Aus den Augen, aus dem Sinn? Verloren auf den griechischen Inseln. Und einige wenige Stimmen, die an die Flüchtlinge erinnern

War da noch was mit Flüchtlingen? Schaut man in die meisten Medien, dann müsste man den Eindruck bekommen, dass das Aufreger-Thema der zurückliegenden Monate irgendwie weg ist. Hat sich das „Flüchtlingsproblem“ gelöst? An der einen oder anderen Stelle wird die (vermeintliche) Ruhe an der Berichterstattungsfront gestört, beispielsweise so: »Brandbrief der Bürgermeister ans Land: Es fehlt an Geld für Sprachkurse, Wohnungsbau und Betreuung von Flüchtlingen. Selbst Jobprogramme reichten nicht aus«, kann man dem Artikel Städte fordern Hilfe bei der Integration von Flüchtlingen entnehmen. Die nordrhein-westfälischen Städte sehen sich derzeit mit der Aufgabe, Flüchtlinge erfolgreich zu integrieren, völlig überfordert. Die Kommunen seien nicht in der Lage, die notwendigen Investitionen in Kinderbetreuung, Schulen, Sprachkurse, Berufsvorbereitung und in den Wohnungsbau zu stemmen. Auch wenn das so sein sollte – viele werden abwinken und argumentieren, da gehe es doch „nur“ darum, dass die Städte mehr Geld haben wollten aus dem Topf der Finanzmittel, die seitens des Bundes, der Länder und der Kommunen bereitstehen. Und tatsächlich geht es hier konkret um die Integrationspauschale des Bundes, die über die Länder an die Kommunen weitergeleitet werden soll, jedenfalls „zum großen Teil“. Man ahnt schon, was hier passiert.

Aber ansonsten verliert sich die Berichterstattung darin, dass man darauf hinweist, dass sich vor allem die Integration in den Arbeitsmarkt irgendwie weitaus sperriger und mühsamer und zeitaufwendiger darstellt, als anfangs (von einigen) erhofft bzw. unterstellt.

Aber die Bilder von ankommenden Flüchtlingen, die Diskussion über deren Unterbringung – alles Geschichte. Irgendwie ist das so abrupt wieder weg wie es gekommen ist. Natürlich kommen weiterhin Menschen hier an, die Asyl begehren, aber sie sind verschwunden unter dem Schleier der Nicht-Thematisierung und es sind ja auch wirklich deutlich weniger als beispielsweise im vergangenen Jahr. Also alles gut?

Es ist ja nicht so, dass es keine Flüchtlinge mehr gibt, sondern die meisten kommen eben nicht mehr durch und sind hängen geblieben im Vorhof der Festung Europa, worüber – durchaus verständlich aus der Binnenperspektive – hier sicher viele froh sind.

Die andere Seite der Medaille: Rund 50.000 Flüchtlinge sitzen aktuell in Griechenland fest, vor allem auf den griechischen Inseln. Und das ist sowohl für die betroffenen Flüchtlinge wie auch für die Griechen, die sich selbst in einer schweren ökonomischen und gesellschaftlichen Krise befinden (vgl. dazu den Beitrag Griechenland: Der sich selbst überlassene Außenposten der EU gegen Flüchtlinge und für viele Griechen der Blick auf die eigene „200-Euro-Generation“ und eine lebenslange Armutsfalle vom 29. Oktober 2016), ein großes Problem.

Und wieder ist es eine Hilfsorganisation, in diesem Fall Ärzte ohne Grenzen, die auf die Probleme aufmerksam macht. Dazu der Artikel Ärzte prangern Missstände an von Jana Kötter:

»Sieben Monate nach Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens ist die Lage der Flüchtlinge in Griechenland weiter dramatisch: Mehr als 50.000 Migranten lebten „unter unzumutbaren Bedingungen und erhalten keine ausreichende medizinische Versorgung“; infolge gravierender Lücken im System würden die Schutzbedürftigen nicht vollständig erfasst und anschließend auch nicht angemessen versorgt.«

Loic Jaeger, Landeskoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland, wird mit einer scharfen Kritik an den Zuständen zitiert: „Die Hotspots auf den Inseln haben eine Auslastung von 200 Prozent erreicht, und die Versorgung in den Lagern auf dem Festland ist mangelhaft“, sagt er. „Die EU-finanzierten Maßnahmen kommen zu langsam voran, und Griechenlands Gesundheitswesen ist überfordert.“

Darunter litten vor allem die Schwächsten: Menschen mit chronischen Erkrankungen und psychischen Störungen, unbegleitete Minderjährige, Schwangere.

»Ärzte ohne Grenzen fordert die EU und die griechischen Behörden deswegen auf, „sich sofort den Bedürftigsten zuzuwenden und legale und gesicherte Wege für diejenigen einzurichten, die einen Anspruch auf Umsiedlung haben“, um woanders in Europa aufgenommen zu werden.
Vor allem aufgrund des bevorstehenden Winters – des zweiten in Zelten – sei schnelles Handeln nötig.«

Für die im Land Verbleibenden verdeutlicht der Report von Ärzte ohne Grenzen die Dringlichkeit psychotherapeutischer Betreuung. „Die Menschen, mit denen wir arbeiten, haben teilweise Unvorstellbares durchlebt. Nun sitzen sie fest wie in einem Gefängnis unter freiem Himmel“, sagt Christina Sideri, eine Psychologin der Organisation.

Selbst wenn Flüchtlinge in der „komfortablen“ Situation sind, dass sie beispielsweise bis nach Deutschland geschafft haben, wo die allgemeine Lage für die Betroffenen sicher deutlich besser ist als in Griechenland auf dem Festland und erst recht auf den Inseln, wird von erheblichen Problemen gerade bei der psychotherapeutischen Versorgung gesprochen. Vgl. dazu den Beitrag Nur winzige Chance auf Psychotherapie von Helmut Laschet: »Ein Drittel bis die Hälfte der in Deutschland angekommenen Flüchtlinge gilt als traumatisiert. Doch vor einer adäquaten psychotherapeutischen Versorgung stehen kaum überwindbare Barrieren, wie die Bertelsmann-Stiftung feststellt … Faktisch, so eines der zentralen Ergebnisse der Bertelsmann-Studie, bleibe … der Zugang zu psychotherapeutischen Behandlungen den meisten Asylbewerbern in den ersten 15 Monaten verwehrt. Dies resultiert aus dem Asylbewerberleistungsgesetz, wonach nur Anspruch auf Akutbehandlung, nicht jedoch auf Langzeittherapie besteht … Nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer wurden 2014 – noch vor dem großen Flüchtlingszustrom – nur vier Prozent der psychisch kranken Flüchtlinge psychotherapeutisch versorgt. Die weitaus meisten Therapien bei Flüchtlingen werden in den 32 Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer geleistet: 2015 waren es 13.500 Menschen, die dort versorgt wurden. Die Wartezeit beträgt in der Regel sieben Monate, kann aber auch ein Jahr erreichen. Das Einzugsgebiet liegt im Durchschnitt bei 170 Kilometern, es gibt aber auch Anfahrtswege von bis zu 500 Kilometern. Das heißt: Bei einem Zustrom von Flüchtlingen von mehr als einer Million Menschen im vergangenen Jahr und mehr als 220.000 im ersten Halbjahr 2016 ist davon auszugehen, dass bei einer Traumatisierungsprävalenz von mehr als 30 Prozent nur ein Bruchteil der betroffenen Menschen psychotherapeutisch versorgt wird.« Und auch hier wird man wieder mit den so typisch deutschen Finanzierungsproblemen konfrontiert: »Die Psychosozialen Zentren erhalten für ihre Leistungen keine strukturelle Finanzierung. Die Refinanzierung von Psychotherapien durch Sozialbehörden, Krankenkassen und Jugendämtern liegt gerade bei drei Prozent. Landesmittel machen etwa 14 Prozent aus, Kommunen steuern elf Prozent zu. Ein Teil der Leistungen wird durch Spenden finanziert, 25 Prozent der Leistungen werden ehrenamtlich erbracht. Drei Millionen Euro spendiert das Bundesfamilienministerium.«
Zurück nach Griechenland: Ärzte ohne Grenzen beklagt außerdem, dass das Asylverfahren so langsam sei, dass viele ihre erste Anhörung erst im April oder Mai des kommenden Jahres haben. „Das Warten und die Ungewissheit sind unerträglich für die Menschen.“

Griechenlands Regierung hingegen bemängelt mangelnde Unterstützung anderer europäischer Länder bei der Umsiedlung der Flüchtlinge. Bislang seien nur rund 5.000 und nicht wie vergangenes Jahr von der EU beschlossen 30.000 Menschen umverteilt worden.

