Griechenland: Der sich selbst überlassene Außenposten der EU gegen Flüchtlinge und für viele Griechen der Blick auf die eigene „200-Euro-Generation“ und eine lebenslange Armutsfalle

Wir leben hier nicht auf einer Insel, auch wenn man nicht selten den Eindruck vermittelt bekommt, das sei so. Kaum sind die Flüchtlingszahlen bei uns geschrumpft, ist das Thema aus den Schlagzeilen. Aber nicht nur hinsichtlich der Menschen, die (nicht mehr) zu uns (durch)kommen, sondern wenn man nicht genau nach links und rechts in den Medien schaut, dann könnte man glauben, dass die Flüchtlingskrise insgesamt irgendwie vorbei ist. Das folgt dem gleichen Muster wie die Nicht-mehr-Berichterstattung über die Vorgänge in der Türkei. Nach einer kurzen Aufwallung in den Medien berichtet heute kaum noch einer über den systematischen Umbau des türkischen Staats (und der Gesellschaft) nach der Blaupause von Erdogan. Aber die Flüchtlingskrise und das Sterben derjenigen, die über das Mittelmeer die Festung Europa zu erreichen versuchen, ist keineswegs beendet. Sogar ganz im Gegenteil.

Man muss nur hinschauen: 3.800 Tote im Mittelmeer – allein in diesem Jahr, so ist eine der dazu leider passenden aktuellen Meldungen überschrieben. 2016 sind so viele Flüchtlinge im Mittelmeer gestorben wie nie zuvor, hat das Uno-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) mitgeteilt. Es sind fast schon so viel wie im gesamten Vorjahr, als 3.777 Menschen auf See starben. Selbst das Sterben und seine Wahrscheinlichkeit kann man in nackte Zahlen pressen: »Die gefährlichste Überfahrt sei die zwischen Libyen und Italien: Hier kommt der Organisation zufolge im laufenden Jahr ein Toter auf 47 Ankömmlinge. Bei der wesentlich kürzeren Überfahrt von der Türkei nach Griechenland beträgt das Verhältnis demnach 1:88.« Die steigende Zahl von Toten muss auch vor dem Hintergrund eines starken Rückgangs der nach Europa Geflüchteten gesehen und bewertet werden (dieser Rückgang ist in erster Linie zurückzuführen auf die fast vollständige Schließung des Fluchtwegs über die Türkei, die – noch – funktioniert). Die Gründe, die der UNHCR-Sprecher für die hohe Zahl an Toten nannte, stellen eine Anklage gegen die Abschottungspolitik der Europäischen Union dar, ohne dass die EU beim Namen genannt wurde, worauf der Artikel Massengrab Mittelmeer hinweist: »Die Hälfte der Flüchtlinge kam aufgrund der weitgehenden Schließung des östlichen Mittelmeers über die sehr viel gefährlicheren Seewege von der libyschen oder auch von der ägyptischen Küste. Die Menschenschmuggler verwenden zunehmend Schlauchboote und andere instabile Fahrzeuge, die der Überfahrt nicht gewachsen sind. Viele Boote sind stark überfüllt. Beides ist Ergebnis der EU-Militärmission „Operation Sophia“, die darauf abzielt, möglichst viele fluchttaugliche Schiffe zu zerstören.«

Während die EU versucht, den tatsächlichen und potenziellen Flüchtlingsweg von Libyen aus durch Zusammenarbeit mit der international anerkannten, aber im Land kaum respektierten »Einheitsregierung« in Tripolis einzudämmen (so hat die EU gerade in diesen Tagen mit einem Ausbildungsprogramm für Angehörige der libyschen Marine und Küstenwacht begonnen, wobei das langfristige Ziel der EU darin besteht, auch in libyschen Hoheitsgewässern aktiv werden zu können, was die Regierung in Tripolis ihr bisher verweigert), öffnet sich bereits die nächste Nachschubquelle für Flüchtlinge, de versuchen werden, über das Mittelmeer überzusetzen: Ägypten.

»Das nordafrikanische Land ist eine der wichtigsten Transitregionen für Migranten. Aber im Zuge der Wirtschaftskrise brechen auch immer mehr Einheimische nach Europa auf«, so Sofian Philip Naceur in dem Artikel Flucht aus Ägypten.

»Ägypten ist zwar schon seit Jahren das wichtigste Transitland für Flüchtende aus Somalia, Eritrea, Äthiopien, Sudan und Südsudan, doch eine neue, beunruhigende Entwicklung sorgt derzeit dafür, dass sich Schleuser nicht wegen mangelnder Kundschaft sorgen müssen. Seit Jahresbeginn steige die Nachfrage nach Überfahrten in Richtung Europa auch in der ägyptischen Bevölkerung stark an, erzählt Mohammed Al-Kaschef von der Menschenrechtsorganisation Egyptian Initiative for Personal Rights (EIPR)

Und auch hier wieder kann man den Wirkmechanismus der Preisdifferenzierung in der Schlepperökonomie beobachten: Während Flüchtende aus Ostafrika bis zu 3.000 US-Dollar bezahlen, dürfen Ägypter teils schon für die Hälfte einsteigen. Auch Ratenzahlungen würden akzeptiert.

Derzeit ist das Zielland vor allem Italien, da die Regierung in Rom bislang nur volljährige Ägypter wieder abschiebt zurück in ihr Heimatland. Nicht nur in den Küstenprovinzen, sondern auch in Kairo und im ländlichen Oberägypten hat sich herumgesprochen, dass Italien für junge Menschen eine Möglichkeit bedeutet, der Krise am Nil zu entkommen. Auch wenn sich die Saison der Überfahrten übers Mittelmeer dem Ende zuneigt – für das kommende Jahr ist keine Besserung in Sicht. Denn Ägyptens Wirtschaft steht vor dem Kollaps. Nur mit Mühe konnte das Regime von Präsident Abdel Fattah Al-Sisi in den letzten Jahren den Staatsbankrott verhindern, aber die Luft wird immer dünner. Dazu auch der Artikel Ägyptens Regime fürchtet den Volkszorn von Martin Gehlen: »Die Inflation galoppiert, der Tourismus wirft kaum noch Devisen ab, viele Güter werden knapp.« Ein paar nicht nur volkswirtschaftliche, sondern auch sozialpolitische Indikatoren verdeutlichen den Ernst der Lage:

»Die Folgen für die Menschen, von denen schon jetzt die Hälfte arm oder sehr arm ist, sind hart. Weil die Lebensmittelpreise seit Jahresbeginn um 20 bis 50 Prozent gestiegen sind, müssen immer mehr Familien auch beim Essen sparen. Rund 1500 der 8000 gebräuchlichsten Medikamente sind aus den Regalen verschwunden. Einheimische Firmen stoppen ihre Produktion, weil sie keine Devisen mehr haben, um Vorprodukte oder Rohstoffe einzukaufen. Auch Autoersatzteile werden knapp.
Beim Getreide ist die 90-Millionen-Nation der größte Importeur der Welt. Ägyptens Jahreseinfuhren beliefen sich zuletzt auf 60 Milliarden Dollar, exportiert dagegen werden nur Waren für 20 Milliarden Dollar …  Der Präsident schwört die Bevölkerung auf harte Zeiten ein. Er selbst habe „zehn Jahre lang nichts als Wasser in seinem Kühlschrank gehabt“, deklamierte der Exfeldmarschall kürzlich. „Der Mann hat seinen Kühlschrank wohl mit der Waschmaschine verwechselt“, höhnte es prompt zurück aus dem Internet.«

Unterdessen setzen Regierung, Präsident und Zentralbank die neoliberalen Auflagen, die an die Kreditvergabe geknüpft sind, fleißig um. Eine Mehrwertsteuer wurde eingeführt und vom Parlament bestätigt, die Subventionen für Treibstoffe und andere Warengruppen massiv zusammengestrichen, und eine Abwertung Währung steht kurz bevor.  Das alles wird verlässlichen Nachschub an Flüchtlingen generieren – und an Opfern auf dem damit verbundenen Weg zur Festung Europa.

Und die Situation in Griechenland, vor allem auf den griechischen Inseln, diesen letzten und vergessenen Außenposten der EU?

Von da erreichen uns in diesen Tagen solche Meldungen: Flüchtlinge zünden Gebäude von EU-Asylbehörde an: »Flüchtlinge haben auf der griechischen Insel mehrere Gebäude der EU-Asylbehörde in Brand gesteckt. Der Frust angesichts überfüllter Lager und langer Wartezeiten ist groß«, berichten Giorgos Christides und Britta Kollenbroich.

