Die Vermeidung von Ghettoisierung durch Landverschickung? Residenzpflicht, Wohnsitzauflage: Zur Diskussion über eine Einschränkung der Wohnortwahl für Flüchtlinge

„Es ist nicht gut, wenn sich fast alle anerkannten Flüchtlinge und Asylbewerber in wenigen Städten und Ballungsräumen konzentrieren, denn dann wird die Integration dort schwieriger.“ Mit diesen Worten wird die Oberbürgermeisterin der Stadt Ludwigshafen und zugleich Präsidentin des Deutschen Städtetages, Eva Lohse (CDU), in dem Artikel Städtetagpräsidentin befürwortet Residenzpflicht zitiert. Und viele werden dieser Aussage auf der allgemein gehaltenen Ebene sicher voll zustimmen können. Man muss sich nur die erheblichen Probleme anschauen, die man in bestimmten Städten in bestimmten Stadtteilen hat. Und wenn nun auch noch die vielen Flüchtlinge in nur wenige meist größere Städte drängen, in denen wir bereits vor ihrer Ankunft massive Probleme beispielsweise im Wohnungsbereich hatten, dann muss man nicht lange überlegen, einer ausgewogeneren Verteilung dem Grunde nach zuzustimmen.

Allerdings liegt der Teufel mal wieder im Detail, denn: Viele Flüchtlinge und Asylbewerber lassen sich in Orten nieder, wo bereits Angehörige und Landsleute leben. Syrer wollen oft nach Berlin, Afghanen nach Hamburg. Wenn man das nicht (mehr) will, dann muss man steuern, lenken und natürlich auch die Frage beantworten (können), was man denn zu tun gedenkt, wenn sich die Menschen, um die es hier geht, nicht daran halten, was man ihnen auferlegt.

Beschränkungen hinsichtlich des Wohnortes gibt es derzeit nur für Asylbewerber im Verfahren und Geduldete, solange sie nicht selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Anerkannte Flüchtlinge hingegen können frei ihren Wohnort wählen. Nun aber wird seit einigen Tagen immer intensiver eine Debatte geführt um die Frage, ob man die Wohnortwahl auch für die anerkannten Asylbewerber restriktiver gestalten soll:

Regierungssprecher Steffen Seibert wird mit den Worten zitiert, es werde derzeit „intensiv geprüft“, ob Wohnsitzauflagen für anerkannte und subsidiär geschützte Flüchtlinge ausgedehnt werden sollten.

»Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) argumentierte, die Wohnsitzauflage werde gebraucht, sonst zögen alle in die Großstädte „und wir kriegen richtige Ghetto-Probleme“. Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte bereits für solch eine Auflage plädiert.«

Auch andere beteiligen sich an der Diskussion: Bundesagentur für Arbeit will Asylbewerbern Wohnort vorschreiben, kann man beispielsweise lesen: Angeblich hat sich die BA mit einem vertraulichen Schreiben an den saarländischen Innenminister Klaus Bouillon gewandt, der derzeit Vorsitzender der Innenministerkonferenz ist. Darin wir nach Medienberichten seitens der BA für eine dreijährige Residenzpflicht für Asylbewerber votiert. »Flüchtlinge sollten demnach nur dann ihren Wohnsitz ändern können, wenn sie woanders im Bundesgebiet eine Wohnung und einen Arbeitsplatz fänden. Seit 1. Januar muss jeder Asylbewerber an seinem Wohnort bleiben – allerdings nur für drei Monate.« In dem Schreiben warnt die BA, »durch ungesteuerten Zuzug könne es zu einer Gettoisierung insbesondere in Metropolregionen wie Berlin kommen. Außerdem drohten Parallelgesellschaften.«

Anna Reimann hat in ihrem Artikel Flüchtlinge aufs Land – was das bedeuten würde die unterschiedlichen Aspekte der aktuellen Diskussion aufzudröseln versucht:
»Bei der aktuellen Diskussion geht es genau genommen nicht um eine Residenzpflicht, sondern um eine Wohnsitzauflage. Reisen dürften die anerkannten Flüchtlinge ja innerhalb Deutschlands trotzdem, sie müssten – etwa nach Vorstellung der BA – nur an einem bestimmten Ort leben.«
Sie weist allerdings auch darauf hin, dass die nun von vielen beklagte Konzentration der Zuwanderer nach ihrer Herkunft aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann:

»Für die neuen Flüchtlinge bedeutet das: Wenn man etwa als Syrer überall auf Arabisch durchkommt, in Geschäften, beim Friseur – dann gibt es natürlich weniger Anreize, Deutsch zu lernen, aus seiner Gruppe herauszutreten, sich mit der neuen Kultur auseinanderzusetzen. Dieses Problem verschärft sich natürlich, je größer eine Gruppe im Vergleich zu der anderen Bevölkerung ist.
Andererseits: Wer sich wohlfühlt und von Landsleuten aufgefangen wird, kann sich möglichweise auch leichter öffnen und integrieren.«

Sie zitiert Olaf Kleist vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück: „Die Tatsache, dass Menschen aus dem gleichen Herkunftsland dicht zusammenleben, ist nicht automatisch ein Problem“. Im Gegenteil: Solche Netzwerke seien hilfreich und „ein Teil von Integration“. Und ebenfalls in die Zeugenstand der Skeptiker gerufen wird Hannes Schammann, Juniorprofessor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim: „An der Entstehung von ethnischen Kolonien würde allein eine Wohnsitzauflage sicher nichts ändern. Auch auf dem Dorf kann es sich für Migranten wie ein Ghetto anfühlen, wenn sie zusammen in mehreren Häuserblocks untergebracht werden.“

Wenn man trotz dieser skeptischen Einwürfe an einer Steuerung der Wohnortwahl festhält, muss man sich mit dem folgenden Hinweis von Anna Reimann auseinandersetzen: »Aus dem Osten Deutschlands zum Beispiel sind die Menschen in den vergangenen Jahrzehnten scharenweise weggezogen, es gibt dort in manchen Gegenden noch immer weniger Jobs, eine schlechtere Infrastruktur. Was sollen nun Flüchtlinge dort?«

Laut Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit haben in der Vergangenheit mehr als 60 Prozent der Flüchtlinge ihre erste Stelle in Deutschland durch persönliche Netzwerke gefunden. Auch seien die Beschäftigungsquoten von anerkannten Flüchtlingen aktuell in den Städten höher als auf dem Land.

Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die beabsichtigte Steuerung eher über Anreizsysteme zu versuchen. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund setzt in der Diskussion auf ein weicheres Anreizsystem: Erleichterungen, etwa beim Familiennachzug, sollten Flüchtlinge ermuntern, in ländlichere Gegenden zu ziehen. Einige Wissenschaftler plädieren für Anreize wie beispielsweise Qualifizierungsangebote in Gemeinden, wo bestimmte Fachkräfte gesucht werden – aber auch Hilfe bei der Job- und Wohnungssuche.

Aber auch wenn man trotz dieser Aspekte an dem Vorhaben festhalten möchte, die Wohnortwahl einzuschränken: Dann stellt sich die Frage, ob eine Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge mit dem internationalen Recht der Genfer Flüchtlingskonvention konform gehen würde.

Daniel Thym, Professor für Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Kodirektor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht (FZAA) glaubt, dass Wohnsitzauflagen grundsätzlich rechtlich möglich seien. Dazu sein Warten auf den EuGH. Artikel Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge.  Dort zeigt er am Beispiel der Wohnsitzauflage, »wie komplex die Rechtsordnung gerade im Bereich des Ausländer- und Asylrechts geworden ist, wenn dieses durch eine wilde Gemengelage von nationalem und überstaatlichem Recht geprägt wird.«
Eine Wohnsitzauflage bei einem Sozialleistungsbezug wurde in Deutschland über lange Jahre praktiziert. In Form von wohnsitzbeschränkenden Nebenbestimmungen zur Aufenthaltserlaubnis wurden Flüchtlinge, die Sozialleistungen beziehen, jeweils zum Aufenthalt in einem bestimmten Bundesland verpflichtet. Aber: Diese Praxis wurde vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) im Jahr 2008 als Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention gewertet (vgl. hierzu BVerwG 1 C 17.07 vom 15.01.2008). Allerdings nicht – wie Thym ausführt – »aufgrund des Art. 26 GFK zum Freizügigkeitsrecht, sondern wegen Art. 23 GFK zur öffentlichen Fürsorge, weil die damalige Praxis die Wohnsitzauflage an den Sozialleistungsbezug knüpfte.« Das ist kein trivialer Punkt, vor allem nicht, wenn man an die notwendigerweise zu beantwortende Frage der Sanktionen bei Verweigerung der Steuerungsbemühungen denkt.

Unabhängig davon, ob man die in der Entscheidung des BVerwG im Jahr 2008 offensichtlich zugrundeliegende Annahme, dass das Gebot der Inländergleichbehandlung bei der öffentlichen Fürsorge nach Art. 23 GFK nicht nur die Leistungshöhe betrifft, sondern auch die Modalitäten der Leistungsgewährung, also ganz konkret die freie Wahl des Wohnorts, wo man Sozialleistungen beansprucht, teilt oder eher als „übergriffig“ interpretiert wie Thym das in seinem Artikel macht, muss zugleich mit Thym darauf hingewiesen werden, dass eine Wohnortzuweisung möglich wäre:

»Das BVerwG erkannte nämlich ausdrücklich, dass eine Wohnsitzauflage aus nicht näher bezeichneten „integrationspolitischen Gründen“ möglich bleibt.«

Wenn man diesem Ansatz folgen würde, »dann müsste andere Anknüpfungspunkte als der Sozialleistungsbezug gewählt werden, etwa der fehlende Integrationskurserfolg oder ein zu geringes Sprachniveau«, so Thym. Und weiter: »So würde Flüchtlingen auch ein Anreiz gegeben, die Integrationsangebote zu nutzen – und die Aufhebung der Wohnsitzauflage im Erfolgsfall könnte ein wichtiger Inhalt einer möglichen Integrationsvereinbarung sein.«
Und es ist nicht so, dass man hier keine Erfahrungswerte hat – die allerdings ebenfalls skeptisch stimmen. Hierzu Daniel Thym:

»Um vor den Gerichten bestand zu haben, sollte eine Wohnsitzauflage die Freizügigkeit möglichst wenig einschränken. So könnte man nur negativ verbieten, in bestimmten „belasteten“ Orten einen Wohnsitz zu nehmen. Die Freizügigkeit wäre grundsätzlich gewährleistet und nur der Zuzug in bestimmte Städte oder Landkreise untersagt. Gerade eine solche negative Pflicht müsste im Zweifel aber auch vollzogen werden, zumal die Flüchtlingsregistrierung zeigt, dass die Betroffenen den zugewiesenen Aufenthaltsort teils einfach verlassen.
Ganz ähnlich scheiterte bereits in den siebziger Jahren eine von den Bundesländern verhängte Zuzugssperre für „überlastete Siedlungsgebiete“ mit einem Ausländeranteil von mehr als 12 %, etwa Berlin-Kreuzberg, am fehlenden Vollzug in Fällen der Zuwiderhandlung. Hier könnte den Sozialleistungen eine Schlüsselrolle zukommen, weil der Vollzug deutlich erleichtert würde, wenn man diese nur an bestimmten Orten beantragen könnte.«

In den 1990er Jahren konnten arbeitslose Spätaussiedler verpflichtet werden, mehrere Jahre lang an dem ihnen zugewiesenen Ort leben. Andernfalls drohten ihnen Kürzungen bei der Sozialhilfe (vgl. dazu ausführlicher Sonja Haug und Lenore Sauer: Zuwanderung und Integration von (Spät-)Aussiedlern. Ermittlung und Bewertung der Auswirkungen des Wohnortzuweisungsgesetzes, Nürnberg 2007).

