Wird jetzt alles gut für die 16.000 Beschäftigten bei Kaiser’s Tengelmann? Branchenprimus Edeka kurz vor der Übernahme der 451 Supermärkte. Oder doch nicht?

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hat angekündigt, gegen das ausdrückliche Votum sowohl des Bundeskartellamtes (vgl. Untersagungsbescheid vom 31.03.2015) wie auch der Monopolkommission (vgl. das Sondergutachten vom 03.08.2016) über das Instrument einer Ministererlaubnis den Weg für eine Übernahme der 451 Supermärkte von Kaiser’s Tengelmann mit 16.000 Beschäftigten durch Edeka frei zu machen. Die ersten Meldungen der Nachrichtenagenturen sind dann in solche Artikel eingeflossen:  Gabriel erlaubt Fusion von Edeka und Tengelmann. An das notwendige „überragende Interesse der Allgemeinheit“, mit dem eine Ministererlaubnis als Ausnahmeregelung die wettbewerbspolitischen Einwände des Kartellamts gleichsam überstimmen kann (neben „gesamtwirtschaftlichen Vorteilen“, die hier aber nicht in Betracht kommen), muss man erst einmal ein großes Fragezeichen machen. Worin soll das bestehen? Anfangs hieß es noch sehr allgemein, der Minister »wolle so den Erhalt von Arbeitsplätzen und Tarifverträgen bei dem Zusammenschluss sichern.«

Im Laufe des Tages wurde dann die Berichterstattung angereichert mit weiteren Details:

Gabriel verlangt von Edeka Job-Garantie: »Ja, aber: Für die Fusion von Edeka und Kaiser’s Tengelmann will Sigmar Gabriel die Ministererlaubnis erteilen – allerdings nur unter strengen Bedingungen. „Es gibt keine Hintertür“, sagt der Vizekanzler.«

Darin: »Edeka müsse unter anderem umfassende Arbeitsplatz- und Standortgarantien abgeben, sagte der Vizekanzler. So müssten 97 Prozent der 16.000 Arbeitsplätze bei Kaiser’s Tengelmann zumindest für fünf Jahre gesichert sein. Edeka müsse alle Bedingungen erfüllen, sonst werde er keine Ministererlaubnis erteilen: „Es gibt keine Hintertür“, sagte Gabriel.«

Und dann kommt es noch härter für die Übrnahmestrategen: »Durch Verträge mit der Gewerkschaft Ver.di müsse Edeka sicherstellen, dass über fünf Jahre nach der Übernahme von Kaiser’s Tengelmann keine Filialen an selbstständige Lebensmittelhändler abgetreten würden, heißt es in einem Dokument seines Ministeriums ergänzend.«

Da überraschend es nicht, wenn mittlerweile ein Kommentar mit der Überschrift Gabriels Ja ist eigentlich ein Nein veröffentlicht wurde. Denn die Bedingungen sind so gestrickt, dass die Beteiligten, vor allem natürlich Deka, das Interesse verlieren werden:

  • So soll Edeka die rund 16.000 Tengelmann-Arbeitsplätze erhalten und den Beschäftigten rechtssichere Tarifverträge bieten.
  • Die übernommenen Filialen sollen außerdem in den nächsten fünf Jahren nur mit der Zustimmung der Gewerkschaft Ver.di an selbstständige Einzelhändler übergeben werden dürfen.
  • Selbst wenn Ver.di Ja sagt, muss Edeka garantieren, dass es mindestens 24 Monate lang zu keinen betriebsbedingten Kündigungen kommt.
  • Und nicht zuletzt muss Edeka in den drei betroffenen Regionen München/Oberbayern, Berlin und Nordrhein-Westfalen Tarifverträge mit Ver.di abschließen und darf – anders als geplant – die Tengelmann-Fleischwerke vorerst nicht schließen.