Speziell zur Insel Lesbos vgl. als Hintergrund diese SWR-Radio-Reportage: Die vergessene Insel – Lesbos steht vor dem Ruin (28.10.2016): Vor einem Jahr war Lesbos ein Brennpunkt der Flüchtlingskrise. Über das Meer kamen die Menschen, die aus Afrika und Mittelasien vor Krieg und Armut flohen. Auf der griechischen Insel bekamen sie die erste Hilfe, doch die Welt dankt den Bewohnern ihren humanitären Einsatz nicht. Die Touristen bleiben aus, der Tourismus ist aber die Lebensgrundlage für die Menschen.

Auch auf anderen griechischen Inseln in der Ägäis kam es zuletzt immer wieder zu Protesten. Insgesamt sitzen derzeit fast 65.900 Geflohene in Griechenland fest, mehr als 11.000 davon in Lagern auf den griechischen Inseln. Da viele von ihnen politisches Asyl in Griechenland beantragt haben, verzögern sich die Verfahren, bei denen jeder Fall einzeln geprüft wird. Ein wesentlicher Grund für die langen Wartezeiten sind die fehlenden Mitarbeiter – sowohl auf der griechischen Seite wie auch von der EU.

Und offensichtlich werden die Griechen ziemlich allein gelassen mit dem Problem, wie man diesem Artikel entnehmen kann: EU-Staaten verweigern Entsendung ihrer Beamten. »Die EU-Staaten weigern sich, Asylexperten nach Griechenland zu schicken, wie sie es im Zuge des Flüchtlingsdeals mit der Türkei versprochen hatten. Sie fürchten offenbar Gefahren für ihre Beamten. Die Sicherheitslage auf den griechischen Inseln … sei „äußerst instabil“, heißt es in einem internen Papier des Europäischen Rats … Dies könne zu „Problemen für das Personal des nationalen Asyldienstes, der EU-Agenturen und der Nichtregierungsorganisationen“, führen.«

Die Regierung von Ministerpräsident Tsipras hat jetzt ein echtes Problem, denn eigentlich müssten die Inseln, wo sich die Flüchtlinge in völlig überfüllten Lagern stapeln, endlich entlastet werden, durch einen Transfer der Menschen auf das griechische Festland. Aber wenn das gemacht wird, dann könnte das seitens der Schleuser in der Türkei als Signal gewertet werden, dass die Festland-Route nach Europa mittel- und langfristig wieder geöffnet ist und die Flüchtlingszahlen nach Griechenland würden wieder ansteigen.

Und Griechenland hat ja nicht nur mit den Flüchtlingen zu tun, sondern befindet sich selbst in einer enormen Krise, die in den vergangenen Jahren zu einer erheblichen Verarmung eines Teils der Bevölkerung geführt hat. Dazu beispielsweise Wie die Krise Europa gespalten hat: »Die Armut in Europa ist auf Vorkrisenniveau gesunken. Doch hinter der guten Nachricht verbirgt sich ein besorgniserregender Befund: In einigen EU-Staaten hat sich die soziale Lage drastisch verschlechtert.« Ganz vorne bei der negativen Entwicklung dabei: Griechenland. Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Es knirscht und knackt im Gebälk und im Keller. Die EU driftet auseinander. Auch bei der Entwicklung der Armutsquoten vom 23.10.2016).

Aber auch die Krise in Griechenland selbst macht kaum noch Schlagzeilen – für die meisten Griechen ist sie jedoch bittere Realität. Jeder Dritte ist akut von Armut bedroht. Die Notlage wird viele Menschen bis zu ihrem Tod begleiten, so Gerd Höhler in seinem lesenswerten Artikel Griechen in der lebenslangen Armutsfalle.

Aber – so wird der eine oder andere einwenden: Haben die Griechen nicht Milliarden Euro an Hilfszahlungen bekommen?

Haben Sie. Wobei immer die Frage ist, wem geholfen wird:

»20 Monate nach dem Amtsantritt des Premierministers Alexis Tsipras geht es den meisten Griechen schlechter denn je. Von den bisher ausgezahlten Hilfskrediten, immerhin 246 Milliarden Euro, kam bei den Menschen fast nichts an. Das Geld diente überwiegend dazu, Altschulden zu refinanzieren.«

Und die Aussichten sind mehr als düster: »Im ersten Halbjahr 2016 schrumpfte die Wirtschaft um 0,75 Prozent. Die Firmen-Insolvenzen erreichten ein neues Dreijahreshoch. Bei der internationalen Wettbewerbsfähigkeit fiel Griechenland in der jüngsten Rangliste des World Economic Forum um fünf Plätze auf Rang 86 unter 138 Ländern zurück, noch hinter die Ukraine, Albanien und den Iran.«
Kommen wir zu den Menschen und dem, was die Krise bei ihnen anrichtet: »Die Arbeitslosenquote in Griechenland lag im Juli bei 23,2 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei fast 48 Prozent – ein trauriger Rekord in Europa. Nur zwei von zehn Arbeitslosen in Griechenland bekommen Arbeitslosengeld, das maximal ein Jahr lang gezahlt wird. Eine Grundversorgung wie Hartz IV gibt es nicht.«

»Seit Beginn der Krise sind die Einkommen nach Berechnungen des IWF um durchschnittlich ein Drittel zurückgegangen. Sechs von zehn griechischen Arbeitnehmern verdienen inzwischen weniger als 1000 Euro brutto im Monat. Viele Arbeitgeber stellen nur noch Teilzeitkräfte ein, vor allem in der Gastronomie. So umgehen sie den Kündigungsschutz, sparen Lohn und Sozialversicherungsabgaben.«

Ein Beispiel:

»Vor fünf Jahren hat Petros Kritikos sein Studium abgeschlossen – Mathematik, seine große Leidenschaft. Das Diplom hängt gerahmt im Wohnzimmer seiner Eltern. „Viel wert ist es nicht“, sagt Petros traurig. Bis heute hat er keine Arbeit in seinem Beruf gefunden. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch.
Seit vier Monaten jobbt er als Kellner in einem Café, sechs Stunden pro Tag an vier Tagen in der Woche. 295 Euro hat ihm der Wirt für den Teilzeitjob angeboten. „Entscheide Dich schnell, es gibt viele Interessenten“, sagte der Cafébesitzer. Petros nahm den Job. Der 30-Jährige lebt bei seiner Mutter. Deren Witwenrente und Petros‘ Verdienst reichen für die beiden gerade mal zum Leben.«
»Zu Beginn der Krise sprach man in Griechenland von der „650 Euro-Generation“. Gemeint waren junge Berufsanfänger, aber auch Akademiker, die in der Gastronomie oder im Einzelhandel jobbten. Dafür gab es damals rund 650 Euro. Der staatlich festgesetzte Mindestlohn betrug seinerzeit 751 Euro. Inzwischen haben sich die Einkommensverhältnisse dramatisch verschlechtert. Jetzt macht das Wort von der „200 Euro-Generation“ die Runde«

Petros Kritiklos gehört zu der „200-Euro-Generation“.

»Oft stehen die Teilzeitarbeitsverhältnisse allerdings nur auf dem Papier. „Tatsächlich werden viele Teilzeitbeschäftigte von den Arbeitgebern gezwungen, praktisch Vollzeit zu arbeiten“, weiß der frühere Arbeitsminister Giorgos Koutroumanis. Dadurch entgehen den Rentenkassen erhebliche Beiträge, sagt Koutroumanis. Die Betroffenen wagen es nicht, sich zu beschweren, weil sie wissen, dass sie ihren Job verlieren, wenn sie die Mehrarbeit verweigern.«

Unglaubliche Verwüstungen sind auf dem Arbeitsmarkt zu beobachten:

»Nach Berechnungen des Gewerkschaftsbundes GSEE verdienen mehr als 340.000 Beschäftigte zwischen 100 und 400 Euro im Monat, fast 130.000 bekommen sogar weniger als 100 Euro. Fast drei von zehn Beschäftigten arbeiten schwarz.«

Und das ist nicht nur aktuell ein Desaster für die betroffenen Menschen, sondern auch mit Blick auf die Zukunft:

»Die hohe Langzeitarbeitslosigkeit, die Schwarzarbeit und die schlecht bezahlten Teilzeitjobs sind eine soziale Zeitbombe. Den wenigsten dieser Menschen dürfte es gelingen, nennenswerte Rentenansprüche zu erwerben oder gar privat fürs Alter vorzusorgen. Sie sitzen in einer lebenslangen Armutsfalle.«

Und Altersarmut ist heute schon ein zunehmendes Problem. Manche Rentner berichten von Kürzungen ihrer Renten um 40 Prozent. Nach Angaben des Rentnerverbandes Endisy bekommen fast 45 Prozent der Pensionäre weniger als 665 Euro im Monat und liegen damit unter der Armutsgrenze.

Viele Menschen sind am Ende ihrer Kräfte.