Wer den Bericht der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ über die Situation in Griechenland im Original lesen möchte, der kann den hier abrufen:

Médecins sans Frontières: Greece in 2016: Vulnerable People Get Left Behind, October 2016

Zur Situation auf den griechischen Inseln und zur flüchtlingspolitischen Einordnung vgl. auch diese Arbeit:

Nikolaos Gavalakis und Nicole Katsioulis (2016): Gestrandet in Griechenland. Wie die Implementierung der EU-Flüchtlingspolitik scheitert, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, November 2016

Unbeirrt die Fahne hoch im eigenen sozialpolitischen Schützengraben. Die „fünf Wirtschaftsweisen“ machen auch in Sozialpolitik und das wie gewohnt. Also extrem einseitig

Sie haben es wieder getan. Wie jedes Jahr im oftmals trüben November haben sie ihr Jahresgutachten der Bundesregierung in Gestalt der Bundeskanzlerin höchstpersönlich übergeben. Gemeint sind die umgangssprachlich als „fünf Wirtschaftsweise“ titulierten derzeit vier Herren und eine Dame, die den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bilden. Es handelt sich um ein Gremium der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung. Der Rat wurde durch ein Gesetz im Jahre 1963 installiert mit dem Ziel einer periodischen Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. In der eigenen Aufgabenbeschreibung des Rates findet man neben der durchaus nachvollziehbaren Aufforderung, sich mit Wirtschaftsthemen zu befassen, u.a. diesen Hinweis: »Aufzeigen von Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder Beseitigung, jedoch ohne Empfehlungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen.« Das sollten wir uns mal merken.

Das Jahresgutachten 2016/17 steht unter der wie auf einem Wahlplakat gedruckten Überschrift „Zeit für Reformen“. Und gleich im Vorwort, noch vor dem Dank an alle, die irgendwas beigetragen haben, statuieren die Wirtschaftsweisen ihren Anspruch mit energisch daherkommenden Formulierungen: »Im vorliegenden Jahresgutachten skizziert der Rat Reformen für Europa und Deutschland, um die politische Handlungsfähigkeit und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu stärken. Jetzt ist die Zeit, diese Reformen umzusetzen.« Wie war das noch mal mit der Formulierung aus der Aufgabenbeschreibung?

Man ist das aus den vielen Jahren zuvor ja schon gewohnt – erneut handeln die Herren und derzeit eine Dame auch weite Teile der Sozialpolitik ab und sie machen genau das, was sie eigentlich nicht sollen: Bestimmte sozialpolitische Maßnahmen nicht nur empfehlen, sondern deren – natürlich baldigste – Umsetzung durch die Politik auch noch mit einer nicht mehr diskussionsbedürftigen Eindeutigkeit zu versehen. Trotz des Gewöhnungseffekts wird man immer wieder in Erstaunen versetzt, dass man sich offensichtlich in unseren komplexen Sozialsystemen mit einer derart schlafwandlerischen Sicherheit bewegen kann, völlig unbeeindruckt von den Widrigkeiten der Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik, die von den Betroffenen und den wirklichen sozialpolitischen Experten wahrgenommen und diskutiert werden.

Auch im diesjährigen Jahresgutachten widmen sie ganze Kapitel der Sozialpolitik. Da gibt es beispielsweise das Kapitel 7: Altersvorsorge: Drei-Säulen-Modell stärken. Das folgende Kapitel 8 befasst sich mit Flüchtlingsmigration: Integration als zentrale Herausforderung. Und dann setzen sie noch einen drauf mit dem Kapitel 9: Keine Kapitulation vor der verfestigten Arbeitslosigkeit. Und natürlich mussten auch sie zur Kenntnis nehmen, dass es eine intensive und sehr kritische Diskussion in unserem Land gibt hinsichtlich der Ungleichheit in der Gesellschaft. Was sie dann in diesem Kapitel verarbeitet haben: Starke Umverteilung, geringe Mobilität. Wen man es bis hierher geschafft hat, dann kommt Entlastung, denn die Weisen verlassen das sozialpolitische Terrain und sie arbeiten sich zum Ausklang an der Energiewende und der Transformation in China ab.

Nun gibt es im Jahresgutachten im ersten Kapitel eine Zusammenfassung, was man sich unter den angeblich notwendigen Reformen so vorstellt. Hier einige der sozialpolitisch besonders relevanten Leckerbissen, die man im Gutachten finden kann (S. 26 ff.):

Das Beschäftigungswachstum sollte in den Mittelpunkt der Bemühungen gestellt werden. »Ein flexibler Arbeitsmarkt mit einer hohen Qualifikation der Arbeitnehmer und entsprechenden Anreizen, produktive Leistung zu erbringen, ist langfristig am besten geeignet, um Beschäftigung sicherzustellen und wirtschaftliche Teilhabe zu gewährleisten.« Und mit welchem Beispiel will der Rat das illustrieren?

»Ein gutes Beispiel dafür sind die Reformen der Agenda 2010, die in Wechselwirkung mit einer allgemeinen Lohnzurückhaltung dazu beigetragen haben, die Arbeitslosigkeit zu drosseln und damit einen weiteren Anstieg der Einkommensungleichheit zu verhindern. Eine höhere Umverteilung der Einkommen ist somit immer gegen die Schwächung des Anreizes abzuwägen, durch Qualifikationserwerb und Leistungsbereitschaft hohe Markteinkommen zu erzielen.«

An dieser Stelle werden nicht nur diejenigen aufstöhnen, die tagtäglich erfahren müssen, dass die Kombination aus Qualifikationserwerb und Leistungsbereitschaft eben oftmals nicht zu hohen Markteinkommen führen. Es werden sich auch Stimmen zur Wort melden, die zaghaft anfragen, ob nicht mit der Agenda 2010 der Auf- und Ausbau des größten Niedriglohnsektors in Europa einhergegangen ist, worauf Gerhard Schröder noch heute stolz ist.

Aber einfach vom Tisch wissen können die Wirtschaftsweisen natürlich nicht, dass wir ein echtes Ungleichheitsproblem haben. Sonst müsste man zu viele Ökonomen, die darauf hinweisen, für total bescheuert erklären und die Datenlage gibt denen ja auch noch an vielen Stellen recht. Also wählt man die Strategie der Vorwärtsverteidigung. Zuerst hau man so eine Diagnose raus:

»Allerdings ist die Vermögensungleichheit in Deutschland hoch, und die Einkommens- und Vermögenspositionen sind verfestigt.«

Fast schon ist man bereit, Gefühle zu entwickeln, da schlägt die argumentative Guillotine zu:

»Der geringe Aufbau von privaten Nettovermögen hat verschiedene Gründe. So reduziert beispielsweise das bereits umfangreiche Steuer- und Sozialversicherungssystem gerade für einkommenschwächere Haushalte die Anreize und Möglichkeiten zur privaten Vermögensbildung.«

So ist das, wenn man die einkommensschwächeren Haushalte „zu gut“ absichert über den Sozialstaat, sie haben dann einfach keinen Anreiz mehr, privates Vermögen zu bilden. Darauf muss man erst einmal kommen und das sollte man den Betroffenen aber ganz schnell sagen.

