„Die EU ist keine Sozialunion“, sagt die Bundeskanzlerin. Sozialleistungen an EU-Ausländer seien „eine große soziale Errungenschaft, die man mehr würdigen sollte“, sagt ein Sozialrechtler

Immer wieder wirft man der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor, sie würde eigentlich nie richtig Position zu umstrittenen Fragen beziehen. Nunmehr – wenige Tage vor den Europawahlen – scheint sie von dieser Linie abzuweichen: »Angela Merkel macht Sozialmissbrauch durch Ausländer zum Wahlkampfthema. In einem Interview lehnt die Bundeskanzlerin eine „Sozialunion“ in Europa ab. EU-Bürger, die in Deutschland Arbeit suchen, sollten kein Hartz IV erhalten«, kann man dem Artikel „Die EU ist keine Sozialunion“ entnehmen. Und in den Berichten über die Aussagen der Kanzlerin hat sich die Verwendung des Begriffs „Sozialmissbrauch“ ohne jegliche Anführungszeichen verselbständigt, so beginnt beispielsweise der Artikel Merkel will „keine Sozialunion“ in der FAZ mit der Feststellung: »Die Bundeskanzlerin verschärft in der Debatte über Sozialmissbrauch durch EU-Ausländer den Ton«. Aber es gibt natürlich auch eine andere Seite der Debatte: Pauschale Ressentiments gegenüber EU-Ausländern seien oft falsch, sagte Eberhard Eichenhofer, Professor für Sozialrecht an der Universität Jena, im Deutschlandfunk. „Europa hat nämlich ein soziales Gesicht, was selten gesehen wird.“ Er spricht sogar von einer großer sozialer Errungenschaft, die man mehr würdigen sollte, als es zuweilen geschieht (Interview mit Eberhard Eichenhofer im Deutschlandfunk). Und Gudula Geuther kommentiert: Der Ton bei Zuwanderungsfragen stimmt nicht.

Man wolle „Hartz IV nicht für EU-Bürger zahlen, die sich allein zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten“, so die Bundeskanzlerin in einem Interview mit der Passauer Neuen Presse. Hintergrund ist ein derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) laufendes Verfahren (Az. C-333/13). Nach einer Stellungnahme des Generalanwalts beim EuGH, Melchior Wathelet, darf Deutschland Bürgern aus anderen EU-Staaten Hartz-IV-Leistungen verweigern, wenn sie ausschließlich zum Bezug von Sozialhilfe einreisen. Das eigentliche Urteil des Gerichtshofs wird vermutlich erst in einigen Monaten fallen. Zum Hintergrund des derzeitigen Verfahrens vor dem EuGH:

»Im konkreten Fall ging es um eine Rumänin aus Leipzig, die auf Zahlung von Hartz IV geklagt hatte. Das dortige Jobcenter hatte ihr die Leistungen zur Grundsicherung verweigert. Die Rumänin wohnt mit ihrem in Deutschland geborenen Sohn seit mehreren Jahren in Leipzig in der Wohnung ihrer Schwester. Die Frau hat keinen erlernten oder angelernten Beruf und war bislang weder in Deutschland noch in Rumänien erwerbstätig. Sie reiste den Angaben zufolge offenbar nicht nach Deutschland ein, um Arbeit zu suchen und bemüht sich auch nicht um eine Arbeitsstelle. Gutachter Wathelet vertrat die Auffassung, das EU-Recht erlaube EU-Bürgern und ihren Familienangehörigen, sich für drei Monate in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten – solange sie die Sozialhilfeleistungen dieses Mitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Wenn sie länger als drei Monate bleiben wollen, müssten sie über ausreichende Existenzmittel verfügen, sodass sie keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmestaats in Anspruch nehmen müssen.«

Nunmehr wird aber in der aktuellen Debatte eine ganze Menge durcheinander geworfen. Also ein etwas genauerer Blick auf die Frage, welche Sozialleistungen EU-Bürgern zustehen. Grundsätzlich gilt
»Staaten können EU-Zuwanderern in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts Sozialleistungen verwehren, das erlaubt Artikel 24 der Aufenthaltsrichtlinie ausdrücklich. Damit können sich die Länder gegen Einwanderung in ihre Sozialsysteme schützen.«