Ran an die mit Steuermitteln gefüllten Futtertröge oder: Wir machen auch Flüchtlinge … Die Unternehmensberaterrepublik und ein sich verselbständigendes Staatsversagen

McKinsey kommt. Allein das genügt, um bei vielen Menschen ganz bestimmte Assoziationen auszulösen, beispielsweise die von smarten Unternehmensberatern, die durch Werkhallen und Büros ziehen und eine Schneise der Entlassungen hinterlassen. Der deutsche Schriftsteller Rolf Hochhuth hatte sein Theaterstück, dass 2004 uraufgeführt wurde, so betitelt, obgleich die Unternehmensberatung selbst gar nicht in dem Stück auftaucht, in dem es um Massenentlassungen im Zuge von Fusionen geht, die in einer eigentlich florierenden Wirtschaftslage zum Zweck der Gewinnsteigerung durchgeführt werden. Allein der Name reicht. In der „normalen“ Wirtschaft erfüllen McKinsey & Co. seit langem ihre Aufgabe, den Auftraggebern die Ideen und die Legitimationsfolien für „Umstrukturierungen“ zu liefern, mit für viele Arbeitnehmer oftmals sehr bitteren Folgen. Aber das bleibt nicht begrenzt auf die Welt der Profit-Wirtschaft. Die Meckies dringen seit Jahren – protegiert von höchsten politischen Stellen – auch zunehmend in Kernbereiche der Staatswesens ein. Mit dem gleichen Geschäftsmodell, mit dem sie in der „normalen“ Wirtschaft ihre krakenhafte Erfolgsgeschichte haben schreiben können. 

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Viele Spekulationen. Wo bleiben sie denn? Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt und zunehmend im Hartz IV-System

Noch im vergangenen Jahr gab es eine Zeit der großen Hoffnung und der zuweilen rosaroten Brillenblicke auf die Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind. Sie wurden aus der Perspektive des Arbeitsmarktes einsortiert in die hier seit längerem laufenden Debatten über (angeblichen) Fachkräftemangel und dem Bedarf an zusätzlichen Erwerbspersonen durch Zuwanderung aufgrund der demographischen Entwicklung in unserem Land. Nun sind viele gekommen und es sind zuerst Menschen und eben keine Fachkräfte. Menschen aus anderen kulturellen und auch religiösen Zusammenhängen, teilweise traumatisiert von den Fluchtursachen, andere auf der Suche nach Wohlstand und Glück in der glitzernden Welt des Westens.

Relativ schnell musste man erkennen, dass hier – um bewusst in der Technokraten-Sprache zu verweilen – enorme Passungsprobleme bestehen zu dem, was auf dem deutschen Arbeitsmarkt erwartet und auch vorausgesetzt wird. Und wie in einem Lehrbuch der emotionalen Achterbahnfahrten wurde die rosarote Brille abgenommen und immer öfter tauchten Berichte über die gravierenden Probleme der Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge auf. Und ja, es gab auch viele anfangs begeisterte Unternehmer, die sich wieder abzuwenden beginnen von der Vorstellung, geflüchtete Menschen einzustellen. Teilweise aus verständlichen Enttäuschungen angesichts der angesprochenen Passungsprobleme, teilweise aber auch aufgrund der Frustrationen, die man mit Behörden und dem komplizierten Regelwerk machen musste, wenn man denn einen geflüchteten Menschen gerne eingestellt hätte (vgl. dazu nur als ein Beispiel aus der Berichterstattung den Beitrag Flüchtlinge und Arbeit des Wirtschaftsmagazins „WISO“ vom 10.10.2016).

Und natürlich waren angesichts der schieren Menge die Systeme hier bei uns gleichsam unter Starkstrom gesetzt und man musste improvisieren und täglich irgendwelche Löcher stopfen. Da kann und muss eine Menge hinten runterfallen. Man konnte froh sein, die basalen Versorgungsfragen geklärt zu bekommen, also wo man die Menschen unterbringt, wie das mit der medizinischen Versorgung abläuft oder wie man die (Nicht-)Anerkennungsmühle BAMF zum schnelleren Laufen bringen kann.

Aber auf eines wurde bereits im vergangenen Jahr immer wieder und gebetsmühlenartig hingewiesen: Für eine (irgendwann einmal) gelingende Arbeitsmarktintegration der erwerbsfähigen Menschen, die als Flüchtlinge gekommen sind, braucht man einen – eigentlich – einfach daherkommenden Dreischritt:

Möglichst schnell und umfassend Sprach- und Integrationskurse (möglichst in hoch differenzierter Form je nach individueller Verfasstheit der ganz unterschiedlichen Personengruppen und idealerweise vermischt mit dem zweiten Punkt), eine möglichst frühzeitige Einbindung gerade auch der vielen jungen Flüchtlinge in Beschäftigung und keinesfalls eine monate- oder gar jahrelange Warteschleife des Nichtstun, mithin also frühzeitig Beschäftigungsmöglichkeiten organisieren.
Und wenn irgendwie möglich eine konsequente Motivierung auf den Erwerb der auf dem deutschen Arbeitsmarkt erforderlichen beruflichen Abschlüsse.

Allerdings ist es in der Praxis gerade hinsichtlich der Erfordernisse einer möglichen Arbeitsmarktintegration nicht so gelaufen. Viel Zeit ist verloren gegangen, auch weil man die erste Zeit des Hierseins nicht annähernd konsequent genutzt hat, die Menschen überhaupt in die Lage zu versetzen, sich an einem Integrationsprozess zu beteiligen – und das kann nur über die Sprache laufen. Die natürlich fehlenden Sprachkenntnisse haben eine Nadelöhr-Funktion und hier hätte man die Ressourcen fokussieren müssen.

In der gleichen Zeit gab es wie in einer Dauerschleife immer wieder die Frage nach den Arbeitsmarktperspektiven und die Suche nach Antworten auf ein eigentlich selbstverständliches Phänomen, warum es denn so schwer fällt, Flüchtlinge in Ausbildung und Arbeit zu integrieren.

Natürlich wurde und wird in so einer Situation auch gerne die Wissenschaft befragt, wie lange es denn dauern und ob das wie funktionieren wird. Nun hat die Wissenschaft das Problem, dass sie sowieso schon in anderen Zeitkategorien unterwegs ist und dass sie wenn, dann Aussagen machen kann für die Vergangenheit, über die man im Glücksfall Daten hat. Die nun zu übertragen auf die heutige Situation kann grundsätzlich durchaus in Ordnung sein, nicht aber so ohne weiteres, wenn die Situation heute durch ganz andere Quantitäten wie auch durch andere Herkunftsländer geprägt ist.

Und wenn dann Wissenschaftler eine Studie veröffentlichen, dann stürzen sich die Medien darauf, endlich solide Erkenntnisse, die uns im Hier und Jetzt weiterhelfen können. Nur nehmen die Medien wie die meisten Menschen auch die Angelegenheit sehr subjektiv gefärbt auf, ob bewusst oder unbewusst. Da veröffentlicht beispielsweise die OECD eine Studie (EU Commission/OECD:  How are refugees faring on the labour market in Europe? A first evaluation based on the 2014 EU Labour Force Survey ad hoc module) und in der Presse werden daraus Artikel produziert mit solchen Überschriften: Flüchtlinge in Deutschland sind oft überqualifiziert auf der einen und Flüchtlinge ziehen erst nach 20 Jahren mit Inländern gleich auf der anderen Seite.

Und die OECD selbst schreibt zu der Studie:

»Die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen hat sich in der Vergangenheit als ein langfristiger Prozess erwiesen. Zwar erhöht sich die Erwerbsquote stetig, je länger die Menschen im Aufnahmeland sind, es dauert aber rund 20 Jahre bis die Erwerbsquote von nicht-Migranten erreicht ist. Frauen tun sich auf dem Arbeitsmarkt erheblich schwerer als Männer. Hochqualifizierte hatten es in Deutschland in der Vergangenheit besonders schwer, eine ihrer Qualifikation entsprechende Beschäftigung zu finden. Schon einfache Sprachkenntnisse erhöhen die Beschäftigungswahrscheinlichkeit erheblich.«

Und das alles unter der mehr als kompakten Überschrift Die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen ist ein langfristiger Prozess – Grundlegende Sprachkenntnisse entscheidender Faktor.
Das ist der Punkt. Sprachkenntnisse sind von elementarer Bedeutung und ihre Vermittlung müsste unangefochten auf Platz 1 der To-do-Liste stehen.

Der eigentliche und hier hervorzuhebende Punkt ist aber ein anderer Aspekt: Die Untersuchung bezieht sich auf Daten von 2014, also noch vor der großen Flüchtlingswelle aus dem vergangenen Jahr. Verglichen wird die Entwicklung in den meisten EU-Mitgliedstaaten (außer Niederlande, Dänemark und Irland) sowie der Schweiz und Norwegen.