Susanne Amann schlussfolgert daraus:

»All das sind Auflagen, die bei Edeka-Chef Markus Mosa und Tengelmann-Besitzer Karl-Erivan Haub für blankes Entsetzen sorgen dürften. Denn es sind Bedingungen, die die beiden Supermarktkönige weder erfüllen können noch wollen. Edeka ist dafür bekannt, den Kontakt zu Ver.di zu meiden wie der Teufel das Weihwasser. Von Tarifvertragsbindung können viele der mehr als 300.000 Edeka-Mitarbeiter nur träumen. Klar ist außerdem, dass sich die teure Tengelmann-Übernahme für Edeka nur lohnt, wenn man „Synergieeffekte“ nutzen kann. Was nichts anderes heißt, als Personal abzubauen sowie Filialen und Werke zu schließen. All das aber hat Gabriel jetzt verboten. Und damit bedeutet das „Ja“ des Wirtschaftsministers de facto ein „Nein“. Und zwar ein „Nein“, das durch die Schärfe der Auflagen in seiner Deutlichkeit kaum zu überbieten ist.«

Gabriel trifft die Antragsteller damit an der zentralen wunden Stelle, denn Tengelmann und Edeka »hatten in ihrem Antrag auf die Erteilung einer Ministererlaubnis ausgerechnet damit argumentiert, dass der Verlust von Arbeitsplätzen drohe, wenn die Fusion nicht erlaubt werde. Mit diesem Hinweis auf das Gemeinwohl versuchten sie, das Bundeskartellamt zu umgehen, das eine Fusion aus wettbewerbsrechtlichen Gründen untersagt hatte. Selbst als durchsickerte, dass ein Arbeitsplatzabbau bereits im Kaufvertrag vereinbart ist, wurden beide Seiten nicht müde, das Argument zu nutzen.«

Bis zum 26. Januar haben Edeka und Tengelmann Zeit, sich zu überlegen, ob der Deal unter diesen Auflagen noch interessant ist. Möglicherweise wird sich das im Antrag noch behauptete Interesse am „Gemeinwohl“ angesichts der damit verbundene Auflagen verflüchtigen wie Wasser in der Wüste.

Heike Jahberg kommentiert unter der Annahme, dass der Übernahme-Deal trotz der Auflagen stattfinden wird, unter der Überschrift Der Super-Supermarkt:

»Falls sich Edeka an die Vorgaben von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hält, darf der Marktführer die 450 Filialen des Konkurrenten übernehmen und kann so noch mächtiger werden. Daran ändern auch die Bedingungen Gabriels nichts. Fünf Jahre lang darf Edeka keine Filiale an selbstständige Kaufleute abgeben, weitere zwei Jahre lang sollen betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen sein. Die 16 000 Beschäftigten von Kaiser’s Tengelmann, die „hart arbeiten“, sollen so lange wie möglich einen sicheren Arbeitsplatz haben, sagt der Vize-Kanzler. Glaubt Gabriel das wirklich? Oder will der Minister nur sein Gesicht wahren? Denn was wird wohl in fünf oder sieben Jahren geschehen, wenn die Fristen abgelaufen sind? Dann gehen die Filialen doch an die selbstständigen Kaufleute im Edeka-Verbund, die oft weder Betriebsräte haben noch Tarifverträge. Oder sie werden gleich dichtgemacht. Warum sollte Edeka eine Kette durchschleppen, die defizitär ist?«

Und es ist ja nicht so, als hätte es überhaupt keine Alternative in der Übernahmeschlacht gegeben. Dazu Jahberg: »Und: Hatte nicht auch Rewe versprochen, alle Arbeitnehmer zu übernehmen? Für die Nummer zwei wären die zusätzlichen Filialen und ihre Mitarbeiter eine gute Investition, um gegenüber Edeka Boden gutzumachen.«

Aber wäre eine Übernahme der immerhin 16.000 Beschäftigten durch die Edeka-Gruppe nicht ein echter Gewinn? Um die Skepsis an dieser Stelle zu verstehen, muss man sich klar machen, dass es Edeka als eigenes Unternehmen so eigentlich gar nicht bzw. nur noch rudimentär gibt in der Vorstellungswelt des normalen Kunden, der sicher davon ausgeht, dass die Edeka-Filialen alle zum Edeka-Konzern gehören. Das ist aber nicht der Fall. Immer weniger Filialen werden vom Konzern selbst betreiben, die meisten sind in der Hand selbständiger Kaufleute,  die unter dem Genossenschaftsdach der Edeka operieren. In den konzerneigenen Betrieben gibt es flächendeckend Betriebsräte und Tarifvergütung, nach einer „Privatisierung“ im Sinne eines Übergangs an selbständige Kaufleute brechen diese Strukturen oftmals weg. Ausführlich beschrieben ist das alles in der ver.di-Broschüre Schöne neue Handelswelt!? Ein Blick hinter die Kulissen des „privatisierten“ Handelsam Beispiel der Firma EDEKA.