Überhaupt kann man an diesem sensiblen Punkt exemplarisch verdeutlichen, wie gespalten der Sachverständigenrat zugleich ist, worauf Markus Sievers in seinem Artikel Wer hört noch auf die Weisen? hinweist. Anders ausgedrückt: Vier gegen einen:

»Grundlegende Differenzen zeigen sich auch in der Debatte über die Gerechtigkeit in Deutschland. Diese Diskussion werde hierzulande intensiv geführt, konstatieren die vier Mehrheitsökonomen. Das aber stößt auf ihr Unverständnis. „Allerdings ist die Ungleichheit im vergangenen Jahrzehnt weitgehend unverändert geblieben.“ Dagegen heißt es in einem Minderheitsvotum von Bofinger: „Bei der Entwicklung der Nettoeinkommen von Personen in Haushalten mit mindestens einem erwerbsfähigen Haushaltsmitglied hat sich seit dem Jahr 1999 eine deutliche Schere herausgebildet.“ Für die zehn Prozent am oberen Rand seien die Einkommen seitdem um zehn Prozent gestiegen, für die am unteren um zehn Prozent gefallen.«

Dass der Sachverständigenrat sogleich der immer wieder geforderten Wiederbelebung der Vermögenssteuer eine Absage erteilt, wird viele nicht wirklich verwundern. Aber was dann tun gegen die Ungleichheit, die sich zudem verfestigt hat?

Man ahnt es schon, da muss dann mal wieder die frühkindliche Bildung ran: »Dazu zählen Maßnahmen, die das Bildungssystem durchlässiger machen, sowie ein verpflichtendes, kostenfreies Vorschuljahr.«

Ja Wahnsinn. Für mehr Durchlässigkeit sind irgendwie alle und der konkrete Vorschlag mit einem „verpflichtenden, kostenfreien Vorschuljahr“ offenbart nicht nur hinsichtlich der Semantik das totale Zurückbleiben der sachverständigen Räte hinter einer jahrelangen Diskussion und Forschung im Bereich der frühkindlichen Bildung und Betreuung. Dass man im November 2016 eine Forderung in den Raum stellt, die man vielleicht um die Jahrtausendwende hätte aufstellen können, spricht für die totale Leerstelle, die man hier identifizieren muss.

Und der Arbeitsmarkt? Auch hier bleibt man in der eigenen Blase gefangen. Es wird dann zum einen darauf hingewiesen, dass wir mit Blick auf die Erwerbstätigen die bislang höchste Beschäftigtenzahl erreicht haben, zugleich aber ist bis zu den Wirtschaftsweisen das vorgedrungen, was Arbeitsmarktexperten seit vielen Jahren unter Begriffen wie verfestigte und verhärtete Langzeitarbeitslosigkeit diskutieren. Dafür hat man natürlich ein Rezept aus der alten Hausapotheke: »Der Niedriglohnsektor ist für die Bewältigung dieser Herausforderungen der Dreh- und Angelpunkt.« Na klar, das war erwartbar:

»Aufgrund des zu erwartenden Anstiegs des Arbeitsangebots im niedrigproduktiven Bereich, beispielsweise durch den Arbeitsmarkteintritt von anerkannten Asylbewerbern, muss die Aufnahmefähigkeit des Niedriglohnsektors weiter gestärkt werden … Zusätzlichen Maßnahmen, die Neueintritte behindern und Schutzwälle um die bereits Beschäftigen errichten, sollte eine Absage erteilt werden. Um die Arbeitnehmer von übermäßigen Anpassungserfordernissen abzuschirmen, dürften die bestehenden Mechanismen am Arbeitsmarkt wie Kündigungsschutz und Tarifbindung bereits hoch genug sein.«

Bitte? Ist die ganze Diskussion über die seit Jahren abnehmende Tarifbindung etwa an den Wirtschaftsweisen vorbeigegangen? Oder wollen sie das einfach nicht aufrufen?
Ja, natürlich, die Drängler unter den Lesern werden es wissen – jetzt ist der Mindestlohn nicht mehr weit weg.

»Der Mindestlohn stellt dabei eine Hürde für die Aufnahmefähigkeit des Niedriglohnsektors dar, weil er die Entstehung von Arbeitsplätzen für Niedrigproduktive behindert. Diese Hürde ist im derzeitigen Konjunkturaufschwung mit Rekordbeschäftigungsstand und steigenden Löhnen geringer als bei einem Konjunkturabschwung.«

Sie werden sich nie abfinden mit dem Mindestlohn, was auch alles nicht passiert.

Zu den Arbeitsmarkt-Vorschlägen vgl. auch der Beitrag Wirtschaftsweise zur Langzeitarbeitslosigkeit: Deregulierung des Arbeitsmarktes soll helfen von O-Ton Arbeitsmarkt – mit dieser Anmerkung: »Im Übrigen interessant: Die bei fast allen Kapiteln des Gutachtens enthaltene „andere Meinung“ gibt es zum  Thema „verfestigte Arbeitslosigkeit“ nicht.«

Und das nur als Fußnote: Dass man offensichtlich in einem „weisen“ Gutachten am Ende des Jahrs 2016 das hier schreiben kann, zeigt die unauslöschliche Liebe zu völlig altbackenen Positionen:

»Ein erleichterter Zugang in geschützte Dienstleistungsbereiche, etwa durch Abschaffung des Meisterzwangs bei nicht gefahrgeneigten Berufen, könnte die Selbstständigkeit fördern.«

Auch hier hat man entweder die zahlreichen ernüchternden Erkenntnisse hinsichtlich der Nicht-Beschäftigungswirkungen der Deregulierung im Handwerk nicht zur Kenntnis genommen oder man ignoriert die geflissentlich, weil man nicht das kindliche Gottvertrauen in die Deregulierung an sich aufzugeben bereit ist. Dass ist aber selbst für Ökonomen ein trauriges Stück.

Wünschenswert sei eine stärkere Förderung der Qualifikation am unteren Ende der Qualifikationsskala. Und auch hier wird eine offensichtlich seit mehreren Jahrzehnte lebende Leiche ins Feld geführt: »Dies könnte zum Beispiel durch eine stärkere Modularisierung von Ausbildungswegen erreicht werden.« Wann endlich begreift man auch im Rat, dass gerade die breite und auch länger dauernde Ausbildung ein richtiges Pfund ist, das wir (noch) haben in unserem Land und dass die bestehenden Ausbildungen ein sicher wichtiger Faktor für die (noch) guten Rahmenbedingungen darstellen.

Beim Thema Flüchtlinge finden sich die üblichen salbungsvollen Worte hinsichtlich der besonderen Bedeutung einer Integration in Bildungseinrichtungen und/oder in Jobs. Konkreter:

»Fördermaßnahmen, wie Arbeitsgelegenheiten oder Lohnzuschüsse könnten sich für anerkannte Asylbewerber eher als für andere Arbeitslose als geeignet erweisen, um sie an den Arbeitsmarkt heranzuführen … Die Einstiegshürden in den Arbeitsmarkt sollten niedrig gehalten werden. Denn flexible Beschäftigungsmöglichkeiten, beispielsweise Zeitarbeit und Werkverträge, sowie selbstständige Arbeit bieten Chancen für den Einstieg in den Arbeitsmarkt.«

Und was ist mit dem so wichtigen Feld der Gesundheitspolitik? Auch hier nur altes Gebäck und konsequenterweise zitieren die Wirtschaftsweisen einfach nur noch aus ihren alten Gutachten, wenn es um das von ihnen erneut aufgerufen Ziel geht, „Ineffizienzen“ im Haifischbecken Gesundheitspolitik zu beseitigen:

»Dazu zählen die Stärkung der Vertragsfreiheit durch Ausweitung der Nutzung von Selektivverträgen (JG 2012 Ziffern 629 ff.), der Übergang zur monistischen Krankenhausfinanzierung (JG 2012 Ziffer 635), die Wiedereinführung und ziel- führende Weiterentwicklung der Praxisgebühr (JG 2012 Ziffer 594), die Aufhe- bung des Fremd- und Mehrbesitzverbots von Apotheken (JG 2010 Ziffer 425) und die Ausdehnung von Kosten-Nutzen-Analysen im Arzneimittelbereich auf den Bereich der alternativen Medizin … Das jüngste Urteil des EuGH, das die Preisbindung für verschreibungspflichtige Medikamente in Deutschland im Widerspruch zu EU-Recht sieht, könnte mehr Wettbewerb unter Apotheken ermöglichen.«

Und mehr als schmunzeln muss man im Jahr 2016, wenn der Rat schreibt: »Außerdem hält der Sachverständigenrat die einkommensunabhängige Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) durch die Einführung einer Bürgerpauschale mit integriertem Sozialausgleich nach wie vor für die beste Finanzierungsform.« Warum soll man auch seine Meinung ändern, selbst wenn diese Diskussion nun schon seit Jahren beerdigt ist.