Das alles erweist wieder einmal auf die in den grobschlächtigen politischen Debatten regelmäßig und gerne ausgesparten Aspekte der Umsetzbarkeit in den Untiefen der Praxis.
Und seien wir ehrlich an dieser Stelle – angesichts des derzeit im Kontext der außerordentlich großen Zuwanderungswelle offensichtlichen Systemversagens angesichts der manifesten Überforderung der gewachsenen bürokratischen Teil-Systeme, die ja noch nicht einmal in der Lage sind, Mehrfachregistrierungen und Nicht-Registrierungen zu vermeiden, bleiben erhebliche Zweifel hinsichtlich der Steuerungskapazitäten die Wohnortwahl betreffend.

Letztendlich verweist das auf einen ganz wunden Punkt in der aktuellen Flüchtlingsdebatte. Unabhängig von der grundsätzlichen und natürlich hoch kontroversen Frage einer (geforderten) Abschottung gegenüber weiterer Zuwanderung und ob die überhaupt und wenn ja wie realisierbar wäre – wenn im gerade angebrochenen neuen Jahr noch einmal so viele Flüchtlinge zu uns kommen würden wie im vergangenen Jahr (geschätzt 1,1 Millionen Flüchtlinge, wobei dabei immer die anderen Zuwanderer beispielsweise aus den EU-Staaten „vergessen“ werden, die es auch noch gibt), dann wird das im bestehenden System nicht zu verarbeiten sein. Hier baut sich ein letztendlich unauflösbarer Konflikt auf zwischen der individuellen Perspektive eines jeden Flüchtlings und der Systemperspektive des aufnehmenden Landes. Es ist natürlich immer auch eine Frage der Quantitäten. Wenn jährlich 200.000 Menschen zu uns kommen würden, dann könnte man das von oben betrachtet vielleicht ganz gut wegstecken, ohne zu drastischen Steuerungsmaßnahmen zu greifen. Aber in 2015 haben wir uns in einer anderen Dimension bewegt und eine Fortsetzung auf diesem Level in 2016 würde massive Eingriffe unausweichlich werden lassen – wobei dann wieder ein bereits umrissenes großes Fragezeichen bleibt: Wer soll das wie machen?

Sinn-lose Zahlenspielereien über Flüchtlinge mal wieder. Dabei geht es in Wirklichkeit um handfesten Sozialabbau

Die „seriösen“ Schätzungen der Gesamtkosten für eine Million Flüchtlinge, die in Deutschland bleiben, liegen „auf der Basis von Generationenbilanzen“ zwischen 79 Milliarden und 450 Milliarden Euro. Das kommt – nun ja – nicht wirklich beruhigend genau daher., ganz im Gegenteil, die enorme Streuung der möglichen Kosten ist doch kaum eine Basis, den dahinter liegenden Berechnungen irgendwie zu vertrauen. Aber ganz genau kann der unermüdliche Zahlenspieler Hans-Werner Sinn für das gerade begonnene 2016 die Kosten vorhersagen: »Für dieses Jahr gehen wir von 21 Milliarden Euro aus.«

Das und mehr kann man einem Interview mit ihm entnehmen, das der „Tagesspiegel“ veröffentlicht hat: „Die Integration der Flüchtlinge wird teuer“, so ist das Gespräch mit Sinn überschrieben worden.
Das hat noch nicht mal was von halbwegs seriös daherkommender Kaffeesatzleserei. Es ist einfach nur zum Dauer-Kopfschütteln, wenn solche Zahlen derzeit in die Welt gesetzt werden.
Aber Hans-Werner Sinn geht es – übrigens wie auch bei seinen hanebüchenen „Prognosen“ zum (angeblichen) Jobkiller Mindestlohn, wo er es war, der mit mehr als 900.000 Jobs, die durch den Mindestlohn ganz bestimmt „vernichtet“ werden, durch die Lande und vor allem durch viele willige Medien gezogen ist – gar nicht um die konkreten Zahlen, mit denen er erneut um sich wirft, sondern um eine ganz bestimmte politische Botschaft, die er unter das Volk bringen will und dazu braucht man in unserer heutigen Medienwelt offensichtlich irgendwelche Horrorbotschaften, die sich gut „verkaufen“ lassen, weil sie beim Leser, Hörer oder Zuschauer Angstschweiß produzieren können.

Und seine politischen Botschaften haben es in sich und würde man ihnen folgen, dann müssten vor allem die unteren Einkommensgruppen leiden. Hier einige Zitate aus dem Interview:

»Wir dürfen die Integration der Flüchtlinge auf keinen Fall mit einer höheren Verschuldung finanzieren, sondern müssen auf den laufenden Haushalt zurückgreifen.«

Und wie soll man das gegenfinanzierten? Die Einnahmen erhöhen für den laufenden Haushalt, beispielsweise durch einen höheren Spitzensteuersatz in der Einkommenssteuer? Aber auf gar keinen Fall, sondern altbekannte Sinn’sche Forderungen werden auch hier erneut platziert, auch wenn der eine oder andere sich schon fragen wird, was denn das mit der Finanzierung von Integrationskursen oder sonstigen Maßnahmen zu tun haben soll:

»Man könnte das Renteneintrittsalter nach hinten verschieben oder Subventionen kürzen.«
Und natürlich, man ahnt es schon: »Der Mindestlohn ist ein Integrationshemmnis erster Güte.«