Möglicherweise aber erfahren die (Nicht-)Erfolgsgeschichten der Vergangenheit nicht unbedingt eine Wiederauferstehung in den vor uns liegenden Jahren bei einer ganz anderen Zusammensetzung derjenigen, die zu uns gekommen sind.

Die gleiche grundlegende Problematik kann man auch an einer anderen Studie aufzeigen: Schaffen wir das? Ein Blick auf die Flüchtlinge der Neunziger gibt Aufschluss, so die hoffnungsfroh stimmende Botschaft in der Überschrift eines Artikels der Süddeutschen Zeitung: »Wissenschaftler haben die Werdegänge von Menschen, die in den Jahren 1990 bis 2010 nach Deutschland geflüchtet sind, mit denen anderer Einwanderer im Land verglichen.« Das DIW selbst hat einen ganzen Wochenbericht des Instituts (Heft 35/2016) damit gefüllt und die Ausgabe unter die Überschrift Integration Geflüchteter gestellt.

Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit befasst sich kontinuierlich mit der im Raum stehenden Frage nach der Arbeitsmarktintegration. Beispielsweise in dieser Veröffentlichung:

Herbert Brücker et al.: Eine vorläufige Bilanz der Fluchtmigration nach Deutschland. Aktuelle Berichte, 19/2016, Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 2016

Auch dort wird das hier aufgeworfene Dilemma einer Vorhersage auf der Grundlage von Erfahrungswerten aus der Vergangenheit mit Daten zu anderen Personengruppen angesprochen:

»Inwieweit sich Erfahrungen aus der Vergangenheit auf die künftige Arbeitsmarktintegration der im vergangenen und diesem Jahr nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge übertragen lässt, ist offen. Auf der einen Seite wird mehr in den Spracherwerb, die Bildung und die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten als in der Vergangenheit investiert. Dies dürfte die Arbeitsmarktintegration, zumindest mittelfristig, erleichtern.
Auf der anderen Seite hat die große Zahl der Geflüchteten, die im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen sind, nicht nur zu institutionellen Engpässen, wie längere Asylverfahren oder Probleme bei der Unterbringung geführt, sondern auch die Integration erschwert. Es ist zudem der Wettbewerb in den für die Geflüchteten relevanten Arbeitsmarktsegmenten gestiegen.« (Brücker et al. 2016: 17 f.)

Ein letzter Hinweis auf neuere Studien, die auf Daten der Vergangenheit zurückgreifen und diese auf heute übertragen und sogar fortschrieben: Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat vor kurzem diese Veröffentlichung vorgelegt: Elke Jahn: Brückeneffekte für Ausländer am Arbeitsmarkt: Zeitarbeit kann Perspektiven eröffnen. Nur muss man eben berücksichtigen, dass sich das auf ganz andere Zuwanderer bezieht. Die Verfasserin des Berichts schreibst selbst kritisch anmerkend:

»Obwohl die Ausländer in dieser Ana­lyse keine Geflüchteten sind, können die Ergebnis­ se ein Indiz dafür sein, ob Zeitarbeit auch für diese Gruppe eine Brücke in andere Beschäftigung sein könnte.«

Man kann der Studie beispielsweise entnehmen, dass vor allem – in der Vergangenheit – türkisch stämmige Arbeitnehmer von der Leiharbeit profitiert hätten, wenn man von einem Übertritt in eine andere Beschäftigung als Maßstab ausgeht. Aber es ist offensichtlich, dass wir es heute mit einer anderen Gruppe zu tun haben als die türkischstämmigen Arbeitnehmer in den vergangenen Jahren, auf die sich die Studie bezieht.

Nicht ohne Grund kann man zu dem Befund kommen, dass alle Versuchen, aus der Welt der Vergangenheit Mechanismus und Strukturen abzuleiten, die man dann nur noch dem heutigen Setting aufbrennen muss, im günstigsten Fall eine Annäherung an das, was auf uns zukommen wird, darstellt, im ungünstigsten Fall verführen sie uns zu falschen Schlussfolgerungen, weil sich die Rahmenbedingungen geändert haben.

Was bleibt ist der Blick in die unvermeidlich partikulare Praxis dessen, was passiert (ist). Greifen wir uns als Beispiel diesen Artikel von Mathias Bury heraus: Diese Jobs finden Flüchtlinge in Stuttgart, so hat er den überschrieben: »Eine neue Auswertung des Jobcenters Stuttgart zeigt: 21 Prozent der Flüchtlinge, die man seit 2015 betreut, haben mittlerweile eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden. Meist verrichten sie aber Helferjobs.«
Auch hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen, wie man auf solche Zahlen gekommen ist. »Beim Stuttgarter Jobcenter … haben 21 Prozent der Flüchtlinge, die man seit dem vergangenen Jahr betreut hat, direkt eine Stelle bekommen. „Das ist hoffnungsvoll“, findet Jobcenter-Chef Jürgen Peeß.«
Zuerst einige Daten zur Orientierung vor Ort:

»Rund 8.100 Flüchtlinge sind zurzeit in der Landeshauptstadt untergebracht. Bis jetzt hat nur ein Teil von diesen einen anerkannten Asylantrag in der Tasche. Sobald dies der Fall ist, erhalten die Menschen Hartz IV, zuständig für sie ist dann das Jobcenter. Dort sind inzwischen rund 1.600 Familien registriert, in denen etwa 3.000 Flüchtlinge leben, rund 800 von diesen sind unter 25 Jahre alt. 2.200 Personen gelten als erwerbsfähig.«

Aber wie ist man nun zu den zitierten 21 Prozent gekommen? Dazu erfahren wir:

»Um sich ein Bild zu machen, ob und in welchem Umfang die Vermittlung von Flüchtlingen in den ersten Arbeitsmarkt gelingt, hat man eine Gruppe ausgewählt, die darüber Aufschluss gibt: rund 700 Personen, die 2015 in den Hartz-IV-Bezug gekommen und erwerbsfähig sind und die man seither betreut hat. Aus dieser Gruppe seien bis jetzt 149 Menschen in Arbeit vermittelt worden, sagt Jürgen Peeß, eben jene 21 Prozent.«

Wenn die Menschen aus dieser Gruppe 2015 in den Hartz IV-Bezug gekommen sind, dann sind sie vorher nach Deutschland gekommen, denn am Anfang befinden sie sich nicht im Rechtskreis SGB II, sondern unter dem Asylbewerberleistungsgesetz. Es handelt sich also um Flüchtlinge, die hierher gekommen sind vor der großen Zahl an Flüchtlingen, die seit dem Herbst des vergangenen Jahres gekommen sind.

»Der größte Teil der vermittelten Flüchtlinge hat Helferjobs bekommen, in der Reinigungsbranche, als Lagerarbeiter, im Gastgewerbe oder auf dem Bau, um nur einige zu nennen. Aber: „Die offenen Stellen gerade im Helferbereich wachsen nicht in gleichem Maß wie die Zahl der Flüchtlinge, die anerkannt werden“, sagt Jürgen Peeß. Wodurch „relativ kurzfristige Integrationserfolge“ wie bisher schwieriger würden. So hätten nach bisherigen Erfahrungen mehr als 65 Prozent der erwerbsfähigen Flüchtlinge „keine formale Berufsausbildung“. In vielen Fällen müsse man sich auf Integrationsprozesse „von drei bis vier Jahren einstellen“, sagt der Jobcenter-Chef.«

Auch hier wird über eine Erfahrung berichtet, die viele andere, die sich der Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge verschrieben haben, machen müssen: »Viele Flüchtlinge möchten gar keine Berufsausbildung ­machen, sie wollen schnell arbeiten und Geld verdienen, um ihre Familien zu unterstützen.«

Der entscheidende Punkt, den man den Stuttgarter Erfahrungen entnehmen kann, versteckt sich hingegen hinter diesem Passus:

„Ohne Integrationskurs nimmt uns die Leute niemand ab“, so der Jobcenter-Leiter Jürgen Peeß. Auch das Sprachniveau, das Flüchtlinge aus diesen Kursen mitbrächten, reiche in der Regel noch nicht und müsse durch eine berufsbezogene Sprachförderung ergänzt werden.

Genau hier liegt ein, wenn nicht der zentrale Flaschenhals, durch den alle müssen. Und genau hier hätte man längst viel mehr machen müssen, denn was da nicht durchkommt, wird an anderer Stelle bitter aufschlagen.