Aus der genannten Aufenthaltsrichtlinie kann man dem Artikel 24 entnehmen: Grundsätzlich »genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats. Das Recht auf Gleichbehandlung erstreckt sich auch auf Familienangehörige«. Dann aber kommt der entscheidende Passus: Der »Aufnahmemitgliedstaat (ist) jedoch nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen … während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums … einen Anspruch auf Sozialhilfe … zu gewähren.«

Das hat der Generalanwalt beim EuGH nun in seiner Stellungnahme bestätigt. Aber auch nicht mehr und zu dem mehr gehören viele Dinge, die jetzt unzutreffenderweise in einen Topf mit der beschriebenen Fallkonstellation geworfen werden. Grundsätzlich ist Deutschland verpflichtet, Zuwanderern aus anderen EU-Staaten Sozialleistungen zu zahlen und daran kann auch nichts geändert werden. Es gibt also zahlreiche Sozialleistungen, die völlig rechtmäßig an EU-Ausländer geleistet werden (müssen), ob einem das gefällt oder nicht. Allerdings vermischen sich jetzt die unterschiedlichen Ebenen, wenn man beispielsweise in dem FAZ-Artikel Merkel will „keine Sozialunion“ lesen muss:

»Im Vorjahr haben in Deutschland lebende Ausländer Hartz-IV-Leistungen in Höhe von rund 6,7 Milliarden Euro bezogen – etwa ein Fünftel des Gesamtvolumens. Auf die rund 900.000 Ausländer aus Nicht-EU-Staaten entfielen 5 Milliarden Euro, auf die 311.000 Zugewanderten aus den anderen EU-Ländern 1,7 Milliarden Euro. Das geht aus einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine parlamentarische Anfrage hervor. Darin sind Gesamtaufwendungen für Hartz-IV-Leistungen von 33,7 Milliarden Euro ausgewiesen. Bundesbürger erhielten davon 26,8 Milliarden Euro.«

Ja und was hat die Darstellung des Gesamtvolumens mit dem konkret anhängigen Fall zu tun? Der weniger eingeweihte Leser könnte auf die Idee kommen, hier wird das Volumen dessen beschrieben, was vorher im Text ohne Anführungszeichen als „Sozialmissbrauch“ bezeichnet wurde, dann wäre das angesichts von 6,7 Mrd. Euro eine schockierende Nachricht. Aber der größte Teil dessen, was hier ausgewiesen wird, steht gar nicht zu gesetzgeberischen Disposition, was natürlich auch der Bundeskanzlerin bekannt ist, wird sie doch einige Zeilen vorher so zitiert: „Wir wollen Hartz IV nicht für EU-Bürger zahlen, die sich allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten.“ Zum Kindergeld gebe es in der EU Freizügigkeitsregelungen und ein klares Urteil des Europäischen Gerichtshofes. Danach hätten in Deutschland arbeitende EU-Bürger grundsätzlich Anspruch darauf, wenn sie in Deutschland erwerbstätig sind (vgl. zur vor kurzem durch die Medien getriebenen Thema Kindergeld für EU-Ausländer zum einen das Interview mit mir im ZDF-Mittagsmagazin sowie ausführlicher den Blog-Beitrag Brandstifter unterwegs. Osteuropäische Saisonarbeiter in der Druckerpresse der Stimmungsmache kurz vor den Europawahlen. Und die Zahlen werden gebogen, bis sie passen).

Hier haben wir einen zentralen Punkt: Wenn beispielsweise ein Rumäne oder Bulgare nach Deutschland kommt und eine Erwerbstätigkeit aufnimmt, mit der er so wenig verdient, dass er aufstockend Anspruch hat auf Leistungen aus dem Grundsicherungssystem, dann bekommt er die auch und die sind in den Beträgen oben mit enthalten. Und wenn ein osteuropäischer Wanderarbeiter für einige Monate in Deutschland arbeitet, beispielsweise als Erntehelfer, dann bekommt er den Differenzbetrag zwischen dem Kindergeld in Deutschland und dem in seinem Heimatland für seine Kinder ausgezahlt, wenn er unbegrenzt steuerpflichtig ist.