Und nun ja, gegen Subventionen ist man offensichtlich nicht generell im Hause Sinn:

»Statt des Mindestlohns sollte man Menschen, die wenig verdienen, einen staatlichen Zuschuss zahlen, so dass sie zusammen mit diesem Zuschuss ein ausreichendes Gesamteinkommen haben.«

Auf die Nachfrage, ob der Mindestlohn für die Flüchtlinge abgeschafft werden sollte, kommt eine aufschlussreiche Antwort:

»Man kann nicht nur Flüchtlinge ausnehmen. Dann würden sie die Einheimischen unterbieten und ihnen die Jobs wegnehmen. Nein, man müsste für alle Berufsanfänger eine Ausnahme machen – sowohl für Einheimische als auch für Flüchtlinge. In den ersten Jahren Berufstätigkeit sollte der Mindestlohn generell nicht gelten.«

Und dabei soll es natürlich nicht bleiben. Auf die Nachfrage, wie man denn die Integration der Flüchtlinge finanzieren kann, wenn schon nicht über Steuererhöhungen, die Sinn rundweg ablehnt, antwortet er:

»Man muss Abstriche machen, Ausgaben kürzen. Das ist eine schwierige politische Entscheidung.«

Und legt dann nach:

»Jedenfalls wird es wohl auch die Ärmsten treffen. Der Sozialstaat wird durch die freie Zuwanderung zwangsläufig lädiert.«

Wie praktisch für manche, dass man mit so einer Aussage alle vor uns liegenden Einschnitte in der Kommunikation mit der Bevölkerung immer auf „die Flüchtlinge“ und die von denen verursachten „Kosten“ schieben kann, ohne das im Detail begründen zu müssen, was auch Großmeister Sinn nicht macht.

Am Ende bekommen wir dann noch eine wichtige persönliche Information, denn im Frühjahr wird Hans-Werner Sinn sein Amt als Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München abgeben und in den Ruhestand eintreten. Und was wird er dann tun? Hierzu die letzte Passage aus dem Interview:


Was werden Sie tun, wenn Sie im Frühjahr Ihr Amt als Ifo-Chef abgeben?
Ich werde Bücher schreiben und alle Viere von mir strecken.
Ehrlich?
Ganz ehrlich.

Sinnvolle und mehr als fragwürdige Vorschläge im Windschatten der Flüchtlingsdebatte. Und dann die Sprach- und Integrationskurse mal wieder

Man kann sein Vollzeit-Leben derzeit verbringen nur mit dem Sammeln der Vorschläge, wie es gelingen könnte, „die“ Flüchtlinge in absehbarer Zeit in den Arbeitsmarkt zu bekommen. Wobei diese Perspektive an sich schon mehr als verengt daherkommt, wenn die – zugegeben  mit hoher Symbolkraft ausgestattete – Zahl von einer Million Menschen, die allein in diesem Jahr als Flüchtlinge zu uns gekommen sind, als Maßstab für eine anstehende Arbeitsmarktintegration verwendet wird, beispielsweise in einem Vorstoß des Verbandes Die Familienunternehmer, die ausdrücklich auf dieser durch alle Medien verbreiteten Zahl aufsetzen und ein Diskussionspapier vorgelegt haben mit dem bezeichnenden Titel: 1 Million neue Arbeitsplätze – wie schaffen wir das? Es ist eben nicht kleinlich, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass wir eben nicht eine Million Arbeitsplätze für die eine Million Flüchtlinge brauchen (werden), denn hinter dieser Zahl verbergen sich eben nicht nur arbeitsfähige bzw. -willige Menschen, sondern auch viele Kindern und die, die sich um diese kümmern und die auf absehbare Zeit gar keine Arbeitsmarktintegration wollen oder brauchen. Das wird – vor allem, wenn sich in den vor uns liegenden Jahren der Familiennachzug ausbreiten wird – noch erhebliche Diskussionen auslösen und angesichts der Tatsache, dass diese arbeitsmarktlicht gesehen „inaktiven“ Teile über Transferleistungen finanziert werden, kann das ein zentrales Einfallstor werden für die Kräfte, denen an einer Skandalisierung und Problematisierung gelegen ist. Nur – die Finanzierung des Lebensunterhalts dieser Menschen ist unvermeidlich und sollte nicht verschwiegen werden.

Gerade vor diesem Hintergrund müssen alle Vorschläge für eine bessere oder überhaupt gelingende Arbeitsmarktintegration der anderen Flüchtlinge erst einmal ohne Vorbehalte geprüft werden.

Unter der Überschrift Familienunternehmer fordern Reformpaket für eine Million Jobs berichtet Thomas Öchsner in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung über die Forderungen des Unternehmerverbandes an die Bundesregierung. Der selbst gesetzte Anspruch hat es in sich:

„Ein drittes deutsches Wirtschaftswunder nach dem nach 1949 und dem nach 2009 ist nötig – und möglich“, heißt es in einem Positionspapier des Verbandes, der 5.000 Familienfirmen vertritt. Nötig sei dafür ein Reformpaket, das weit über die Agenda 2010 des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) hinausgehe, berichtet Öchsner in seinem Artikel.

Die Formulierung „weit über die Agenda 2010“ hinausgehend wird nun schon reflexhaft bei den einen oder anderen Magenschmerzen auslösen. Und ein genauerer Blick verdeutlich tatsächlich, dass sich die meisten Vorschläge des Familienunternehmer-Verbandes tatsächlich einordnen lassen in die Logik, mit der auch die Agenda 2010 hausieren gegangen ist: Deregulierung und angebotsseitige Wirtschaftspolitik ist gut. Früher für „die“ Arbeitslosen, jetzt für „die“ Flüchtlinge.