Abbildung: Bundesagentur für Arbeit, Statistik/Arbeitsmarktberichterstattung: Arbeitsmarkt kompakt: Fluchtmigration September 2016, Nürnberg 2016

Die Flüchtlinge ruinieren die Gesetzliche Krankenversicherung? Schon ist man mittendrin in der Debatte über Systemprobleme. Da darf die Private Krankenversicherung nicht fehlen, die kräftig zulangt. Bei denen soll Draghi und die EZB schuld sein

In der aufgeheizten Atmosphäre in unserem Land, die nicht wenige dazu antreibt, ständig und überall „die Flüchtlinge“ als Ursache für gesellschaftliche Verteilungsprobleme zu identifizieren und eine dadurch bedingte Schlechterstellung „unserer“ Leute zu belegen, als hätte es die dahinter stehenden Prozesse nicht schon vor der großen Zuwanderung im vergangenen Jahr gegeben, passt dieser Vorstoß aus den Reihen der AfD hervorragend: Frauke Petry hatte auf Facebook ihrer Anhängerschaft und den Suchern einfacher Zusammenhänge mitgeteilt: „Durch die sogenannte Flüchtlingskrise droht die Finanzierung unseres Gesundheitswesens zu kollabieren. Die AOK fordert deshalb jetzt Steuerzuschüsse für die gesundheitliche Versorgung von Migranten, ansonsten drohten erhebliche Beitragsanhebungen.“ Und sie konnte sich scheinbar auf einen hochrangigen Vertreter der Krankenkassen selbst stützen: Der Vorsitzende des Verbands Rheinland/Hamburg, Günter Wältermann, hatte Zuschüsse im Hinblick auf eine Unterfinanzierung der Krankenkassen gefordert. „Für einen Arbeitslosengeld-II-Empfänger zahlt die Bundesagentur aktuell 90 Euro im Monat an die Krankenkassen. Die durchschnittlichen monatlichen Kosten liegen aber bei 138 Euro“, sagte Wältermann der „Rheinischen Post“, die ihre Meldung dazu unter diese Überschrift gestellt hatte: AOK zahlt bei Flüchtlingen drauf. Und da steht gleich am Anfang unmissverständlich: »Wegen der steigenden Kosten für die Versorgung von Flüchtlingen im Gesundheitssystem schlägt die AOK Rheinland/Hamburg Alarm.«

Wenn man weiß, welche Bedeutung gerade das Thema Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung bei vielen Menschen hat, dann kann man verstehen, dass es sich hier um eine wirklich perfide Konstruktion eines brisanten Zusammenhangs handelt, der bei den Betroffenen Abwehrhaltungen gegen die zusätzlichen Kostgänger auslösen soll, was sicher auch bei nicht wenigen funktioniert.

Aber ist dem so? Auch die Krankenkassen erkannten schnell die Brisanz der Indienstnahme der Kassen-Finanzprobleme für die Argumentation der AfD. Ein Ergebnis waren dann so ein Artikel: AOK klärt nach Petry-Behauptung über Kosten auf. Darin wird der Vorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Kitsch, mit diesen Worten zitiert: „Auch im Gesundheitswesen schürt die AfD-Vorsitzende mit einem durchsichtigen Instrumentalisierungsmanöver die Ängste der Bevölkerung und suggeriert eine unfaire medizinische Versorgungssituation. Sie sollte sich lieber schleunigst mit der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung vertraut machen, bevor sie weiter Schaden anrichtet.“

Der AOK-Bundesverbandsvorsitzende »erklärte, es gebe bisher keine Anzeichen, dass Geflüchtete höhere Kosten verursachten als Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen. Die Unterfinanzierung der Krankenversicherungsbeiträge von Hartz-IV-Empfängern entstehe nicht durch Flüchtlinge, sondern weil die Beiträge der Bundesagentur für Arbeit nicht ausreichten, betonte Litsch. Der Bund zahlt den gesetzlichen Krankenkassen aus Steuergeldern Beiträge für die medizinische Versorgung von Hartz-IV-Empfängern. Darunter fallen auch arbeitslose Flüchtlinge, die nach 15 Monaten in die gesetzliche Krankenversicherung wechseln können und ebenfalls Leistungen nach den Hartz-IV-Regelungen (Arbeitslosengeld II) bekommen.«

Und auch der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Frank Ulrich Montgomery, wird in den Zeugenstand gerufen und mit dem Hinweis zitiert, »dass die Pauschale für die Krankenversicherung von Hartz-IV-Empfängern von derzeit rund 90 Euro nicht ausreiche. Es seien eher an die 140 Euro nötig. Dies gehe auch nicht zulasten der Krankenkassen und damit der Beitragszahler, sondern sei eine durch Steuern zu finanzierende staatliche Aufgabe.«

Nun wird sich der eine oder andere erinnern: Das hatten wir auch hier doch schon mal behandelt. Genau, beispielsweise bereits am 21. Februar 2016 mit dem Beitrag Teure Flüchtlinge und/oder nicht-kostendeckende Hartz IV-Empfänger? Untiefen der Krankenkassen-Finanzierung und die Frage nach der (Nicht-mehr-)Parität sowie nachfolgend ausführlich am 19. Juni 2016 in dem Beitrag Eine Finanzspritze für die Krankenkassen aus der gut gefüllten Schatulle des Gesundheitsfonds (im Wahljahr 2017), die Frage nach dem Geschmäckle und die wirklichen Systemprobleme.
Diesem Beitrag kann man entnehmen, dass tatsächlich eine Teil-Wahrheit in der AfD-Aussage zu erkennen ist, die man nicht wegdiskutieren kann: Natürlich steigen die Finanzprobleme der Krankenkassen, wenn deutlich mehr Menschen versorgt werden müssen, für die bzw. von denen es aber aus Sicht der Krankenkassen zu wenig Geld gibt. Das ist übrigens insgesamt betrachtet innerhalb der Krankenversicherung ein ganz normaler Zustand und nennt sich Umverteilung zwischen den unterschiedlichen Risikogruppen in einer Krankenkasse. Die eigentliche Logik ist simpel: Die Krankenkasse dient ja gerade dem Zweck, Menschen zu versorgen, deren Beiträge in keinem Verhältnis stehen (können) zu den Ausgaben, die man für sie tätigen muss. Die andere Seite der Medaille ist natürlich zwingend: Es muss dann immer genug Versicherte geben, die mehr Beiträge zahlen als sie an Leistungen beanspruchen bzw. die über längere Zeiträume bei hohen Beitragszahlungen gar keine Leistungen in Anspruch nehmen.

Der vorliegende Fall mit „den Flüchtlingen“ ist insofern etwas komplizierter, als hier mehrere Verteilungsprobleme involviert sind, die in dem erwähnten Beitrag bereits angesprochen wurden: Die Kassen bekommen für diese Personen eine Pauschale von rund 90 Euro pro Monat, die sie auch für andere Menschen bekommen, die nichts mit Flüchtlingen zu tun haben, weil das ohne Unterschied alle Hartz IV-Empfänger betrifft. An dieser Stelle könnte man scheinbar relativ einfach lösungsorientiert argumentieren und fordern, was die Kassen auch machen, dass die vom Bund aus Steuermitteln zu finanzierende Pauschale entsprechend der Kosten angehoben wird, in dem bereits zitierten Artikel AOK klärt nach Petry-Behauptung über Kosten auf wird das ja auch vorgeschlagen (wobei die Aussage des Bundesärztekammerpräsidenten und anderer, dass 140 Euro statt 90 Euro notwendig seien, um „kostendeckend“ arbeiten zu können, sicherer daherkommt, als sie derzeit ist, denn hinsichtlich der Ausgaben für geflüchtete Menschen bewegen wir uns auf unsicherem Terrain, in dem Blog-Beitrag vom 19. Juni 2016 wurden beispielsweise noch andere Größenordnung zitiert: »Es gibt … erste Erfahrungswerte aus Hamburg, die von Kosten in Höhe von 180 bis 200 Euro im Monat ausgehen. Auch in Nordrhein-Westfalen wird dieser Wert für realistisch gehalten. Dabei wird davon ausgegangen, dass viele Flüchtlinge traumatisiert sind und eine umfangreiche medizinische Behandlung benötigen.«

  • Es sei an dieser Stelle nur grundsätzlich angemerkt, dass diese Argumentationslinie mit Blick auf das System Gesetzliche Krankenversicherung nicht unproblematisch ist, wird hier doch hier eine Kostendeckungsrechnung aufgemacht für eine ganz bestimmte Personengruppe, die den allgemeinen Umverteilungsmechanismus im System tangiert. Warum dann nur für die Flüchtlinge? Was ist mit den anderen Personengruppen, beispielsweise die Niedriglöhner (mit entsprechend niedrigen Beiträgen für die Kassen), die aber möglicherweise hohe Ausgaben mit sich tragen? Und was ist mit den Menschen, die Leistungen bekommen, aber gar keine Beiträge zahlen, weil sie beispielsweise beitragsfrei über die Familienmitversicherung abgesichert sind? Aus einer grundsätzlichen Perspektive (nicht mit Blick auf die tatsächliche Finanzierungsmechanik) sind die vielgestaltigen Umverteilungseffekte gerade ein Wesensmerkmal der GKV.