Aber offensichtlich fürchtet sich die Bundesregierung vor einer Instrumentalisierung des Themas durch EU-kritische Parteien in den letzten Tagen vor der Europawahl und deshalb wirft Merkel sich jetzt auch so in die Bresche – übrigens, das sei hier der historischen Richtigkeit angemerkt, Angst vor der Instrumentalisierung einer Debatte, die von der in der Regierung vertretenen CSU ausgelöst worden ist, was nicht einer gewissen zynischen Ironie entbehrt: Man will Handlungsstärke demonstrieren, man will vermitteln, dass man sich darum kümmert. Und schon wird ein Gesetzesentwurf vorgelegt – in einem Tempo, das man sich für andere, weitaus drängendere Themen wünschen würde (vgl. hierzu nur als ein Beispiel meine Kritik an der offensichtlichen Arbeitsverweigerung der Bundesregierung beim Thema Schein-Werkverträge: Nicht nur für Banken gibt es einen „Reservefallschirm“. Auch für faktisch entleihende Unternehmen, die einen (Schein-)Werkvertrag nutzen).

Zum Gesetzentwurf können wir dem FAZ-Artikel entnehmen:

»Dem neuen Gesetzentwurf zufolge sollen unter anderem bei Sozialbetrug fünf Jahre lange Einreiseverboten und Beschränkungen beim Kindergeld drohen. Die Grundzüge des Vorhabens sind schon seit zwei Wochen bekannt – jetzt liegen auch die angepeilten Detailregelungen vor, die nach einem Kabinettsbeschluss allerdings noch durch Bundestag und Bundesrat müssen. Wer sich durch falsche oder unvollständige Angaben eine Aufenthaltserlaubnis erschleicht, muss demnach mit bis zu drei Jahren Gefängnis rechnen. Den unberechtigten Bezug von Kindergeld will man dadurch verhindern, dass der Antragsteller künftig Steueridentifikationsnummern für sich und das jeweilige Kind vorlegen muss. EU-Zuwanderer sollen zur Arbeitssuche zudem in der Regel nur noch ein auf sechs Monate befristetes Aufenthaltsrecht bekommen.«

Da wird schweres Geschütz aufgefahren – da wird Gefängnis bis zu drei Jahre in Aussicht gestellt, wenn man bei falschen Angaben erwischt wird. Auch hier wieder beschleicht einen das Gefühl, dass das immer irgendwie ungleichgewichtig daherkommt, wenn man beispielsweise an die Ausbeuter denkt, die auf deutschen Baustellen von der Beschäftigung scheinselbständiger osteuropäischer Bauarbeiter profitieren und gegenüber denen eine solche Keule nicht geschwungen wird (vgl. dazu den Beitrag „Miese Geschäfte mit Arbeits-Migranten“ des ZDF-Wirtschaftsmagazins WISO am 05.05.2014).

Ungerechtfertigte Griffe in die Sozialkassen – auch durch EU-Ausländer – zu verhindern, ist richtig. Aber in Zuwanderungsfragen mache der Ton die Musik, kommentiert Gudula Geuther, und der stimme im Kontext des Gesetzesentwurfes gegen Sozialleistungsmissbrauch derzeit nicht. Geuther stört sich an der Scheinheiligkeit des schnell zusammen geschusterten Gesetzentwurfs. Ein Beispiel:

»Da ist die Begrenzung des Aufenthalts für Arbeitssuchende. Bisher gibt es eine solche Grenze nach dem Buchstaben des Gesetzes nicht. Nach einem halben Jahr soll in Zukunft in der Regel nur bleiben dürfen, wer das aus anderen Gründen darf, zum Beispiel weil er sich selbst versorgen kann. Das klingt naheliegend. Tatsächlich ist es so naheliegend, dass es die Regelung längst gibt. Schon bisher ziehen Gerichte in der Regel bei sechs oder neun Monaten die Grenze. Man kann das trotzdem ins Gesetz schreiben. Aber wer das heute und ohne Erklärung tut, der tut so, als wäre Deutschland voll von vermeintlich arbeitsuchenden Nichtstuern aus den Nachbarstaaten. Und er tut so, als versuche Deutschland ständig erfolglos, EU-Ausländer aus den Grenzen zu weisen. Auch da ist das Gegenteil der Fall. Im Vollzug der Ausweisung ist man zurückhaltend.«

