVerwG im Jahr 2008 offensichtlich zugrundeliegende Annahme, dass das Gebot der Inländergleichbehandlung bei der öffentlichen Fürsorge nach Art. 23 GFK nicht nur die Leistungshöhe betrifft, sondern auch die Modalitäten der Leistungsgewährung, also ganz konkret die freie Wahl des Wohnorts, wo man Sozialleistungen beansprucht, teilt oder eher als „übergriffig“ interpretiert wie Thym das in seinem Artikel macht, muss zugleich mit Thym darauf hingewiesen werden, dass eine Wohnortzuweisung möglich wäre:

»Das BVerwG erkannte nämlich ausdrücklich, dass eine Wohnsitzauflage aus nicht näher bezeichneten „integrationspolitischen Gründen“ möglich bleibt.«

Wenn man diesem Ansatz folgen würde, »dann müsste andere Anknüpfungspunkte als der Sozialleistungsbezug gewählt werden, etwa der fehlende Integrationskurserfolg oder ein zu geringes Sprachniveau«, so Thym. Und weiter: »So würde Flüchtlingen auch ein Anreiz gegeben, die Integrationsangebote zu nutzen – und die Aufhebung der Wohnsitzauflage im Erfolgsfall könnte ein wichtiger Inhalt einer möglichen Integrationsvereinbarung sein.«
Und es ist nicht so, dass man hier keine Erfahrungswerte hat – die allerdings ebenfalls skeptisch stimmen. Hierzu Daniel Thym:

»Um vor den Gerichten bestand zu haben, sollte eine Wohnsitzauflage die Freizügigkeit möglichst wenig einschränken. So könnte man nur negativ verbieten, in bestimmten „belasteten“ Orten einen Wohnsitz zu nehmen. Die Freizügigkeit wäre grundsätzlich gewährleistet und nur der Zuzug in bestimmte Städte oder Landkreise untersagt. Gerade eine solche negative Pflicht müsste im Zweifel aber auch vollzogen werden, zumal die Flüchtlingsregistrierung zeigt, dass die Betroffenen den zugewiesenen Aufenthaltsort teils einfach verlassen.
Ganz ähnlich scheiterte bereits in den siebziger Jahren eine von den Bundesländern verhängte Zuzugssperre für „überlastete Siedlungsgebiete“ mit einem Ausländeranteil von mehr als 12 %, etwa Berlin-Kreuzberg, am fehlenden Vollzug in Fällen der Zuwiderhandlung. Hier könnte den Sozialleistungen eine Schlüsselrolle zukommen, weil der Vollzug deutlich erleichtert würde, wenn man diese nur an bestimmten Orten beantragen könnte.«

In den 1990er Jahren konnten arbeitslose Spätaussiedler verpflichtet werden, mehrere Jahre lang an dem ihnen zugewiesenen Ort leben. Andernfalls drohten ihnen Kürzungen bei der Sozialhilfe (vgl. dazu ausführlicher Sonja Haug und Lenore Sauer: Zuwanderung und Integration von (Spät-)Aussiedlern. Ermittlung und Bewertung der Auswirkungen des Wohnortzuweisungsgesetzes, Nürnberg 2007).

Das alles erweist wieder einmal auf die in den grobschlächtigen politischen Debatten regelmäßig und gerne ausgesparten Aspekte der Umsetzbarkeit in den Untiefen der Praxis.
Und seien wir ehrlich an dieser Stelle – angesichts des derzeit im Kontext der außerordentlich großen Zuwanderungswelle offensichtlichen Systemversagens angesichts der manifesten Überforderung der gewachsenen bürokratischen Teil-Systeme, die ja noch nicht einmal in der Lage sind, Mehrfachregistrierungen und Nicht-Registrierungen zu vermeiden, bleiben erhebliche Zweifel hinsichtlich der Steuerungskapazitäten die Wohnortwahl betreffend.

Letztendlich verweist das auf einen ganz wunden Punkt in der aktuellen Flüchtlingsdebatte. Unabhängig von der grundsätzlichen und natürlich hoch kontroversen Frage einer (geforderten) Abschottung gegenüber weiterer Zuwanderung und ob die überhaupt und wenn ja wie realisierbar wäre – wenn im gerade angebrochenen neuen Jahr noch einmal so viele Flüchtlinge zu uns kommen würden wie im vergangenen Jahr (geschätzt 1,1 Millionen Flüchtlinge, wobei dabei immer die anderen Zuwanderer beispielsweise aus den EU-Staaten „vergessen“ werden, die es auch noch gibt), dann wird das im bestehenden System nicht zu verarbeiten sein. Hier baut sich ein letztendlich unauflösbarer Konflikt auf zwischen der individuellen Perspektive eines jeden Flüchtlings und der Systemperspektive des aufnehmenden Landes. Es ist natürlich immer auch eine Frage der Quantitäten. Wenn jährlich 200.000 Menschen zu uns kommen würden, dann könnte man das von oben betrachtet vielleicht ganz gut wegstecken, ohne zu drastischen Steuerungsmaßnahmen zu greifen. Aber in 2015 haben wir uns in einer anderen Dimension bewegt und eine Fortsetzung auf diesem Level in 2016 würde massive Eingriffe unausweichlich werden lassen – wobei dann wieder ein bereits umrissenes großes Fragezeichen bleibt: Wer soll das wie machen?