Zurück zum Aufreger-Thema Pauschale für Flüchtlinge, wenn sie denn im Hartz IV-System sind, mithin, das sollte deutlich geworden sein, ein Thema, das alle Grundsicherungsempfänger betrifft. Die Diskrepanz zwischen der Pauschale und den (angeblich) höheren tatsächlichen Ausgaben wird – wie die kurzen Hinweise zur Konstruktionslogik einer Gesetzlichen Krankenversicherung gezeigt haben sollten – nicht deshalb zu einem Verteilungsproblem, weil es diesen Unterschied gibt, sondern weil die damit verbundenen Finanzierungsprobleme der Kassen nun einen anderen und in unserem Kontext den eigentlich relevanten problematischen Verteilungsmechanismus auslösen, der aus einer politischen Weichenstellung zurückliegender Jahre resultiert: Wenn die Aufgabenanstiege der gesetzlichen Krankenkassen zu höheren Beitragsbedarfen führen, dann greift nun der Mechanismus der Zusatzbeiträge, die aber – aufgrund der Festschreibung des Arbeitgeberbeitrags – allein von den Versicherten zu stemmen sind, also außerhalb der paritätischen Finanzierung.

Die Versicherten müssen also die tatsächlich durch die zusätzlich „unterfinanzierten“ Menschen im Kassensystem steigenden Einnahmebedarfe alleine aufkommen. Das müssen sie aber – und der Hinweis ist nicht trivial – auch für alle anderen „unterfinanzierten“ Menschen im Kassensystem. Insofern kann und muss man aus verteilungspolitischer Sicht das eigentliche Problem adressieren, wenn man denn darin ein Problem sieht: die Aufgabe der Parität hinsichtlich der Finanzierung in der GKV. Und wenn den Versicherten bewusst wird, dass sie alleine für zukünftige Kostenanstiege aufzukommen haben, dann kann man diesen Tatbestand hervorragend instrumentalisieren, um die Leute politisch „nach unten“ zu orientieren, also tatsächlich auch wirklich zusätzliche Leistungsempfänger im System als Problem zu brandmarken, statt dass die Versicherten erkennen, dass sie Opfer einer allgemeinen, das bedeutet unabhängig von „den Flüchtlingen“ vorgenommenen Umverteilung zu ihren Ungunsten geworden sind.

In diesem Zusammenhang wäre es notwendig, dass die Betroffenen erkennen, dass sie in mehrfacher Hinsicht in strukturelle Finanzierungsprobleme im System eingebunden sind. Denn nicht nur die einseitige Verlagerung der Finanzierung der zukünftigen Kostenanstiege auf die Schultern der Versicherten ist problematisch, zumindest sehr diskussionsbedürftig. Man muss das im Zusammenhang sehen mit der Tatsache, dass insgesamt die Aufteilung der Ausgaben im Gesundheitssystem zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern eine erhebliche Unwucht hat. Vgl. hierzu den differenzierten Beitrag von Florian Diekmann: Arbeitgeber oder Arbeitnehmer – wer zahlt mehr für Gesundheit?  Arbeitnehmer und Arbeitgeber behaupten beide, die Hauptlast der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen. Wer hat recht? So seine Fragestellung. Am Ende kommt er nach Abwägung aller vorliegenden Daten und Zusammenhänge zu diesem Befund:

»Nach unserer Bewertung ergibt sich für das Jahr 2014 tatsächlich eine höhere Belastung der Arbeitnehmer – und das bereits vor den massiven Beitragssteigerungen der kommenden Jahre. Zwar sind die DGB-Zahlen wegen Unschärfen in der amtlichen Statistik nur scheinbar exakt und daher teilweise etwas zu hoch, aber die Größenordnung von rund zehn Milliarden Euro Mehrbelastung erscheint plausibel.«

Aber selbst die nunmehr nicht nur von den Gewerkschaften, sondern auch teilweise von denen, die den Abkoppelungsmechanismus mit eingeführt haben wie der SPD, geforderte Rückkehr zur „paritätischen Finanzierung“ könnte zwar zu einer gleichmäßigeren Verteilung der Gesundheitskosten zwischen Arbeitgebern und privaten Haushalten führen. Aber möglicherweise ist das eigentliche Systemproblem ein ganz anderes – die grundsätzliche Kopplung der Beiträge an die Arbeitseinkommen (und die auch noch begrenzt durch eine Beitragsbemessungsgrenze, was faktisch „nur“ zu einer Belastung der unteren und mittleren Einkommen führt. Wenn man diese Perspektive einnimmt, dann könnte man durchaus formulieren, dass es das Ziel sein sollte, die Gesamtbelastung der Arbeitseinkommen nicht noch weiter steigen zu lassen – also die Summe aus Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen. Denn das überlastet heute schon und tendenziell immer stärker die sozialversicherungspflichtigen Arbeitseinkommen. Auch an die Vorschläge, die aus einer solchen Perspektive abgeleitet werden hinsichtlich einer anderen Finanzierung – also mehr Steuermittel in das GKV-System und/oder Kapitalerträge und Mieteinnahmen beitragspflichtig zu machen, um nur zwei Aspekte zu nennen, werden sich viele erinnern unter dem Stichwort „Bürgerversicherung“ & Co.

Wenn wir schon bei den Systemfragen sind, dann darf natürlich der Hinweis auf die besondere Problematik in Deutschland, dass wir es mit einer Dualität des Krankenversicherungssystems zu tun haben, nicht fehlen. Also die Trennung zwischen GKV und PKV. Und die die PKV funktioniert zwar auch als Versicherung mit den ihr typischen Umverteilungen, aber die Finanzierung basiert auf einer ganz anderen Systematik als das, was wir im GKV-System haben.

Und hier ist offensichtlich mächtig Rauch in der Hütte: Drastische Beitragserhöhungen für privat Versicherte, wird uns berichtet:

»Die Beiträge in der Privaten Krankenversicherung (PKV) werden demnächst zum Teil drastisch erhöht … mit dem Beginn des neuen Jahres (werden) die Sätze im Schnitt zwischen elf und zwölf Prozent steigen. Betroffen davon sind rund zwei Drittel der fast neun Millionen privat Versicherten.«

Das ist ja nun mal ein ordentlicher Schluck aus der Pulle. Nun können die Versicherer hier nicht wirklich die Flüchtlinge zu Schuldigen an der Misere erklären, aber deren Funktion muss nun ein anderer übernehmen, der gerade in Deutschland mittlerweile ein richtig schlechtes Image hat: Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Aber was hat der nun mit diesem kräftigen Beitragsaufschlag in der deutschen PKV zu tun? Dazu die offizielle Position seitens der PKV:

»Volker Leienbach, geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Verbandes der Privaten Krankenversicherung bestätigte auf Anfrage, „dass es zu untypischen Beitragserhöhungen“ kommen werde … Leienbach begründete die Beitragssteigerungen mit der Situation der Niedrigzins-Phase auf den Finanzmärkten. „Was am Kapitalmarkt nicht zu erwirtschaften ist, muss durch eine Erhöhung der Vorsorge ausgeglichen werden“ … Dies sei „gesetzlich vorgeschrieben“. Davon seien nun Privatversicherte „jetzt also ebenso betroffen wie andere Sparer“ auch … Tatsächlich finden viele private Versicherungen für gut verzinste Anlagen, die nun auslaufen, keinen ähnlich attraktiven Ersatz.«

Man erkennt an dieser Argumentation, dass die Finanzierung bzw. genauer: ein Teil der Finanzierung innerhalb des PKV-Systems einer ganz anderen Logik folgt als die der Umlagefinanzierung im GKV-System: Eine Teil-Kapitaldeckung spielt hier eine große Rolle und damit handeln sich verständlicherweise die PKV-Unternehmen vergleichbare Probleme ein wie wir sie im Bereich der kapitalgedeckten Altersvorsorge kennen und diskutieren: In einer Zeit der Niedrigst-, Null- und sogar Negativzinsen sowie einer expansiven Geldpolitik im Zusammenspiel mit dem, was man „Anlagenotstand“ nennt, können die Verwerfungen auf den Finanzmärkten nicht an kapitalgedeckten Systemen vorbeigehen.

Aber ist wirklich der Herr Draghi von der EZB an den kräftigen Beitragserhöhungen in der deutschen PKV auch noch schuld?
Dass die Geldpolitik der EZB einen Belastungsfaktor darstellt, darauf wurde hingewiesen und das ist gewissermaßen der Preis, denn man für die angeblich so überlegenen Kapitaldeckung zahlen muss.