Treffer und versenkt. Eine Art Staatsversagen beim Vollzug bestehender rechtlicher Regelungen wird hier übertüncht mit symbolischer Gesetzgebung – allerdings mit falschen Symbolen. Und man möchte anfügen – wieder einmal spielt die Politik hier aus sehr kurzsichtigen wahlkampfstrategischen Überlegungen mit dem Feuer.
Deshalb zum Abschluss und als Kontrapunkt die ganz anders getaktete Positionierung des Sozialrechtlers Eberhard Eichenhofer im Interview mit dem Deutschlandfunk:

Es sei die Idee Europas, „dass Wanderarbeit nicht mit sozialrechtlichen Nachteilen verbunden sein soll“, sagte Eichenhofer. „Europa hat nämlich ein soziales Gesicht, was selten gesehen wird. Das erste Gesetz, was die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft erließ, betraf die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, dazu gehört die Regelung über die Kindergeldzahlungen. Das ist eine große soziale Errungenschaft, die man mehr würdigen sollte, als es zuweilen geschieht.“

Aber mit so einer Position kann man eben kein Krawall machen. Richtig bleibt sie trotzdem oder gerade deswegen.

Brandstifter unterwegs. Osteuropäische Saisonarbeiter in der Druckerpresse der Stimmungsmache kurz vor den Europawahlen. Und die Zahlen werden gebogen, bis sie passen

„Feuergefährlich ist viel, aber nicht alles, was feuert, ist Schicksal, Unabwendbares.“
Max Frisch, Biedermann und die Brandstifter

Dass die BILD-Zeitung mit harten Bandagen kämpft, ist hinlänglich bekannt. Aber die Salve, die man nun abgefeuert hat und das nicht zufällig kurz vor den anstehenden Europawahlen, verbreitet schon eine brandgefährliche Substanz: So kassieren EU-Ausländer bei uns ab! – und damit gleich eine (scheinbar) konkrete Summe hängen bleibt: „Jährlich 3 Milliarden Euro für Kindergeld und Hartz IV“.

Und dann nimmt man sich die polnischen Saisonarbeiter vor: Kindergeld-Stopp für Saisonarbeiter!, fordern Politiker, weiß die BILD-Zeitung. Und weiter: »Immer mehr EU-Ausländer bekommen Stütze aus Deutschland für ihre in der Heimat lebenden Kinder«. Und dann wird der Leser mit der nächsten Milliardenzahl konfrontiert: »Saisonarbeiter aus dem EU-Ausland bekommen bis zum Jahresende rund eine Milliarde Euro Kindergeld aus Deutschland für ihre in der Heimat lebenden Kinder.« Man beziehe sich dabei auf Angaben der FAZ, in deren Online-Ausgabe am 11.05.2014 ein Artikel von Sven Astheimer erschienen ist mit der ebenfalls knackig daherkommenden Überschrift Kindergeld für EU-Ausländer kostet Milliarden

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Was soll bzw. kann (nicht) durchgesetzt werden mit der „Durchsetzungsrichtlinie“? Die EU, das Lohngefälle und die Arbeitnehmerrechte

Bekanntlich dauern viele Prozesse und vor allem Entscheidungen auf der europäischen Ebene sehr lange. Zahlreiche Akteure müssen beteiligt werden, immer wieder ungeklärt sind teilweise die Zuständigkeiten bzw. die Mitbestimmungsmöglichkeiten der einzelnen Institutionen im europäischen Gefüge. Und allein schon die Koordination von so vielen Ländern, die Mitglied in der EU sind, stellt mehr als ein mathematisches Problem dar. Besonders schwierig wird es, wenn die Interessen der einzelnen Länder stark voneinander abweichen und es dann auch noch um Arbeitnehmerrechte gehen soll. Dann können sich die damit verbundenen Prozesse wie ein überaus hartnäckiges, an den Schuhsohlen klebendes Kaugummi erweisen. Deutlich machen kann man diesen Tatbestand am Beispiel der so genannten „Entsenderichtlinie“. Eigentlich eine gut gemeinte Sache. Es geht ganz korrekt um die „Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern“. Dazu muss man wissen, dass die Entsenderichtlinie ursprünglich geschaffen worden war, um ins Ausland „entsandte Arbeiter“ vor einer Verschlechterung zu schützen. Und nun verhandeln EU-Kommission, EU-Ministerrat und Europaparlament seit geraumer Zeit über eine so genannte „Durchsetzungsrichtlinie“, mit der – auch hier wieder steht am Anfang eine gute Absicht – auf die massive Kritik an Wirksamkeitsproblemen der Entsenderichtlinie reagiert werden soll.