Ja, natürlich sagen sie auch was zur Rentenpolitik, die in diesen Tagen so im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht. Aber auch hier gilt – man sollte nichts erwarten, was einen irgendwie überraschen könnte und vor allem keine Auseinandersetzung mit dem nun mal komplexen Diskurs über das vielschichtige Alterssicherungssystem. Einige Empfehlung geben sie uns mit auf den Weg:

»Die Folgen des demografischen Wandels in der GRV lassen sich nicht beseitigen, aber abmildern. Dazu ist aus Sicht des Sachverständigenrates eine weitere Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters nach 2030 notwendig. Angesichts der steigenden ferneren Lebenserwartung bietet sich eine Kopplung an diese an, damit die relative Rentenbezugsdauer über die Zeit nicht weiter ansteigt. Dies würde bis zum Jahr 2080 bei einer Lebenserwartung von 88 Jahren für Männer und 91 Jahren für Frauen zu einem gesetzlichen Renteneintrittsalter von 71 Jahren führen.«

Und wie ist das mit den Selbständigen und deren oftmals nur rudimentär vorhandene Alterssicherung?

»Eine Ausweitung des Versichertenkreises durch eine Pflichtversicherung von Selbstständigen in der GRV ist keine Lösung des Nachhaltigkeitsproblems. Sie dürfte zu einer Leistungsausweitung für die heutige Rentnergeneration führen, während sich das Nachhaltigkeitsproblem für zukünftige Generationen verschärft. Der Sachverständigenrat plädiert hingegen für eine Vorsorgepflicht für Selbstständige, wobei Wahlfreiheit darin bestehen sollte, diese über die gesetzliche oder private Altersvorsorge zu erfüllen.«

Und auch das ist nicht überraschend – der Sachverständigenrat plädiert für eine Stärkung der zweiten und dritten Säule der Alterssicherung in Deutschland, also für einen weiteren Ausbau der kapitalgedeckten Systeme. »Mit einem stärkeren Gewicht auf die betriebliche und private, Riester-geförderte Altersvorsorge wird das System insgesamt krisenfester und federt gleichzeitig verschiedene Risiken ab«, wird einfach mal so behauptet, ohne auch nur zu zucken angesichts der vielfältigen Kritik an so einer Behauptung.

Besonders dreist ist die Bewertung der von vielen als gescheitert eingestuften Riester-Rente:

»In der privaten Altersvorsorge muss es darum gehen, den Verbreitungsgrad der Riester-Rente vor allem bei Geringverdienern zu erhöhen. Dabei dürften die Unkenntnis der Förderberechtigung, die (falsche) Annahme, später auf die Grundsicherung im Alter angewiesen zu sein, Marktintransparenz und fehlende finanzielle Bildung für den unzureichenden Verbreitungsgrad verantwortlich sein. Eine Verbesserung des Finanzwissens, eine allgemeine Förderberechtigung und mehr Transparenz wären daher sinnvoll.«

Die Leute, vor allem die in den unteren Einkommensbereichen, sind einfach zu blöd, die Ästhetik der Riester-Rente in all ihrer Pracht zu verstehen.

Aber auch hier muss wieder auf den Riss hingewiesen werden, der durch den Sachverständigenrat geht. Mit Peter Bofinger stellt ein Wirtschaftsweiser der Mehrheit bei fast allen wichtigen Punkten eine andere Position entgegen. Sieben Minderheitsvoten belegen die tiefen Meinungsverschiedenheiten. Dazu Markus Sievers in seinem Artikel am Beispiel der Riester-Rente:

»Das Mehrheits-Quartett lobt die Einführung der Riester-Rente als wichtigen und richtigen Schritt. Auch diese Einschätzung provoziert Widerspruch. Diese private Vorsorge mit staatlicher Unterstützung habe gerade bei den Menschen mit niedrigen Einkommen nicht zu einem erhöhten Sparaufkommen geführt, so Bofinger. Weil gleichzeitig aber die Leistungen der gesetzlichen Rente gekürzt wurden, drohe verstärkt Altersarmut.«

In Ordnung, alles muss ein Ende haben, so auch der kurze Ausflug in das sozialpolitische Niemandsland des Sachverständigenrats. Das ist insgesamt eine Nullnummer. Und erneut zeigt sich, dass es gut wäre, wenn man ein wirklich kompetentes Gremium zur Begleitung der Sozialpolitik hätte – wenn man ein überhaupt diesen Gremien noch irgendeinen Sinn zuschreiben möchte. Inhaltlich ist das, was man sozialpolitisch aus dem Gutachten serviert bekommt, ein extrem einseitiges und an vielen Stellen völlig von den Forschungsbefunden und den praktischen Erfahrungen in den Sozialsystemen entkoppeltes Gebräu aus angebotsorientierter Ökonomen-Denke, die uns in keinerlei Hinsicht weiterhilft.

Griechenland: Der sich selbst überlassene Außenposten der EU gegen Flüchtlinge und für viele Griechen der Blick auf die eigene „200-Euro-Generation“ und eine lebenslange Armutsfalle

Wir leben hier nicht auf einer Insel, auch wenn man nicht selten den Eindruck vermittelt bekommt, das sei so. Kaum sind die Flüchtlingszahlen bei uns geschrumpft, ist das Thema aus den Schlagzeilen. Aber nicht nur hinsichtlich der Menschen, die (nicht mehr) zu uns (durch)kommen, sondern wenn man nicht genau nach links und rechts in den Medien schaut, dann könnte man glauben, dass die Flüchtlingskrise insgesamt irgendwie vorbei ist. Das folgt dem gleichen Muster wie die Nicht-mehr-Berichterstattung über die Vorgänge in der Türkei. Nach einer kurzen Aufwallung in den Medien berichtet heute kaum noch einer über den systematischen Umbau des türkischen Staats (und der Gesellschaft) nach der Blaupause von Erdogan. Aber die Flüchtlingskrise und das Sterben derjenigen, die über das Mittelmeer die Festung Europa zu erreichen versuchen, ist keineswegs beendet. Sogar ganz im Gegenteil.

Man muss nur hinschauen: 3.800 Tote im Mittelmeer – allein in diesem Jahr, so ist eine der dazu leider passenden aktuellen Meldungen überschrieben. 2016 sind so viele Flüchtlinge im Mittelmeer gestorben wie nie zuvor, hat das Uno-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) mitgeteilt. Es sind fast schon so viel wie im gesamten Vorjahr, als 3.777 Menschen auf See starben. Selbst das Sterben und seine Wahrscheinlichkeit kann man in nackte Zahlen pressen: »Die gefährlichste Überfahrt sei die zwischen Libyen und Italien: Hier kommt der Organisation zufolge im laufenden Jahr ein Toter auf 47 Ankömmlinge. Bei der wesentlich kürzeren Überfahrt von der Türkei nach Griechenland beträgt das Verhältnis demnach 1:88.« Die steigende Zahl von Toten muss auch vor dem Hintergrund eines starken Rückgangs der nach Europa Geflüchteten gesehen und bewertet werden (dieser Rückgang ist in erster Linie zurückzuführen auf die fast vollständige Schließung des Fluchtwegs über die Türkei, die – noch – funktioniert). Die Gründe, die der UNHCR-Sprecher für die hohe Zahl an Toten nannte, stellen eine Anklage gegen die Abschottungspolitik der Europäischen Union dar, ohne dass die EU beim Namen genannt wurde, worauf der Artikel Massengrab Mittelmeer hinweist: »Die Hälfte der Flüchtlinge kam aufgrund der weitgehenden Schließung des östlichen Mittelmeers über die sehr viel gefährlicheren Seewege von der libyschen oder auch von der ägyptischen Küste. Die Menschenschmuggler verwenden zunehmend Schlauchboote und andere instabile Fahrzeuge, die der Überfahrt nicht gewachsen sind. Viele Boote sind stark überfüllt. Beides ist Ergebnis der EU-Militärmission „Operation Sophia“, die darauf abzielt, möglichst viele fluchttaugliche Schiffe zu zerstören.«