Heike Jahberg beschreibt in ihrem Beitrag außerdem die möglichen Konsequenzen für die vorgelagerten Lebensmittelhersteller, die der Martktmacht der großen Supermarktketten schon seit langem mit immer weniger Puffer ausgeliefert sind: »Bitter wird es auch für die Lieferanten. Die großen vier Supermarktketten … können den Bauern und Lebensmittelproduzenten die Preise diktieren oder ihnen Rabatte abpressen. Unter den Großen ist Edeka der König – auch ohne Kaiser’s: Der Marktführer kann günstige Einkaufskonditionen durchsetzen und seine Marktmacht ausbauen. Mit Kaiser’s geht das jetzt noch schneller. Und ohne Kaiser’s haben die Erzeuger aus der Region einen Kunden weniger, dem sie ihren Apfelsaft, den Schinken oder die Marmelade verkaufen können.«

Vor wenigen Tagen veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Studie über den Konzentrationsprozess im Lebensmitteleinzelhandel: Fusionen von Supermarktketten mindern die Produktvielfalt, so ist die Pressemitteilung des Instituts dazu überschrieben (vgl. zu den wichtigsten Befunden der Studie auch das Interview mit Tomaso Duso, dem Verfasser der Studie). Dort geht man auf den aktuellen Fall ein, allerdings noch vor der nunmehr erfolgten Bekanntgabe der Entscheidung des Bundeswirtschaftsministers:

Auch auf dem deutschen Lebensmittelmarkt könnte ein Zusammenschluss bald Realität werden. Im Frühjahr 2015 hatte das deutsche Bundeskartellamt die Übernahme der Supermarktkette Kaiser’s Tengelmann durch Edeka untersagt. In Deutschland ist die Situation noch problematischer als in den Niederlanden; durch die Fusion wäre der mit Abstand größte Lebensmitteleinzelhändler in Deutschland noch stärker geworden. Beide Unternehmen haben daraufhin einen Antrag auf Ministererlaubnis gestellt. Die Entscheidung von Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel steht noch aus.

DIW-Ökonom Tomaso Duso beurteilt eine mögliche Genehmigung kritisch: „Die Übernahme der Kaiser’s-Filialen durch Edeka würde den Wettbewerb auf zahlreichen ohnehin schon stark konzentrierten regionalen Märkten erheblich einschränken. Dies beträfe den Großraum Berlin, München und Oberbayern sowie Nordrhein-Westfalen. Für die Verbraucher könnte dies negative Folgen haben, etwa in Form höherer Preise und einer deutlich geringeren Produktauswahl.“
Wir werden abwarten müssen, ob sich die beiden Unternehmen trotz der für sie restriktiven Auflagen für eine Übernahme entscheiden. Die Unsicherheit für die vielen Beschäftigten ist mit dem heutigen Tag nicht wirklich beseitigt worden.

Tarifbindung erreicht – Tarifbindung verloren. Das tarifpolitische Hin und Her im Einzelhandel am Beispiel von Primark und Real

Es gibt sie auch, die guten Nachrichten: Wichtiges Signal für die Beschäftigten im Handel – Tarifbindung für Modekette Primark vereinbart, so ist eine Pressemitteilung der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di überschrieben. Primark – da war doch was, wird der eine oder andere an dieser Stelle einwerfen. Genau. Noch im Februar dieses Jahres konnte man in dem Blog-Beitrag Billiger, noch billiger. Wo soll man anfangen? Karstadt, Deutsche Post DHL, Commerzbank … und Primark treibt es besonders konsequent zu diesem Unternehmen lesen, dass man dort mit einem  besonders „konsequenten“ Beispiel für Lohndrückerei konfrontiert werde: »… besonders konsequent deshalb, weil dieses Unternehmen offensichtlich – folgt man der aktuellen Berichterstattung – nicht nur generell niedrige Löhne zahlt, sondern die kostensenkenden Effekte potenziert durch eine „eigenartige“ Arbeitszeitgestaltung und – um den ganzen die Krone aufzusetzen – mit tatkräftiger Unterstützung der örtlichen Arbeitsagenturen und Jobcenter einen Teil der  anfallenden betrieblichen Kosten auch noch sozialisiert zu Lasten des Steuerzahlers.«