Zur Bewertung dessen, was derzeit diskutiert wird, muss an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass es am Anfang darum ging, die besser geschützten bzw. abgesicherten Arbeitnehmer bei einer Tätigkeit im europäischen Ausland davor zu bewahren, schlechteren Bedingungen ausgesetzt zu werden. So konnten beispielsweise Franzosen damit im EU-Ausland arbeiten, ohne die großzügige französische Sozialversicherung zu verlieren. Bekanntlich ändern sich die Zeiten – und gerade die Franzosen müssen das seit einiger Zeit schmerzhaft erleben, wie das Stefan Brändle in seinem Artikel „Feldzug gegen Billigarbeit“ am Beispiel der Zahl der „Lowcost-Arbeiter“ aus anderen Ländern in Frankreich beschrieben hat. Baufirmen oder Großbauern in Frankreich haben im vergangenen Jahr etwa 350.000 Arbeiter vorwiegend aus Osteuropa geholt, wie Schätzungen der französischen Arbeitsverwaltung besagen. Osteuropäer werden angeheuert, kosten sie im Durchschnitt doch dreimal weniger – statt rund 20 bloß etwa sechs bis sieben Euro pro Stunde, Sozialabgaben eingerechnet. Wie es zu solchen Kostenunterschieden kommen kann? Brändle dazu:

»Ein Rumäne kostet seinen französischen Arbeitgeber deshalb deutlich weniger, weil die Sozialabgaben in seinem Land viel niedriger sind als in Frankreich. Er hat zwar laut Direktive Anspruch auf den im Land oder der Branche gültigen Mindestlohn. Den erhält er aber nur auf dem Papier: Meist werden davon diverse Ausgaben für Kost und Logis abgezogen – selbst wenn er auf dem Zeltplatz oder im Hühnerstall übernachtet.«

Europaweit soll eine Million Arbeiter aufgrund der EU-Richtlinie in Partnerstaaten „entsandt“ sein. Frankreich stellt damit ein Drittel dieser „Lowcost-Arbeiter“. In Deutschland sollen es laut Bundesregierung 180.000 sein – wahrscheinlich sind es aber viel mehr, denn die als Scheinselbständige hierher geschickten Wanderarbeiter werden nicht mitgezählt, da sie als „Selbständige“ offiziell nicht unter die Entsenderichtlinie fallen.

Eigentlich, so könnte man es formulieren, ist aber doch die Rettung bereits unterwegs, denn seit längerem wird im Angesicht der kritischen Befunde über die entsenden Richtlinie über eine Weiterentwicklung derselben diskutiert und die EU-Kommission hat bereits vor längerem einen entsprechenden Entwurf vorgelegt. Allerdings wurde bereits Anfang des vergangenen Jahres heftige Kritik an den Plänen der Kommission geübt: »Eine überarbeitete Fassung soll Abhilfe schaffen, doch das Gegenteil ist der Fall«, so Ruth Reichstein in ihrem Beitrag „Arbeitnehmerschutz ist zweitrangig„. Auf Druck der Gewerkschaften hatte die EU-Kommission 2012 eine neue Richtlinie vorgelegt – angeblich um die bestehende Gesetzgebung im Sinne der Arbeitnehmer zu verbessern. Und bereits damals wurden Gewerkschafter zitiert mit einer vernichtenden Kritik an der angeblich guten Absicht des Entwurfs, denn: „Die EU-Kommission schränkt die Kontrollmöglichkeiten der Behörden stark ein.“

Diese Diskussion wird aktuell wieder belebt, da derzeit die Verhandlungen über die so genannte „Durchsetzungsrichtlinie“ in den letzten Zügen liegen. Und an der Kritik hat sich nichts geändert, ganz im Gegenteil droht eine Verschlechterung der bestehenden Situation. Darauf weist Stefan Kaiser in seinem Beitrag „Wie Sklaven gehalten“ hin.  Deutlich machen kann man das an zwei Punkten, um die sich der aktuelle Streit dreht:

  • »So sehe der EU-Entwurf zwar eine „Generalunternehmerhaftung“ vor: Das federführende Unternehmen soll dafür verantwortlich sein, dass auch in beauftragten Betrieben die geltenden Mindeststandards und Schutzbestimmungen eingehalten werden. Allerdings soll diese Haftung auf die Ebene unmittelbar beauftragter Firmen beschränkt bleiben. Für nachgelagerte Subunternehmen, die meist auf Werkvertragsbasis Hungerlöhne zahlen, wäre der Generalunternehmer dann nicht mehr verantwortlich.« So fordert der DGB eine verbindliche Generalunternehmerhaftung für die gesamte Kette von Subunternehmen, wie sie in Deutschland zum Beispiel im Baugewerbe bereits existiert. Zu dieser an und für sich richtigen Forderung der Gewerkschaften sei allerdings kritisch angemerkt: Auch im Baugewerbe in Deutschland gibt es erhebliche Probleme im Bereich der Entsende-Arbeiter. Dazu ein Beispiel von Mihai Balan von der Frankfurter Anlaufstelle für Wanderarbeiter „Faire Mobilität“ in dem Artikel „Schutzlosere Wanderarbeiter“ von Eva Völpel: „Irgendwo in Osteuropa werden über eine Briefkastenfirma Arbeitnehmer zum Arbeiten nach Deutschland geschickt. Hier werden sie über Subunternehmer beispielsweise auf dem Bau beschäftigt. Auf dem Papier bekommen sie den Bau-Mindestlohn von mindestens 13,55 Euro. Aber es werden pauschal nur Gehälter von 1.000 oder 1.500 Euro ausbezahlt, die Leute arbeiten jedoch mehr Stunden. So werden Mindestlöhne unterlaufen.“
  • Aber selbst eine – wenn auch amputierte „Generalunternehmerhaftung“ würde vollends zur Makulatur werden, »sollte das Herkunftslandprinzip eingeführt werden, das einige osteuropäische Länder fordern. Damit erhielten Beschäftigte, die zum Beispiel von einer bulgarischen Firma nach Deutschland entsandt werden, auch bulgarische Löhne. So entstünde eine für deutsche Unternehmen unschlagbare Billiglohnkonkurrenz. Kein Wunder, dass nicht nur Gewerkschaften, sondern auch Verbände des Handwerks, der Bauindustrie und des Baugewerbes gegen die Herkunftslandregelung Sturm laufen.«

Was wäre – eigentlich – zu tun?

Dazu habe ich bereits am 12.12.2013 in einem Blog-Beitrag auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ ausgeführt:

»Eine … „richtige“ Lösung wäre die konsequente Umsetzung des Ziellandprinzips, also alle entsandten Arbeitnehmer bekommen die Mindeststandards des Ziellandes. Und man würde nicht darum herumkommen, nicht nur die Zahlung der Mindestlöhne, so es sie denn gibt, zu verlangen, sondern auch die erhebliche Kluft zwischen den Sozialabgaben setzt zahlreiche Dumping-Anreize, die man schließen müsste.«

Durchaus hoch relevant vor dem Hintergrund der nunmehr anlaufenden Debatte über die Einführung eines allgemeinen, flächendeckenden Mindestlohns auch in Deutschland und der damit verbundenen Hoffnungen, den Lohndruck zu mildern, ist der Hinweis in dem zitierten Passus, dass nicht nur die Mindeststandards des Ziellandes für die Entsende-Arbeitnehmer gelten müssen, sondern dass die erhebliche Kluft zwischen den Sozialabgaben beispielsweise in Deutschland oder Frankreich und den osteuropäischen Entsende-Ländern beseitigt werden muss, ansonsten ist das Kostengefälle zwischen einem zu einheimischen Bedingungen zu bezahlenden Arbeitnehmer und den „Lowcost-Arbeitern“ aus den Billiglohnländern der EU weiterhin viel zu groß.

Aber auch dann dann bliebe noch genug zu tun, beispielsweise im Bereich der Kontrollen und einer möglichst abschreckenden Sanktionierung von Verstößen gegen die Bestimmungen.

Im vorliegenden Fall der „Durchsetzungsrichtlinie“ wäre sogar ein Scheitern der Verhandlungen nicht die schlechteste „Lösung“, vor dem Hintergrund, dass im Mai dieses Jahres ein neues Europaparlament gewählt wird und dann die Verhandlungen erneut von vorne beginnen müssten.