Während die EU versucht, den tatsächlichen und potenziellen Flüchtlingsweg von Libyen aus durch Zusammenarbeit mit der international anerkannten, aber im Land kaum respektierten »Einheitsregierung« in Tripolis einzudämmen (so hat die EU gerade in diesen Tagen mit einem Ausbildungsprogramm für Angehörige der libyschen Marine und Küstenwacht begonnen, wobei das langfristige Ziel der EU darin besteht, auch in libyschen Hoheitsgewässern aktiv werden zu können, was die Regierung in Tripolis ihr bisher verweigert), öffnet sich bereits die nächste Nachschubquelle für Flüchtlinge, de versuchen werden, über das Mittelmeer überzusetzen: Ägypten.

»Das nordafrikanische Land ist eine der wichtigsten Transitregionen für Migranten. Aber im Zuge der Wirtschaftskrise brechen auch immer mehr Einheimische nach Europa auf«, so Sofian Philip Naceur in dem Artikel Flucht aus Ägypten.

»Ägypten ist zwar schon seit Jahren das wichtigste Transitland für Flüchtende aus Somalia, Eritrea, Äthiopien, Sudan und Südsudan, doch eine neue, beunruhigende Entwicklung sorgt derzeit dafür, dass sich Schleuser nicht wegen mangelnder Kundschaft sorgen müssen. Seit Jahresbeginn steige die Nachfrage nach Überfahrten in Richtung Europa auch in der ägyptischen Bevölkerung stark an, erzählt Mohammed Al-Kaschef von der Menschenrechtsorganisation Egyptian Initiative for Personal Rights (EIPR)

Und auch hier wieder kann man den Wirkmechanismus der Preisdifferenzierung in der Schlepperökonomie beobachten: Während Flüchtende aus Ostafrika bis zu 3.000 US-Dollar bezahlen, dürfen Ägypter teils schon für die Hälfte einsteigen. Auch Ratenzahlungen würden akzeptiert.

Derzeit ist das Zielland vor allem Italien, da die Regierung in Rom bislang nur volljährige Ägypter wieder abschiebt zurück in ihr Heimatland. Nicht nur in den Küstenprovinzen, sondern auch in Kairo und im ländlichen Oberägypten hat sich herumgesprochen, dass Italien für junge Menschen eine Möglichkeit bedeutet, der Krise am Nil zu entkommen. Auch wenn sich die Saison der Überfahrten übers Mittelmeer dem Ende zuneigt – für das kommende Jahr ist keine Besserung in Sicht. Denn Ägyptens Wirtschaft steht vor dem Kollaps. Nur mit Mühe konnte das Regime von Präsident Abdel Fattah Al-Sisi in den letzten Jahren den Staatsbankrott verhindern, aber die Luft wird immer dünner. Dazu auch der Artikel Ägyptens Regime fürchtet den Volkszorn von Martin Gehlen: »Die Inflation galoppiert, der Tourismus wirft kaum noch Devisen ab, viele Güter werden knapp.« Ein paar nicht nur volkswirtschaftliche, sondern auch sozialpolitische Indikatoren verdeutlichen den Ernst der Lage:

»Die Folgen für die Menschen, von denen schon jetzt die Hälfte arm oder sehr arm ist, sind hart. Weil die Lebensmittelpreise seit Jahresbeginn um 20 bis 50 Prozent gestiegen sind, müssen immer mehr Familien auch beim Essen sparen. Rund 1500 der 8000 gebräuchlichsten Medikamente sind aus den Regalen verschwunden. Einheimische Firmen stoppen ihre Produktion, weil sie keine Devisen mehr haben, um Vorprodukte oder Rohstoffe einzukaufen. Auch Autoersatzteile werden knapp.
Beim Getreide ist die 90-Millionen-Nation der größte Importeur der Welt. Ägyptens Jahreseinfuhren beliefen sich zuletzt auf 60 Milliarden Dollar, exportiert dagegen werden nur Waren für 20 Milliarden Dollar …  Der Präsident schwört die Bevölkerung auf harte Zeiten ein. Er selbst habe „zehn Jahre lang nichts als Wasser in seinem Kühlschrank gehabt“, deklamierte der Exfeldmarschall kürzlich. „Der Mann hat seinen Kühlschrank wohl mit der Waschmaschine verwechselt“, höhnte es prompt zurück aus dem Internet.«

Unterdessen setzen Regierung, Präsident und Zentralbank die neoliberalen Auflagen, die an die Kreditvergabe geknüpft sind, fleißig um. Eine Mehrwertsteuer wurde eingeführt und vom Parlament bestätigt, die Subventionen für Treibstoffe und andere Warengruppen massiv zusammengestrichen, und eine Abwertung Währung steht kurz bevor.  Das alles wird verlässlichen Nachschub an Flüchtlingen generieren – und an Opfern auf dem damit verbundenen Weg zur Festung Europa.

Und die Situation in Griechenland, vor allem auf den griechischen Inseln, diesen letzten und vergessenen Außenposten der EU?

Von da erreichen uns in diesen Tagen solche Meldungen: Flüchtlinge zünden Gebäude von EU-Asylbehörde an: »Flüchtlinge haben auf der griechischen Insel mehrere Gebäude der EU-Asylbehörde in Brand gesteckt. Der Frust angesichts überfüllter Lager und langer Wartezeiten ist groß«, berichten Giorgos Christides und Britta Kollenbroich.

Speziell zur Insel Lesbos vgl. als Hintergrund diese SWR-Radio-Reportage: Die vergessene Insel – Lesbos steht vor dem Ruin (28.10.2016): Vor einem Jahr war Lesbos ein Brennpunkt der Flüchtlingskrise. Über das Meer kamen die Menschen, die aus Afrika und Mittelasien vor Krieg und Armut flohen. Auf der griechischen Insel bekamen sie die erste Hilfe, doch die Welt dankt den Bewohnern ihren humanitären Einsatz nicht. Die Touristen bleiben aus, der Tourismus ist aber die Lebensgrundlage für die Menschen.

Auch auf anderen griechischen Inseln in der Ägäis kam es zuletzt immer wieder zu Protesten. Insgesamt sitzen derzeit fast 65.900 Geflohene in Griechenland fest, mehr als 11.000 davon in Lagern auf den griechischen Inseln. Da viele von ihnen politisches Asyl in Griechenland beantragt haben, verzögern sich die Verfahren, bei denen jeder Fall einzeln geprüft wird. Ein wesentlicher Grund für die langen Wartezeiten sind die fehlenden Mitarbeiter – sowohl auf der griechischen Seite wie auch von der EU.

Und offensichtlich werden die Griechen ziemlich allein gelassen mit dem Problem, wie man diesem Artikel entnehmen kann: EU-Staaten verweigern Entsendung ihrer Beamten. »Die EU-Staaten weigern sich, Asylexperten nach Griechenland zu schicken, wie sie es im Zuge des Flüchtlingsdeals mit der Türkei versprochen hatten. Sie fürchten offenbar Gefahren für ihre Beamten. Die Sicherheitslage auf den griechischen Inseln … sei „äußerst instabil“, heißt es in einem internen Papier des Europäischen Rats … Dies könne zu „Problemen für das Personal des nationalen Asyldienstes, der EU-Agenturen und der Nichtregierungsorganisationen“, führen.«

Die Regierung von Ministerpräsident Tsipras hat jetzt ein echtes Problem, denn eigentlich müssten die Inseln, wo sich die Flüchtlinge in völlig überfüllten Lagern stapeln, endlich entlastet werden, durch einen Transfer der Menschen auf das griechische Festland. Aber wenn das gemacht wird, dann könnte das seitens der Schleuser in der Türkei als Signal gewertet werden, dass die Festland-Route nach Europa mittel- und langfristig wieder geöffnet ist und die Flüchtlingszahlen nach Griechenland würden wieder ansteigen.