Aber die Systemprobleme der PKV reichen deutlich weiter, denn die PKV

  • hat auch das Problem, dass ihr schlichtweg eine ausreichende Zahl an Neuzugängen vor allem in der Vollversicherung fehlt, die aber im Geschäftsmodell der PKV zwingend erforderlich sind;
  • dass die PKV-Unternehmen anders als die Krankenkassen im GKV-System kaum über relevanten (Ausgaben-)Steuerungsinstrumente verfügen und des dadurch schwer haben, die Kostenanstiege über diesen Weg zu reduzieren;
  • dass die Leistungserbringer die PKV-Patienten nicht selten als betriebswirtschaftlich motivierten Steinbruch verwenden und im Ergebnis nicht selten eine Überversorgung generieren, um mit den Einnahmen aus der PKV auch eine (angebliche bzw. tatsächliche) „Unterfinanzierung“ aus dem GKV-Bereich zu kompensieren. 

Die PKV insgesamt steht also unter mehrfachen Druck und auch die politische Debatte über die (Nicht-)Zukunft der versäulten Krankenversicherungslandschaft ist ja nicht verstummt, sondern läuft parallel weiter. Vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Eine „integrierte Krankenversicherung“ als Zwischenschritt auf dem Weg zur Bürgerversicherung? Jenseits der alten Welt von privat oder gesetzlich. Am Beispiel der Selbständigen gerechnet vom 12. Juli 2016. Auch in dem Artikel Drastische Beitragserhöhungen für privat Versicherte gibt es entsprechende Hinweise: »Die Ankündigung der PKV hat in der Bundespolitik die Debatte um Sinn und Unsinn des Nebeneinanders von PKV und GKV neu befeuert. Die SPD dringt auf ein Ende des Dualismus und wirbt für ihr Modell einer einheitlichen Bürgerversicherung … Hilde Mattheis, die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagfraktion, sprach von einem „Schlag für viele Versicherte, die nun den Preis für ein Geschäftsmodell zahlen müssen, das nicht mehr funktioniert“.«

In dem Artikel aus der Stuttgarter Zeitung findet man aber auch einen anderen Hinweis aus den Reihen der Union, konkret vom Gesundheitsexperte Michael Heinrich, der so zitiert wird:

»Kurzfristig will er den Privaten jährliche Beitragsanpassungen ermöglichen, um drastische Sprünge zu vermeiden. Langfristig plädiert er „für eine Zusammenführung der Gebührenordnungen für die ärztliche Vergütung von privaten und gesetzlichen Kassen“.«

Und der Hintergrund, der den kurzfristigen Vorschlag auslöst, wurde sogleich aufgegriffen von den Verteidigern des PKV-Systems und man mag es nicht glauben angesichts der vielschichtigen Probleme des PKV-Systems – es gibt Journalisten, die sich tatsächlich dazu versteigen, dass die SPD an der schlechten Presse für die PKV schuld sei. Diese Volte schafft Andreas Mihm von der FAZ in seinem Kommentar: Überfall auf Versicherte. Er argumentiert so: Der „Fluch für Kunden und Anbieter“ sei vor allem aus der Regulierung seitens des Staates entstanden.

»Das Verbot der gleitenden Tarifanpassung gehört dazu. Verbraucherschützer monieren diese Behandlung Privatversicherter, denen erst nach Erreichen von Kostenschwellen, dann aber überfallartig, eine gepfefferte Tariferhöhung präsentiert wird. So ein Überfall steht jetzt an.«

Ganz offensichtlich geht es dem Kommentator um diesen Zusammenhang: Der gewaltige Sprung bei den Beiträgen, der Anfang 2017 ansteht, erklärt sich auch aus der Tatsache, dass die PKV-Unternehmen erst dann ihre Beiträge (nach oben) anpassen dürfen, wenn besondere Sprünge in den Leistungsausgaben nachweisbar sind, während die Gesetzliche Krankenversicherung ihre Beiträge jährlich anpassen kann.

Wenn man also auch in der PKV die Möglichkeit hätte, so Mihm, die Beiträge jährlich nach oben zu heben, dann wäre das nicht so schmerzhaft ins Bewusstsein gedrungen, was da an Mehrausgaben auf die Versicherten zukommt – was natürlich ein irgendwie putziges Argument ist, denn nur dadurch, dass ich den Beitragsanstieg in der PKV gleichsam in kleine Portionen stückele, ändere ich ja nichts an der Belastung an sich. Ganz offensichtlich geht es hier wieder einmal um die Psychologie der großen Zahl.

Aber der Höhepunkt des Kommentars kommt dann noch – die Suche nach dem Schuldigen. Und der ist schnell gefunden, denn man hätte das Verbot der gleitenden Tarifanpassung aufheben müssen, dann stünde die PKV jetzt nicht in diesem Medien-Schlamassel, so Mihm:

»Doch dazu hätte das Gesetz geändert werden müssen. Das hat die SPD verhindert. Ihre Logik ist eiskalt: Wenn sie die Privatkassen schon nicht abschaffen kann, dann soll die Branche zumindest nicht gut dastehen – selbst wenn diese selbst dafür gar nichts kann.«

Ach, man kann sich die Welt auch einfacher basteln, also sie ist.

Abbildung 1: Wechsel zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung 1991- 2017, sozialpolitik-aktuell.de 
Abbildung 2: Vollversicherte in der privaten Krankenversicherung 1991- 2015, sozialpolitik-aktuell.de

Zwischen medialen und realen Verteilungskämpfen ganz unten, niedrigschwelliger Armutslinderung, einem überstrapazierten Ehrenamt und dann noch die Grundatz-Kritiker der „Vertafelung“

Um es gleich an den Anfang des Beitrags zu stellen: Beim Thema Tafeln kann man es nicht richtig machen. Für die einen gehören die Tafeln abgeschafft, für manche darunter sind sie zum nicht nur symbolischen, sondern handfesten Ort der Kapitulation des Sozialstaats vor der staatlichen Aufgabe der Gewährleistung der Existenzsicherung armer Menschen degeneriert, an die man die Menschen verweisen kann, denen man nicht genug Mittel zur Verfügung stellt, um sich selbst und ohne Rückgriff auf Almosen zu helfen. Die Kritiker arbeiten sich ab an der angeblichen oder tatsächlichen Funktionalität der Tafeln im Sinne einer neuen „Abspeisung“ von Menschen, denen man zu geringe Sozialleistungen gewährt und die man dann auf die fast flächendeckende Versorgungsinfrastruktur der Tafeln verweisen kann, bei denen man sich ja das besorgen kann, was nicht über die staatlichen Leistungen abgedeckt werden kann.

Auf der anderen Seite zeigt die Expansionsgeschichte der Tafeln, dass es offensichtlich eine reale Nachfrage nach den dort verteilten Lebensmitteln gibt – und dieser Nachfrage ist die theoretische Debatte ziemlich egal bzw. sie kommt für die Betroffenen kopflastig daher. Hinter dieser Nachfrage stehen Menschen, die mit den Lebensmitteln der Tafeln über den Monat kommen, denen der Genuss von Obst und Gemüse ermöglicht wird. Und wie ein Luftballon aufgeblasen werden kann, so spiegelt auch die Entwicklung der Tafeln nicht nur die faktische Ausweitung nicht-existenzsichernder Lebenslagen derjenigen, die schon immer hier waren, sondern die enorme Zuwanderung der letzten Monate ist natürlich nicht spurlos an diesem Bestandteil einer „Überlebensökonomie“ vorbeigegangen. Die Zahl der Bedürftigen, die Tafelleistungen in Anspruch nehmen möchten, also die Nachfrage, ist nicht nur, aber auch durch die Flüchtlinge angestiegen.

Das geht nicht ohne Konflikte ab in einem System, das auf Freiwilligkeit und Verteilung dessen, was man von Dritten bekommt, basiert. Das wurde bereits im vergangenen Jahr in diesem Blog-Beitrag hier thematisiert: Die Tafeln und die Flüchtlinge. Zwischen „erzieherischer Nicht-Hilfe“ im bayerischen Dachau und der anderen Welt der Tafel-Bewegung vom 14.10.2015.