Wie sehen die Vorschläge des Familienunternehmer-Verbandes aus?

»Die Familienunternehmer wollen … neben der dualen Ausbildung eine triale Ausbildung einführen, zu der neben der Praxis im Betrieb und der Berufsschule auch der Erwerb der deutschen Sprache gehört. Diese dritte Säule könne dazu führen, dass sich die Ausbildungszeit auf vier Jahre verlängert.«

Darüber kann und muss man diskutieren. Alle Möglichkeiten eines möglichst schnellen Zugangs zu einer qualifizierten Ausbildung für die Flüchtlinge, die können und wollen, macht Sinn.
Der Vorschlag wird erweitert:

»Gleichzeitig schlägt der Wirtschaftsverband vor, Unternehmen, die Auszubildende ohne ausreichende Sprachkenntnisse beschäftigen, durch staatliche Zuschüsse mit 1000 Euro pro Azubi im Monat für zwei Jahre zu unterstützen. Das Geld soll aber keine zweckungebundene Subvention sein, sondern nachweisbar in den Sprachunterricht fließen.«

Auch das ist diskussionswürdig, wenn es sich um eine zweckgebundene Subventionierung handelt, wobei sogleich zahlreiche Anschlussfragen aufgeworfen werden. Beispielsweise die nach der Infrastruktur für den Abruf der Sprachschulungen, die dann aus den Mitteln finanziert werden können. Ist die vorhanden? Also wer soll das (wo?) machen?

Aber offensichtlich verfolgen die Wirtschaftsfunktionäre das Ziel, wenn man schon mal dabei ist, dann kann man ja auch noch Dinge gleich mitfordern, die man immer schon gerne gehabt hätte. Und dann kommt so was dabei raus:

»Zugleich fordern die Familienunternehmer für alle zusätzlichen Stellen, die in Deutschland bis 2020 geschaffen werden, ob für Migranten oder für einheimische Arbeitslose, die Sozialversicherungsbeiträge zu halbieren.«

Offensichtlich berauscht von der angebotsseitigen Lehre der Kostenentlastung ist dieser Passus „reingerutscht“. Aber a) wieso soll eine derart enorme Entlastung der Unternehmen für alle zusätzlichen Jobs in Anspruch genommen werden und wesentlich bedeutsamer b) wie will man denn eine Abgrenzung der „zusätzlich“ geschaffenen Jobs zu denen hinbekommen, die ansonsten auch entstanden wären? Eine nur als putzig zu charakterisierende Vorstellung.
Aber damit nicht genug – und klar, der Mindestlohn darf nicht fehlen:

»Für die große Zahl der wenig bis unqualifizierten Flüchtlinge sei der Mindestlohn von 8,50 Euro „eine echte Barriere für den Einstieg in den Arbeitsmarkt“. Am besten wäre deshalb eine gegebenenfalls zeitlich befristete Abschaffung der Lohnuntergrenze … .«

Und wenn man schon auf Betriebstemperatur ist, dann kann man auch das ewige Thema mit dem Kündigungsschutz gleich mitnehmen:

»Um die Hemmschwelle für Einstellungen zu senken, müsse auch der strenge Kündigungsschutz schrittweise in ein Abfindungsmodell umgewandelt werden.«

Und um möglichen Kritikern gleich von Anfang an ein schlechtes Gewissen zu machen, wird dann auch noch ein Hinweis gegeben auf den Aufstieg des Front National in Frankreich, was man natürlich bei uns vermeiden wolle.

Wirklich interessant und relevant für die aktuelle Debatte ist der Vorschlag zur „trialen“ Ausbildung und der zweckgebundenen Subventionierung, wenn denn diese tatsächlich der Sprachschulung  zugute kommen würde.

Damit sind wir angekommen bei denen, die für die Sprachkurse verantwortlich sind, also nicht nur die Volkshochschulen und andere Träger, die das machen (müssen). sondern auch bei den so genannten Kostenträgern, wie das in Deutschland immer sich heißt. Also denjenigen, die das finanzieren. Und angesichts des nun mittlerweile für jeden unübersehbaren Bedarfs an Sprach- und Integrationskursen lässt eine solche Meldung aufhorchen:

GEW: „Kein großer Wurf!“ Bildungsgewerkschaft zur Erhöhung der Trägerpauschale für Integrationskurse, eine Pressemitteilung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft vom 10.12.2015.

Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wird die Trägerpauschale für Integrationskurse zum 1. Januar 2016 von 2,94 Euro auf 3,10 Euro erhöht. Das Mindesthonorar für eine mehrjährige Trägerzulassung steigt von 20 auf 23 Euro. „Nach Abzug der Sozialabgaben bleibt vielen der akademisch qualifizierten Lehrkräfte von den Honoraren ein Einkommen, das knapp über dem Hartz-IV-Niveau liegt“, wird Ansgar Klinger, für berufliche Bildung und Weiterbildung verantwortliches GEW-Vorstandsmitglied, zitiert. Er forderte, die Trägerpauschale auf 4,40 Euro zu erhöhen. Nur so könnten die Träger der Kurse Lehrkräfte anstellen und ihrer Qualifikation entsprechend bezahlen.

Über die miserable Situation der Fachkräfte, die sich im Bereich der Sprach- und Integrationskurse bewegen, ist hier schon berichtet worden, vgl. dazu beispielsweise nur den Beitrag 1.200 Euro im Monat = „Top-Verdienerin“? Lehrkräfte in Integrationskursen verständlicherweise auf der Flucht oder im resignativen Überlebenskampf vom 02.09.2015.