Und Griechenland hat ja nicht nur mit den Flüchtlingen zu tun, sondern befindet sich selbst in einer enormen Krise, die in den vergangenen Jahren zu einer erheblichen Verarmung eines Teils der Bevölkerung geführt hat. Dazu beispielsweise Wie die Krise Europa gespalten hat: »Die Armut in Europa ist auf Vorkrisenniveau gesunken. Doch hinter der guten Nachricht verbirgt sich ein besorgniserregender Befund: In einigen EU-Staaten hat sich die soziale Lage drastisch verschlechtert.« Ganz vorne bei der negativen Entwicklung dabei: Griechenland. Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Es knirscht und knackt im Gebälk und im Keller. Die EU driftet auseinander. Auch bei der Entwicklung der Armutsquoten vom 23.10.2016).

Aber auch die Krise in Griechenland selbst macht kaum noch Schlagzeilen – für die meisten Griechen ist sie jedoch bittere Realität. Jeder Dritte ist akut von Armut bedroht. Die Notlage wird viele Menschen bis zu ihrem Tod begleiten, so Gerd Höhler in seinem lesenswerten Artikel Griechen in der lebenslangen Armutsfalle.

Aber – so wird der eine oder andere einwenden: Haben die Griechen nicht Milliarden Euro an Hilfszahlungen bekommen?

Haben Sie. Wobei immer die Frage ist, wem geholfen wird:

»20 Monate nach dem Amtsantritt des Premierministers Alexis Tsipras geht es den meisten Griechen schlechter denn je. Von den bisher ausgezahlten Hilfskrediten, immerhin 246 Milliarden Euro, kam bei den Menschen fast nichts an. Das Geld diente überwiegend dazu, Altschulden zu refinanzieren.«

Und die Aussichten sind mehr als düster: »Im ersten Halbjahr 2016 schrumpfte die Wirtschaft um 0,75 Prozent. Die Firmen-Insolvenzen erreichten ein neues Dreijahreshoch. Bei der internationalen Wettbewerbsfähigkeit fiel Griechenland in der jüngsten Rangliste des World Economic Forum um fünf Plätze auf Rang 86 unter 138 Ländern zurück, noch hinter die Ukraine, Albanien und den Iran.«
Kommen wir zu den Menschen und dem, was die Krise bei ihnen anrichtet: »Die Arbeitslosenquote in Griechenland lag im Juli bei 23,2 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei fast 48 Prozent – ein trauriger Rekord in Europa. Nur zwei von zehn Arbeitslosen in Griechenland bekommen Arbeitslosengeld, das maximal ein Jahr lang gezahlt wird. Eine Grundversorgung wie Hartz IV gibt es nicht.«

»Seit Beginn der Krise sind die Einkommen nach Berechnungen des IWF um durchschnittlich ein Drittel zurückgegangen. Sechs von zehn griechischen Arbeitnehmern verdienen inzwischen weniger als 1000 Euro brutto im Monat. Viele Arbeitgeber stellen nur noch Teilzeitkräfte ein, vor allem in der Gastronomie. So umgehen sie den Kündigungsschutz, sparen Lohn und Sozialversicherungsabgaben.«

Ein Beispiel:

»Vor fünf Jahren hat Petros Kritikos sein Studium abgeschlossen – Mathematik, seine große Leidenschaft. Das Diplom hängt gerahmt im Wohnzimmer seiner Eltern. „Viel wert ist es nicht“, sagt Petros traurig. Bis heute hat er keine Arbeit in seinem Beruf gefunden. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch.
Seit vier Monaten jobbt er als Kellner in einem Café, sechs Stunden pro Tag an vier Tagen in der Woche. 295 Euro hat ihm der Wirt für den Teilzeitjob angeboten. „Entscheide Dich schnell, es gibt viele Interessenten“, sagte der Cafébesitzer. Petros nahm den Job. Der 30-Jährige lebt bei seiner Mutter. Deren Witwenrente und Petros‘ Verdienst reichen für die beiden gerade mal zum Leben.«
»Zu Beginn der Krise sprach man in Griechenland von der „650 Euro-Generation“. Gemeint waren junge Berufsanfänger, aber auch Akademiker, die in der Gastronomie oder im Einzelhandel jobbten. Dafür gab es damals rund 650 Euro. Der staatlich festgesetzte Mindestlohn betrug seinerzeit 751 Euro. Inzwischen haben sich die Einkommensverhältnisse dramatisch verschlechtert. Jetzt macht das Wort von der „200 Euro-Generation“ die Runde«

Petros Kritiklos gehört zu der „200-Euro-Generation“.

»Oft stehen die Teilzeitarbeitsverhältnisse allerdings nur auf dem Papier. „Tatsächlich werden viele Teilzeitbeschäftigte von den Arbeitgebern gezwungen, praktisch Vollzeit zu arbeiten“, weiß der frühere Arbeitsminister Giorgos Koutroumanis. Dadurch entgehen den Rentenkassen erhebliche Beiträge, sagt Koutroumanis. Die Betroffenen wagen es nicht, sich zu beschweren, weil sie wissen, dass sie ihren Job verlieren, wenn sie die Mehrarbeit verweigern.«

Unglaubliche Verwüstungen sind auf dem Arbeitsmarkt zu beobachten:

»Nach Berechnungen des Gewerkschaftsbundes GSEE verdienen mehr als 340.000 Beschäftigte zwischen 100 und 400 Euro im Monat, fast 130.000 bekommen sogar weniger als 100 Euro. Fast drei von zehn Beschäftigten arbeiten schwarz.«

Und das ist nicht nur aktuell ein Desaster für die betroffenen Menschen, sondern auch mit Blick auf die Zukunft:

»Die hohe Langzeitarbeitslosigkeit, die Schwarzarbeit und die schlecht bezahlten Teilzeitjobs sind eine soziale Zeitbombe. Den wenigsten dieser Menschen dürfte es gelingen, nennenswerte Rentenansprüche zu erwerben oder gar privat fürs Alter vorzusorgen. Sie sitzen in einer lebenslangen Armutsfalle.«

Und Altersarmut ist heute schon ein zunehmendes Problem. Manche Rentner berichten von Kürzungen ihrer Renten um 40 Prozent. Nach Angaben des Rentnerverbandes Endisy bekommen fast 45 Prozent der Pensionäre weniger als 665 Euro im Monat und liegen damit unter der Armutsgrenze.

Viele Menschen sind am Ende ihrer Kräfte.

Ran an die mit Steuermitteln gefüllten Futtertröge oder: Wir machen auch Flüchtlinge … Die Unternehmensberaterrepublik und ein sich verselbständigendes Staatsversagen

McKinsey kommt. Allein das genügt, um bei vielen Menschen ganz bestimmte Assoziationen auszulösen, beispielsweise die von smarten Unternehmensberatern, die durch Werkhallen und Büros ziehen und eine Schneise der Entlassungen hinterlassen. Der deutsche Schriftsteller Rolf Hochhuth hatte sein Theaterstück, dass 2004 uraufgeführt wurde, so betitelt, obgleich die Unternehmensberatung selbst gar nicht in dem Stück auftaucht, in dem es um Massenentlassungen im Zuge von Fusionen geht, die in einer eigentlich florierenden Wirtschaftslage zum Zweck der Gewinnsteigerung durchgeführt werden. Allein der Name reicht. In der „normalen“ Wirtschaft erfüllen McKinsey & Co. seit langem ihre Aufgabe, den Auftraggebern die Ideen und die Legitimationsfolien für „Umstrukturierungen“ zu liefern, mit für viele Arbeitnehmer oftmals sehr bitteren Folgen. Aber das bleibt nicht begrenzt auf die Welt der Profit-Wirtschaft. Die Meckies dringen seit Jahren – protegiert von höchsten politischen Stellen – auch zunehmend in Kernbereiche der Staatswesens ein. Mit dem gleichen Geschäftsmodell, mit dem sie in der „normalen“ Wirtschaft ihre krakenhafte Erfolgsgeschichte haben schreiben können. 