Das Bild von einem (real durchaus vorhandenen und angesichts der Mengenrestriktionen auf der Angebotsseite auch zwangsläufigen) Verteilungskampf derer da unten untereinander wurde von einem Teil der Medien gerne aufgegriffen, hat das doch neben allen Realitäten in den Ausgabestellen einen „Gänsehautfaktor“ für viele Konsumenten solcher Berichte.
So beginnt beispielsweise Rolf-Herbert Peters seinen Artikel Das untere Ende der Gesellschaft mit dieser Beschreibung: »Manfred Baasner verteilt Essen, das sonst im Müll landen würde. Immer mehr Alte, Arme und Flüchtlinge kommen zu ihm. Der Verteilungskampf am unteren Ende der Gesellschaft eskaliert. Ein Besuch bei Deutschlands größter Tafel.«

Es ist leider im Kontext der aufgeheizten Stimmung rund um das Thema Flüchtlinge kaum verwunderlich, dass häufig in höchst aggressiver Art und Weise gerade in den sozialen Netzwerken Stimmung gemacht wird gegen Flüchtlinge, in dem beispielsweise auf die immer wieder berichteten Konflikte in den Tafeln Bezug genommen und mit dem „Argument“ gearbeitet wird, dass es „unsere“ Bedürftigen schlechter haben durch die zusätzlichen Nachfrager in den Tafeln.

Und solche Artikel scheinen das Problem zu bestätigen: Mehr Spenden, aber auch mehr Bedürftige, so Johannes Leithäuser von der FAZ: »Die Tafeln in Deutschland versorgen deutlich mehr Menschen als noch vor eineinhalb Jahren. Unter ihnen sind auch viele Flüchtlinge.« Fabian Lambeck berichtet im Neuen Deutschland unter der Überschrift Armut wächst – Tafeln droht die Überlastung.

Diese Berichte haben ihr Quelle beim Bundesverband Deutsche Tafel. Der hat sich unter der Überschrift Tafeln meistern Flüchtlingskrise durch niederschwellige Soforthilfe zu den Ergebnissen der Tafel-Umfrage 2016 zu Wort gemeldet – und ein Anliegen ist der Versuch, sich von der Instrumentalisierung und Vereinnahmung zu distanzieren.
Fast 1,8 Millionen Menschen besuchen regelmäßig einen der bundesweit 2.100 Tafelläden und Ausgabestellen der 900 Tafeln in Deutschland. Im Vergleich zu 2014 sei die Zahl der Tafelkunden um 18 Prozent gestiegen.  Die Warenspenden sind im gleichen Zeitraum um etwa 10 Prozent gestiegen. Besonders deutlich wird die Expansion, wenn man einen Blick wirft auf das Jahr 2005: Damals zählten die Tafeln noch „nur“ 500.000 regelmäßige Besucher.

Aktuell unterstützen die über 900 Tafeln bundesweit zusätzlich etwa 280.000 Flüchtlinge, so der Bundesverband.

„Trotz angestiegener Spendenmenge bekommt jeder Einzelne im Durchschnitt etwas weniger Lebensmittel“, so der Bundesvorsitzende der Tafeln, Jochen Brühl. Angesichts der höheren Steigerungszahlen bei den Bedürftigen im Vergleich zu den Lebensmittelspenden ist das auch kein Wunder. Der Bundesvorsitzende versucht dann offensichtlich, die „Konkurrenz-Debatte“ zwischen „Einheimischen“ und Zugewanderten, die sich in den vergangenen Monaten teilweise verselbständigt hat, wieder einzufangen und zu relativieren: „Dennoch hat sich die vormals zum Teil angespannte Situation bei den Tafeln weiter entspannt“, wird er zitiert.

Fabian Lambeck erläutert uns, was man sich unter der „vormals zum Teil angespannten Situation“ praktisch vorstellen muss:

»Wegen kultureller Unterschiede und Sprachproblemen habe es manchmal Anlaufschwierigkeiten gegeben, so Brühl. Syrische Männer etwa hätten Probleme damit gehabt, Hilfe von Frauen anzunehmen. Zudem seien bestimmte Lebensmittel für einige Gruppen ungeeignet. So verbieten die islamischen Speisevorschriften den Konsum von Schweinefleisch. Auch hätten viele Tafeln ihren neuen Kunden deutlich machen müssen, dass Tafeln keine staatlichen Einrichtungen seien und sie deshalb auch keinen Anspruch auf Lebensmittel hätten.«

Aber der Bundesvorsitzende der Tafeln geht noch weiter: „Tafeln sind zu einem zentralen Motor der Integration geworden“. Wie das?

»Viele Anfangsschwierigkeiten konnten mittlerweile behoben werden. Vor allem Sprach- und Verständigungsprobleme machten den Tafeln zu schaffen. Durch den Einsatz von Dolmetschern oder mehrsprachigem Informationsmaterial konnte Abhilfe geschaffen werden. Besonders die Einbindung von Flüchtlingen und Menschen mit Migrationshintergrund in die Tafel-Arbeit ist für beide Seiten ein Gewinn. Mittlerweile helfen in 40 Prozent der Tafeln Flüchtlinge als Ehrenamtliche oder als Bundesfreiwillige mit. Tendenz steigend.«

Und der Bundesverband positioniert sich so:

„Mit Sorge beobachten wir jedoch die Versuche von außen, einen Keil zwischen die Ärmsten in diesem Land zu treiben. Armut in Deutschland ist längst zum Dauerzustand geworden … Tafeln leisten niederschwellige Soforthilfe und fördern die Integration. Unsere Angebote dürfen seitens der Politik jedoch nicht länger überstrapaziert werden.“

Das ist ein wichtiger Hinweis an die Politik auf die Fragilität der Tafeln, deren Arbeit ja fase ausschließlich eine ehrenamtlich geleistete Arbeit ist und es handelt sich hier eben nicht um angestellte Menschen, sondern deren Engagement muss jeden Tag erneut abgerufen werden und abrufbar sein, sondern bricht das System auseinander. In diesem Kontext sollte man auch nicht unterschätzen, welche Folgewirkungen die neue Mischung der Menschen auf der Nachfrageseite für die ehrenamtlichen Helfer haben kann, wenn die kulturellen Konflikte stark zunehmen oder ein Teil der Helfer an der Legitimation dessen zweifelt, was sie tun. Insofern kann und muss man die Ausführungen des Bundesvorsitzenden der Tafeln so verstehen, dass er diese Flasche wieder verschließen und damit beruhigen möchte. Die Botschaft lautet: Die letzte Zeit war eine des doppelten Übergangs – viele neue „Kunden“ und zugleich ganz andere Hintergründe bei diesen, das muss natürlich am Anfang zu Überforderung führen, aber die Lage habe sich normalisiert.

Aber die Tafeln sind ja nicht nur deshalb unter Druck, weil die in diesen Institutionen nicht aufhebbare Rationierungsmechanik angesichts einer weiter ansteigenden und in den vergangenen Monaten sprunghaft gestiegenen Nachfrage eben immer auch ihre konflikthafte Schattenseite zeigen muss. Vielleicht noch größeres Ungemach droht den Tafeln von der Angebotsseite, denn dort laufen Veränderungen ab, die tendenziell dazu führen werden, dass die zur Verfügung gestellten Lebensmittel von der Menge (und der Zusammensetzung) abnehmen werden. Auf die hier ablaufenden Prozesse wurde bereits am 19. April 2015 in diesem Blog-Beitrag hingewiesen: Wird die „Vertafelung“ unserer Gesellschaft durch eine unaufhaltsame Effizienzsteigerung auf Seiten der Lieferanten erledigt?

Wie dem auch sei, eines ist sicher: Die Tafeln können – wenn überhaupt – nur ein zusätzliches Angebot sein für Menschen, die in äußerst knappen Verhältnissen leben müssen. Sie können die – von vielen als per se zu niedrig kritisierte – sozialstaatliche Existenzsicherung auf gar keinen Fall auch noch substituieren. Das sollen sie aber, wenn beispielsweise Jobcenter ihr „Kunden“ explizit auf die Inanspruchnahme der Tafel-Infrastruktur verweisen, damit könne man ja eine akute Notlage „überbrücken“. Das ist eine Instrumentalisierung einer sicher gut gemeinten Idee und einer Institution, die zwar in der Vergangenheit Wachstumsraten hatte, die sich mit denen von Apple messen lassen, die aber, dass sollte man nie vergessen, ein auf Ehrenamt aufbauendes und damit notwendigerweise immer auch fragiles Unterfangen darstellt. Der Bundesverband versucht auch immer wieder, in seinen Stellungnahmen auf diese Punkte aufmerksam zu machen und sich der „freundlichen Umklammerung“ seitens der Politik und des Systems zu entziehen. Eine sicher schwierige und nicht wirklich lösbare Aufgabe. Das ist es sicher einfacher, entweder gar nicht hinzuschauen und zu hoffen, dass die da unten schon weiter funktionieren werden bei der Armenspeisung oder aber die gegenteilige Position einzunehmen und wohlfeil für eine Abschaffung des „Tafel-Systems“ zu plädieren und für die Betroffenen dann höhere Leistungen in Aussicht zu stellen, mit denen sie keine Tafeln mehr brauchen.