Aber selbst die Pressemeldung der GEW ist angesichts der realen Verhältnisse in diesem Teilbereich des Bildungssystems, die man nur als Wilder Westen bezeichnen kann, noch zahm und „liebevoll“. Angesichts der gerade bei uns manifesten Herausforderungen durch die Zuwanderung von mehr als einer Million Menschen in diesem Jahr müssten erhebliche Ressourcen für den „Flaschenhals“ der Sprachschulung und der Integrationsarbeit mobilisiert werden. Ein Anstieg der Trägerpauschale von 2,94 Euro auf 3,10 Euro ist sicher keine auch nur annähernd angemessene Antwort.

Wie ein solche aussehen müsste? Dazu nur einige wenige Zahlen:

Wenn man die Lehrkräfte in den Kursen halbwegs angemessen vergüten wollte angesichts ihrer überaus schwierigen und zugleich gesellschaftlich so substanziell wichtigen Arbeit, dann müsste man mit einem Stundensatz in Höhe von 5,50 Euro kalkulieren, denn erst damit würden die Träger in die Lage versetzt, den Fachkräften eine Vergütung zu ermöglichen, die sich auf dem TVöD 12-Niveau bewegt.

Zwischen der in Aussicht gestellten Anhebung der Trägerpauschale auf 3,10 Euro und den 5,50 Euro besteht schon ein Welten-Unterschied. Erschwerend kommt hinzu, was sich ergibt, wenn man in andere Länder schaut: So beträgt der Stundensatz für Integrationskursteilnehmer in Spanien 8 Euro, damit eine tarifliche Vergütung rebfinanzierbar ist.

Fazit: Wieder einmal erweist sich Deutschland als der Billigheimer, der anspruchsvollste Ziele mit möglichst wenig Geld und vor allem mit möglichst wenig Personal zu realisieren versucht. Aber das wird in diesem Bereich nicht funktionieren.

Vor dem zweiten „Asylpaket“: Erbsenzähler und verdruckste Buchhalter unterwegs. Es geht mal wieder um Kosten

Sortieren wir uns zuerst einmal: Immer wieder wird die Erkenntnis vorgetragen, dass die Vermittlung der deutschen Sprache (und darüber hinaus der in unserer Gesellschaft vorhandenen Werte) von zentraler Bedeutung ist für eine gelingende Integration. Und hinsichtlich des Spracherwerbs ist nun eigentlich allen klar, dass man so schnell wie möglich damit anfangen muss, den Menschen einen Zugang zu eröffnen – selbst wenn der eine oder andere nicht hier bleiben kann/darf. Die Sprache ist nun wirklich nachgewiesenermaßen der Flaschenhals für viele weitere Folgeprozesse, wenn man Integration will, beispielsweise die Aufnahme einer Ausbildung oder Beschäftigung.

Vor diesem Hintergrund kann man beim folgenden Sachverhalt nur zu dem Eindruck gelangen: die Erbsenzähler und Korinthenkacker, die verdrucksten Buchhalter sind wieder unterwegs. Und das wäre noch die „nette“ Interpretationsvariante.

Es geht – wie kann es anders sein – wieder einmal um Kosten. Um die Kosten der Sprachkurse für Flüchtlinge.

Der Bundesfinanzminister Schäuble (CDU) will den Flüchtlingen „einen Kostenbeitrag von 36 Euro im Monat“ von den Asylbewerberleistungen abziehen. Damit stellt sich das Finanzressort gegen eine Absprache zwischen dem Innen-, dem Justiz- und dem Arbeitsministerium. Sie wollen Asylbewerbern für Sprachkurse nur 1,39 Euro pro Monat in Rechnung stellen, berichtet die FAZ: Schäuble beharrt auf Kürzung bei Flüchtlings-Leistungen.
Die Bundesregierung will das zweite Asylpaket, in dem das geregelt werden soll, in einer Sondersitzung des Kabinetts am kommenden Montag verabschieden. Damit soll die Vereinbarung der Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD vom 5. November umgesetzt werden. Darin enthalten war der grundsätzliche Beschluss, Asylbewerber an den Kosten von Sprachkursen zu beteiligen. Die Höhe blieb offen.

Nun wird sich der eine oder andere fragen: Wie um alles in der Welt kommen die auf entweder 1,39 Euro bzw. 36 Euro?

Hier die „Auflösung“ des Zahlenrätsels:

Der Kostenbeitrag von 1,39 Euro monatlich: »Das entspricht bei den Asylbewerberleistungen ähnlich wie bei Hartz IV dem rechnerischen Bedarf für Bildungsausgaben.«

Und wieso kommt der Bundesfinanzminister auf einen vielfach höheren Betrag? Jetzt mal aufgepasst, auf so eine Begründung muss man erst einmal kommen:

»Das Finanzministerium dagegen will auch die monatlichen Anteile für „Freizeit, Unterhaltung, Kultur“ einbehalten. Der Spracherwerb schaffe erst „die elementare Voraussetzung dafür (…), im späteren Verlauf auch andere Angebote in Anspruch zu nehmen“. Das Ministerium veranschlagt daher 0,60 Cent pro Unterrichtsstunde. Bei einem 15-Wochenstunden-Kurs entspreche das monatlich 36 Euro.«

Die müssen sich „Freizeit, Unterhaltung, Kultur“ erst einmal sprachlich erarbeiten, dann brauchen sie auch solange kein Geld dafür bis das fluppt mit der Sprache.

Man kann nur hoffen, dass es sich lediglich um einen Versuch handelt und das wieder beseitigt wird, bevor das ins Parlament geht.

Selbst in der Regierungskoalition kommt man zu dieser Bewertung: »Schäubles Vorschlag in Höhe von 36 Euro laufe darauf hinaus, Flüchtlinge zu bestrafen, die mit einem Sprachkurs Anstrengungen zur raschen Integration unternähmen.«

Und wenn wir schon dabei sind: Hat irgendeiner mal vorher ausgerechnet, was eine Anrechnung von 1,39 Euro bei den Asylbewerbern, die einen Sprachkurs absolvieren, an Verwaltungsaufwand kostet? Könnte es sein, dass das ein Vielfaches wäre?