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Viele Spekulationen. Wo bleiben sie denn? Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt und zunehmend im Hartz IV-System

Noch im vergangenen Jahr gab es eine Zeit der großen Hoffnung und der zuweilen rosaroten Brillenblicke auf die Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind. Sie wurden aus der Perspektive des Arbeitsmarktes einsortiert in die hier seit längerem laufenden Debatten über (angeblichen) Fachkräftemangel und dem Bedarf an zusätzlichen Erwerbspersonen durch Zuwanderung aufgrund der demographischen Entwicklung in unserem Land. Nun sind viele gekommen und es sind zuerst Menschen und eben keine Fachkräfte. Menschen aus anderen kulturellen und auch religiösen Zusammenhängen, teilweise traumatisiert von den Fluchtursachen, andere auf der Suche nach Wohlstand und Glück in der glitzernden Welt des Westens.

Relativ schnell musste man erkennen, dass hier – um bewusst in der Technokraten-Sprache zu verweilen – enorme Passungsprobleme bestehen zu dem, was auf dem deutschen Arbeitsmarkt erwartet und auch vorausgesetzt wird. Und wie in einem Lehrbuch der emotionalen Achterbahnfahrten wurde die rosarote Brille abgenommen und immer öfter tauchten Berichte über die gravierenden Probleme der Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge auf. Und ja, es gab auch viele anfangs begeisterte Unternehmer, die sich wieder abzuwenden beginnen von der Vorstellung, geflüchtete Menschen einzustellen. Teilweise aus verständlichen Enttäuschungen angesichts der angesprochenen Passungsprobleme, teilweise aber auch aufgrund der Frustrationen, die man mit Behörden und dem komplizierten Regelwerk machen musste, wenn man denn einen geflüchteten Menschen gerne eingestellt hätte (vgl. dazu nur als ein Beispiel aus der Berichterstattung den Beitrag Flüchtlinge und Arbeit des Wirtschaftsmagazins „WISO“ vom 10.10.2016).

Und natürlich waren angesichts der schieren Menge die Systeme hier bei uns gleichsam unter Starkstrom gesetzt und man musste improvisieren und täglich irgendwelche Löcher stopfen. Da kann und muss eine Menge hinten runterfallen. Man konnte froh sein, die basalen Versorgungsfragen geklärt zu bekommen, also wo man die Menschen unterbringt, wie das mit der medizinischen Versorgung abläuft oder wie man die (Nicht-)Anerkennungsmühle BAMF zum schnelleren Laufen bringen kann.

Aber auf eines wurde bereits im vergangenen Jahr immer wieder und gebetsmühlenartig hingewiesen: Für eine (irgendwann einmal) gelingende Arbeitsmarktintegration der erwerbsfähigen Menschen, die als Flüchtlinge gekommen sind, braucht man einen – eigentlich – einfach daherkommenden Dreischritt:

Möglichst schnell und umfassend Sprach- und Integrationskurse (möglichst in hoch differenzierter Form je nach individueller Verfasstheit der ganz unterschiedlichen Personengruppen und idealerweise vermischt mit dem zweiten Punkt), eine möglichst frühzeitige Einbindung gerade auch der vielen jungen Flüchtlinge in Beschäftigung und keinesfalls eine monate- oder gar jahrelange Warteschleife des Nichtstun, mithin also frühzeitig Beschäftigungsmöglichkeiten organisieren.
Und wenn irgendwie möglich eine konsequente Motivierung auf den Erwerb der auf dem deutschen Arbeitsmarkt erforderlichen beruflichen Abschlüsse.

Allerdings ist es in der Praxis gerade hinsichtlich der Erfordernisse einer möglichen Arbeitsmarktintegration nicht so gelaufen. Viel Zeit ist verloren gegangen, auch weil man die erste Zeit des Hierseins nicht annähernd konsequent genutzt hat, die Menschen überhaupt in die Lage zu versetzen, sich an einem Integrationsprozess zu beteiligen – und das kann nur über die Sprache laufen. Die natürlich fehlenden Sprachkenntnisse haben eine Nadelöhr-Funktion und hier hätte man die Ressourcen fokussieren müssen.

In der gleichen Zeit gab es wie in einer Dauerschleife immer wieder die Frage nach den Arbeitsmarktperspektiven und die Suche nach Antworten auf ein eigentlich selbstverständliches Phänomen, warum es denn so schwer fällt, Flüchtlinge in Ausbildung und Arbeit zu integrieren.

Natürlich wurde und wird in so einer Situation auch gerne die Wissenschaft befragt, wie lange es denn dauern und ob das wie funktionieren wird. Nun hat die Wissenschaft das Problem, dass sie sowieso schon in anderen Zeitkategorien unterwegs ist und dass sie wenn, dann Aussagen machen kann für die Vergangenheit, über die man im Glücksfall Daten hat. Die nun zu übertragen auf die heutige Situation kann grundsätzlich durchaus in Ordnung sein, nicht aber so ohne weiteres, wenn die Situation heute durch ganz andere Quantitäten wie auch durch andere Herkunftsländer geprägt ist.

Und wenn dann Wissenschaftler eine Studie veröffentlichen, dann stürzen sich die Medien darauf, endlich solide Erkenntnisse, die uns im Hier und Jetzt weiterhelfen können. Nur nehmen die Medien wie die meisten Menschen auch die Angelegenheit sehr subjektiv gefärbt auf, ob bewusst oder unbewusst. Da veröffentlicht beispielsweise die OECD eine Studie (EU Commission/OECD:  How are refugees faring on the labour market in Europe? A first evaluation based on the 2014 EU Labour Force Survey ad hoc module) und in der Presse werden daraus Artikel produziert mit solchen Überschriften: Flüchtlinge in Deutschland sind oft überqualifiziert auf der einen und Flüchtlinge ziehen erst nach 20 Jahren mit Inländern gleich auf der anderen Seite.

Und die OECD selbst schreibt zu der Studie:

»Die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen hat sich in der Vergangenheit als ein langfristiger Prozess erwiesen. Zwar erhöht sich die Erwerbsquote stetig, je länger die Menschen im Aufnahmeland sind, es dauert aber rund 20 Jahre bis die Erwerbsquote von nicht-Migranten erreicht ist. Frauen tun sich auf dem Arbeitsmarkt erheblich schwerer als Männer. Hochqualifizierte hatten es in Deutschland in der Vergangenheit besonders schwer, eine ihrer Qualifikation entsprechende Beschäftigung zu finden. Schon einfache Sprachkenntnisse erhöhen die Beschäftigungswahrscheinlichkeit erheblich.«

Und das alles unter der mehr als kompakten Überschrift Die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen ist ein langfristiger Prozess – Grundlegende Sprachkenntnisse entscheidender Faktor.
Das ist der Punkt. Sprachkenntnisse sind von elementarer Bedeutung und ihre Vermittlung müsste unangefochten auf Platz 1 der To-do-Liste stehen.

Der eigentliche und hier hervorzuhebende Punkt ist aber ein anderer Aspekt: Die Untersuchung bezieht sich auf Daten von 2014, also noch vor der großen Flüchtlingswelle aus dem vergangenen Jahr. Verglichen wird die Entwicklung in den meisten EU-Mitgliedstaaten (außer Niederlande, Dänemark und Irland) sowie der Schweiz und Norwegen.

Möglicherweise aber erfahren die (Nicht-)Erfolgsgeschichten der Vergangenheit nicht unbedingt eine Wiederauferstehung in den vor uns liegenden Jahren bei einer ganz anderen Zusammensetzung derjenigen, die zu uns gekommen sind.