Und überhaupt – hat jemand mal bedacht, welche enormen Folgekosten entstehen, wenn der Spracherwerb bei denen, die länger hier bleiben werden, gar nicht oder verspätet gefördert wird? Dagegen sind die Kosten für Sprachkurse nun wirklich von molekularer Größenordnung.
Aber vielleicht geht es dem Bundesfinanzminister ja in Wirklichkeit um was ganz anderes bei diesem Thema. Der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt.

Die „Praxis der schnellen Stempel“. Vom Politikversagen über das Staatsversagen hin zum Organisationsversagen? Im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schicken Mitarbeiter ihrer Leitung einen offenen Brief

Es ist unabweisbar: In der Flüchtlingsfrage herrscht ein großes Durcheinander. Das fängt an bei dem zumeist wenig hilfreichen monothematischen Dauerrauschen in den Talkshows im Fernsehen, geht über die Tatsache, dass es offensichtlich derzeit nicht möglich ist, zu sagen, wie viele und welche Menschen sich wo überhaupt in Deutschland aufhalten und geht bis hin zu der Tatsache, dass Akteure der Bundesregierung – allen voran der Bundesinnenminister – eine Überforderungs- und Wir-sollten-jetzt-das-tun-ohne-das-vorher-abzustimmen-Kakophonie erzeugen, die sicherlich nicht dazu beiträgt, dass denjenigen, die Zweifel und Ablehnung unter den Menschen verbreiten wollen, der Nachschub auszugehen droht. Im fatalen Zusammenspiel der unterschiedlichen Ebenen kann das dazu beitragen, dass das Klima deutlich rauer wird und genau das ist ja auch zu beobachten. Jede weitere Nachricht mit Chaos-Potenzial verstärkt unweigerlich diese Tendenzen. Aber das kann und darf natürlich nicht heißen, dass man deswegen real existierende Probleme totzuschweigen versucht, nur weil sie sich als ein weiterer Baustein auf dem skizzierten Weg erweisen könnten. In diesem Kontext muss ein offener Brief gesehen und bewertet werden, der von Mitarbeitern des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) an die Leitung der Behörde geschickt wurde.

In einem Brandbrief kritisieren Mitarbeiter die Zustände beim Bundesamt für Flüchtlinge. Praktikanten sollen dort über menschliche Schicksale entscheiden, die Identität von Flüchtlingen wird offenbar kaum mehr geprüft, so der Artikel Wenn der Praktikant über Asylanträge entscheidet. »Die Hauptkritikpunkte: Der Verzicht auf eine Identitätsprüfung bei vielen Flüchtlingen sei mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht mehr vereinbar … Dazu kommen eine viel zu schnelle Ausbildung der neuen Entscheider – Praktikanten entschieden inzwischen nach nur wenigen Tagen über menschliche Schicksale. Viel schwerer können Vorwürfe in einer Behörde kaum wiegen. Die Personalvertretung findet deutliche Worte in dem Brief … Die beschleunigten schriftlichen Asylverfahren bei Syrern, Eritreern, manchen Irakern und Antragstellern vom Balkan wiesen „systemische Mängel“ auf«, so der Artikel Mitarbeiter kritisieren Asylpraxis.

Die Identität der Menschen werde inzwischen faktisch nicht mehr geprüft. Das führe dazu, dass „ein hoher Anteil von Asylsuchenden“ inzwischen eine falsche Identität angebe, um in Deutschland bleiben zu können und auch die Familie nachholen zu können. Aus der Perspektive halbwegs ordentlicher Verwaltungsabläufe ist die vorgetragene Beschreibung der Situation gravierend:

»Um in Deutschland als syrischer Flüchtling geführt zu werden, reiche es aus, in einem schriftlichen Fragebogen an der richtigen Stelle ein Kreuzchen zu machen. Dies müsse nur noch ein Dolmetscher bestätigen.
Doch diese seien in der Regel nicht auf die deutsche Rechtsordnung vereidigt und meist kämen sie nicht einmal aus Syrien – daher könnten sie auch keine syrischen Dialekte unterscheiden, wie das Bundesamt dies vorgebe. De facto werde diesen Dolmetschern alleine die Prüfung des Asylgesuchs überlassen, kritisieren die BAMF-Mitarbeiter – ohne, dass der Asylbewerber jemals ein Pass vorgelegt habe oder von einem BAMF-Entscheider angehört worden sei. In der Akte sei dann nur ein zweizeiliger Vermerk darüber enthalten, dass keine Hinweise vorliegen, dass es sich bei dem Antragsteller nicht um einen Syrer handelt.«

Die Verfasser des offenen Briefs an den Behörden-Leiter Frank-Jürgen Weise argumentieren auf dem Boden rechtsstaatlicher Grundkomponenten: Selbst bei Vorlage eines Personaldokuments ist eine Echtheitsprüfung zwingend geboten. Doch die Warnung, dass es in Beirut regelrechte Dienstleister gebe, die Antragspakete mit gefälschten Zeugnissen und Diplomen verkauften, werde missachtet und die Entscheider seien angehalten, den Flüchtlingsstatus ohne Echtheitsprüfung zuzuerkennen.

Ein weiterer Kritikpunkt wiegt zum einen schwer, zum anderen verweist er auf vorgängige Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit in einem anderen Feld, der Betreuung von Grundsicherungsempfängern in den Jobcentern, auch haben machen müssen: Die „Schulung“ neuer Mitarbeiter nach dem „Schnelle-Brüter-Verfahren“. Und da kennt sich der Herr Weise, weiterhin auch Chef der Bundesagentur für Arbeit, sehr gut aus.