Die gleiche grundlegende Problematik kann man auch an einer anderen Studie aufzeigen: Schaffen wir das? Ein Blick auf die Flüchtlinge der Neunziger gibt Aufschluss, so die hoffnungsfroh stimmende Botschaft in der Überschrift eines Artikels der Süddeutschen Zeitung: »Wissenschaftler haben die Werdegänge von Menschen, die in den Jahren 1990 bis 2010 nach Deutschland geflüchtet sind, mit denen anderer Einwanderer im Land verglichen.« Das DIW selbst hat einen ganzen Wochenbericht des Instituts (Heft 35/2016) damit gefüllt und die Ausgabe unter die Überschrift Integration Geflüchteter gestellt.

Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit befasst sich kontinuierlich mit der im Raum stehenden Frage nach der Arbeitsmarktintegration. Beispielsweise in dieser Veröffentlichung:

Herbert Brücker et al.: Eine vorläufige Bilanz der Fluchtmigration nach Deutschland. Aktuelle Berichte, 19/2016, Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 2016

Auch dort wird das hier aufgeworfene Dilemma einer Vorhersage auf der Grundlage von Erfahrungswerten aus der Vergangenheit mit Daten zu anderen Personengruppen angesprochen:

»Inwieweit sich Erfahrungen aus der Vergangenheit auf die künftige Arbeitsmarktintegration der im vergangenen und diesem Jahr nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge übertragen lässt, ist offen. Auf der einen Seite wird mehr in den Spracherwerb, die Bildung und die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten als in der Vergangenheit investiert. Dies dürfte die Arbeitsmarktintegration, zumindest mittelfristig, erleichtern.
Auf der anderen Seite hat die große Zahl der Geflüchteten, die im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen sind, nicht nur zu institutionellen Engpässen, wie längere Asylverfahren oder Probleme bei der Unterbringung geführt, sondern auch die Integration erschwert. Es ist zudem der Wettbewerb in den für die Geflüchteten relevanten Arbeitsmarktsegmenten gestiegen.« (Brücker et al. 2016: 17 f.)

Ein letzter Hinweis auf neuere Studien, die auf Daten der Vergangenheit zurückgreifen und diese auf heute übertragen und sogar fortschrieben: Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat vor kurzem diese Veröffentlichung vorgelegt: Elke Jahn: Brückeneffekte für Ausländer am Arbeitsmarkt: Zeitarbeit kann Perspektiven eröffnen. Nur muss man eben berücksichtigen, dass sich das auf ganz andere Zuwanderer bezieht. Die Verfasserin des Berichts schreibst selbst kritisch anmerkend:

»Obwohl die Ausländer in dieser Ana­lyse keine Geflüchteten sind, können die Ergebnis­ se ein Indiz dafür sein, ob Zeitarbeit auch für diese Gruppe eine Brücke in andere Beschäftigung sein könnte.«

Man kann der Studie beispielsweise entnehmen, dass vor allem – in der Vergangenheit – türkisch stämmige Arbeitnehmer von der Leiharbeit profitiert hätten, wenn man von einem Übertritt in eine andere Beschäftigung als Maßstab ausgeht. Aber es ist offensichtlich, dass wir es heute mit einer anderen Gruppe zu tun haben als die türkischstämmigen Arbeitnehmer in den vergangenen Jahren, auf die sich die Studie bezieht.

Nicht ohne Grund kann man zu dem Befund kommen, dass alle Versuchen, aus der Welt der Vergangenheit Mechanismus und Strukturen abzuleiten, die man dann nur noch dem heutigen Setting aufbrennen muss, im günstigsten Fall eine Annäherung an das, was auf uns zukommen wird, darstellt, im ungünstigsten Fall verführen sie uns zu falschen Schlussfolgerungen, weil sich die Rahmenbedingungen geändert haben.

Was bleibt ist der Blick in die unvermeidlich partikulare Praxis dessen, was passiert (ist). Greifen wir uns als Beispiel diesen Artikel von Mathias Bury heraus: Diese Jobs finden Flüchtlinge in Stuttgart, so hat er den überschrieben: »Eine neue Auswertung des Jobcenters Stuttgart zeigt: 21 Prozent der Flüchtlinge, die man seit 2015 betreut, haben mittlerweile eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden. Meist verrichten sie aber Helferjobs.«
Auch hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen, wie man auf solche Zahlen gekommen ist. »Beim Stuttgarter Jobcenter … haben 21 Prozent der Flüchtlinge, die man seit dem vergangenen Jahr betreut hat, direkt eine Stelle bekommen. „Das ist hoffnungsvoll“, findet Jobcenter-Chef Jürgen Peeß.«
Zuerst einige Daten zur Orientierung vor Ort:

»Rund 8.100 Flüchtlinge sind zurzeit in der Landeshauptstadt untergebracht. Bis jetzt hat nur ein Teil von diesen einen anerkannten Asylantrag in der Tasche. Sobald dies der Fall ist, erhalten die Menschen Hartz IV, zuständig für sie ist dann das Jobcenter. Dort sind inzwischen rund 1.600 Familien registriert, in denen etwa 3.000 Flüchtlinge leben, rund 800 von diesen sind unter 25 Jahre alt. 2.200 Personen gelten als erwerbsfähig.«

Aber wie ist man nun zu den zitierten 21 Prozent gekommen? Dazu erfahren wir:

»Um sich ein Bild zu machen, ob und in welchem Umfang die Vermittlung von Flüchtlingen in den ersten Arbeitsmarkt gelingt, hat man eine Gruppe ausgewählt, die darüber Aufschluss gibt: rund 700 Personen, die 2015 in den Hartz-IV-Bezug gekommen und erwerbsfähig sind und die man seither betreut hat. Aus dieser Gruppe seien bis jetzt 149 Menschen in Arbeit vermittelt worden, sagt Jürgen Peeß, eben jene 21 Prozent.«

Wenn die Menschen aus dieser Gruppe 2015 in den Hartz IV-Bezug gekommen sind, dann sind sie vorher nach Deutschland gekommen, denn am Anfang befinden sie sich nicht im Rechtskreis SGB II, sondern unter dem Asylbewerberleistungsgesetz. Es handelt sich also um Flüchtlinge, die hierher gekommen sind vor der großen Zahl an Flüchtlingen, die seit dem Herbst des vergangenen Jahres gekommen sind.

»Der größte Teil der vermittelten Flüchtlinge hat Helferjobs bekommen, in der Reinigungsbranche, als Lagerarbeiter, im Gastgewerbe oder auf dem Bau, um nur einige zu nennen. Aber: „Die offenen Stellen gerade im Helferbereich wachsen nicht in gleichem Maß wie die Zahl der Flüchtlinge, die anerkannt werden“, sagt Jürgen Peeß. Wodurch „relativ kurzfristige Integrationserfolge“ wie bisher schwieriger würden. So hätten nach bisherigen Erfahrungen mehr als 65 Prozent der erwerbsfähigen Flüchtlinge „keine formale Berufsausbildung“. In vielen Fällen müsse man sich auf Integrationsprozesse „von drei bis vier Jahren einstellen“, sagt der Jobcenter-Chef.«

Auch hier wird über eine Erfahrung berichtet, die viele andere, die sich der Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge verschrieben haben, machen müssen: »Viele Flüchtlinge möchten gar keine Berufsausbildung ­machen, sie wollen schnell arbeiten und Geld verdienen, um ihre Familien zu unterstützen.«

Der entscheidende Punkt, den man den Stuttgarter Erfahrungen entnehmen kann, versteckt sich hingegen hinter diesem Passus:

„Ohne Integrationskurs nimmt uns die Leute niemand ab“, so der Jobcenter-Leiter Jürgen Peeß. Auch das Sprachniveau, das Flüchtlinge aus diesen Kursen mitbrächten, reiche in der Regel noch nicht und müsse durch eine berufsbezogene Sprachförderung ergänzt werden.

Genau hier liegt ein, wenn nicht der zentrale Flaschenhals, durch den alle müssen. Und genau hier hätte man längst viel mehr machen müssen, denn was da nicht durchkommt, wird an anderer Stelle bitter aufschlagen.

Abbildung: Bundesagentur für Arbeit, Statistik/Arbeitsmarktberichterstattung: Arbeitsmarkt kompakt: Fluchtmigration September 2016, Nürnberg 2016