»Ein … Kritikpunkt ist die Einarbeitung neuer Entscheider im „Hau-Ruck-Verfahren“: Kollegen der Bundesagentur für Arbeit, Praktikanten und abgeordnete Mitarbeiter anderer Behörden würden „nach nur einer drei- bis achttägigen Einarbeitung als „Entscheider“ eingesetzt und angehalten, massenhaft Bescheide zu erstellen“.
Offiziell gibt das BAMF die Einarbeitungszeit für Entscheider mit sechs Wochen an. Vor kurzem war die Einarbeitungszeit noch um ein Vielfaches länger. „Bevor die neuen Entscheider überhaupt die erste Anhörung alleine machen, haben sie eine Ausbildung von drei bis vier Monaten hinter sich“, betonte Weises Vorgänger Manfred Schmidt stets. Und dann würden sie noch nicht über komplizierte Fälle entscheiden.«

Das sind wirklich schwere Vorwürfe und sie bedürfen der schnellsten Überprüfung. Die Behörde selbst hat eine andere Sicht auf die Dinge:

»Das Bundesamt wies die Vorwürfe in dem Brief zurück. Die Identität der Antragsteller werde sehr wohl geprüft: Von allen Antragstellern würden Fotos gemacht und Fingerabdrücke genommen und die Daten unter anderem mit dem Bundeskriminalamt abgeglichen. Alle Honorardolmetscher würden zudem einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen und ihre Qualifikation geprüft.
Die dreitägigen Schulungen hätten ausschließlich Kollegen betroffen, die früher viele Jahre als Entscheider im Einsatz gewesen seien und lediglich einer kurzen Auffrischung bedurft hätte.«

Hier muss Klarheit geschaffen werden, was denn nun stimmt.

Als wenn das alles nicht schon genug Problemhinweise sind, legt der Bundesinnenminister offensichtlich noch eine Schippe drauf: „Amt für Migration wird lahmgelegt“, so haben Karl Doemens und Daniela Vates ihren Artikel überschrieben: »Mit seinem Vorstoß, das Dublin-Verfahren wieder auf syrische Flüchtlinge anzuwenden, halst Thomas de Maizière dem überlasteten Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch mehr Arbeit auf.« Er hat gehandelt ohne sich in der Koalition abzustimmen, wieder einmal. Das bedeutet: Syrische Flüchtlinge könnten wieder in das Erstaufnahmeland zurückgeschickt werden – auf Weisung des Innenministeriums. Weder die Bundeskanzlerin noch Kanzleramtschef Altmaier waren über die umstrittene Änderung informiert. Entsprechend stellt Robert Roßmann seinen Bericht dazu unter die Überschrift De Maizière düpiert Merkel.

Zum Sachverhalt: Im August hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) mitgeteilt, dass es Syrer nicht mehr nach dem Dublin-Verfahren behandeln werde. Diese Ankündigung gilt als einer der Gründe für den Anstieg der Flüchtlingszahlen in Deutschland. Nach dem Dublin-Abkommen ist für das Asylverfahren eines Flüchtlings der EU-Staat zuständig, in dem der Schutzsuchende zuerst registriert wurde. Reist ein Flüchtling weiter, kann er in das Erstaufnahmeland zurückgeschickt werden. Bei der Aussetzung im August hatte sich das BAMF auf das „Selbsteintrittsrecht“ berufen, das im Dublin-Abkommen vorgesehen ist. Demnach kann ein Staat freiwillig Flüchtlinge aufnehmen, obwohl diese nach den Dublin-Regeln eigentlich in das Erstaufnahmeland zurückgebracht werden müssten. Seit dem 21. Oktober werde das im August ausgesetzte Dublin-Verfahren wieder auf syrische Flüchtlinge angewandt, teilte das Innenministerium am Montagabend mit. Nicht von sich aus, sondern auf Nachfrage von Journalisten.
Mit der Rückkehr zum „normalen“ Dublin-Verfahren verbunden sind Einzelfallprüfungen. Und das in einer Situation, in der – wie hier beschrieben – offensichtlich noch nicht einmal eine halbwegs normale Identitätsprüfung vollzogen wird bzw. werden kann.

Die parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Christine Lambrecht, wird mit dem Begriff „Phantomdiskussion“ zitiert: »Seit der neuen Anordnung de Maizières seien insgesamt gerade vier Flüchtlinge in ein anderes EU-Land zurückgeschickt worden.«

Das Bundesinnenministerium begründet die Kehrtwende damit, zumindest die „verfahrenstechnischen Gründe“ – also die Überlastung des BAMF – hätten sich geändert. Deswegen könne man zum alten Recht zurückkehren. Das ist nicht nur vor dem Hintergrund des offenen Briefs eine steile These. Man muss sich einmal verdeutlichen, über welche Dimensionen wir hier sprechen: Frank-Jürgen Weise sprach in den Sitzungen der Bundestagsfraktionen der Großen Koalition von einer Million unerledigter Anträge bis Ende des Jahres. »Mehrere SPD-Abgeordnete berichteten, auch Weise habe sich in der Fraktion von der Dublin-Entscheidung überrascht gegeben«, so Doemens und Vates in ihrem Artikel.

Die derzeitige Praxis, um wieder zurückzukommen auf die Vorwürfe, wie sie in dem offenen Brief aus dem BAMF vorgetragen werden, muss mit Blick auf die Zukunft auch noch hinsichtlich einer weiteren Baustelle kritisch gesehen werden:

»Aus Behördenkreisen heißt es …, die derzeitige Praxis der schnellen Stempel habe … noch weiter reichende Folgen: Die Vielzahl von „handwerklich schlecht gemachten Entscheidungen“ werde im nächsten Schritt auch die Verwaltungsgerichte nahezu lahmlegen.«