Die Vorwürfe damals: Viele Mitarbeiter müssen auf der Basis befristeter Teilzeitverträge arbeiten, was dem Unternehmen Primark maximale Flexibilität bietet. Und der Staat greift Primark kräftig unter die Arme: bei der Personalrekrutierung. Wenn sich der Textilkonzern in einer neuen Stadt ansiedelt, arbeitet er oft mit den Jobcentern und den Arbeitsagenturen zusammen und nutzt nicht nur die kostenlose Personalvermittlung, sondern zusätzlich häufig Eingliederungszuschüsse für die Anstellung von Langzeitarbeitslosen. Und am Beispiel Köln wurde aufgezeigt,  dass von den 360 vermittelten Arbeitskräften 116 so wenig verdienen, dass sie zusätzlich aufstockende Leistungen vom Jobcenter erhalten. Und die haben das offensichtlich systematisch „professionalisiert“. Über das Beispiel Hannover berichtet der Artikel Primark entlässt 132 Mitarbeiter: »Die Modekette Primark soll 132 der gut 500 Beschäftigten ihrer Filiale in Hannover entlassen haben … Auffällig sei, dass genau die Verträge von denjenigen Mitarbeitern nicht verlängert worden seien, die nach einem Jahr Beschäftigung Anspruch auf eine unbefristete Stelle gehabt hätten, heißt es aus Mitarbeiterkreisen. Dagegen sollen die Verträge von den Mitarbeitern, die erst vier Monate für die Modekette gejobbt hätten, noch einmal um einige Monate verlängert worden seien.«

mehr

Tarifflucht des Arbeitgebers und Zwangsteilzeit für die Beschäftigten. Das ist Real. Wieder einmal über eine Branche auf der Rutschbahn nach unten

Man kann ein eigenes Archiv eröffnen, wenn es um die Arbeitsbedingungen im Einzelhandel geht. Und dieses Archiv mit unzähligen Berichten hätte eine recht eindeutige Unwucht ab dem Jahr 2000. Denn bis dahin galt der Einzelhandel als eine relativ wohlgeordnete Branche. Die meisten Beschäftigten hatten eine Ausbildung, die Arbeitgeber waren tarifgebunden – wenn auch einige nicht freiwillig, sondern weil das Tarifwerk allgemein verbindlich war. Das bedeutet, alle Unternehmen mussten sich an die tariflichen Bestimmungen halten. Dadurch gab es eine wirkkräftige Sperre für Dumpingversuche einzelner Unternehmen, denn die waren schlichtweg nicht möglich.

Die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder hat dem ein Ende gesetzt, als auf Druck der Arbeitgeber die Allgemeinverbindlichkeit aufgehoben wurde. Seit diesem Schritt muss man beobachten, wie die gesamte Branche auf eine Rutschbahn nach unten gesetzt wurde, denn nunmehr lohnte es sich für einzelne Unternehmen, nach unten auszubrechen und beispielsweise durch Lohndumping bei den eigenen Beschäftigten Kostenvorteile gegenüber der Konkurrenz zu „erwirtschaften“. Was dann natürlich auch prompt geschehen ist. Nun hat so eine Rutschbahn die unangenehme Konsequenz, dass sie früher oder später auch die mit nach unten zieht, die eigentlich diesen Weg nicht gehen wollten, denn die Kostenvorteile der anderen, die die neue Bewegungsfreiheit genutzt haben, wurden bzw. werden in einer Branche, die sich durch einen brutalen Preiskrieg und sehr niedrige Margen auszeichnet, so elementar, dass man sich dem dadurch ausgelösten Druck nicht auf Dauer entziehen kann.

mehr

Lidl erobert den britischen Markt – und jetzt auch die Herzen der Niedriglöhner. Löhne rauf statt runter

In der deutschen Diskussion über Arbeitsbedingungen im Einzelhandel geht es seit Jahren um Lohndumping, beispielsweise durch unbezahlte Überstunden und generell ein „hartes“ Arbeitsklima. Unzählige kritische Berichte sind in den vergangenen Jahren dazu ausgestrahlt worden und fast alle Unternehmen tauchen dabei mehr oder weniger oft auf. Der Discounter Netto ist so ein Fall für eine sehr häufige negative Medienpräsenz, ohne dass das bislang zu größeren Verhaltensänderungen geführt hat. Aber auch Edeka taucht in letzter Zeit öfter auf. Und der eine oder andere wird sich erinnern – vor einigen Jahren war Lidl im Visier der kritischen Beobachter. Dem Artikel Die Ohnmacht der Beschäftigten von Martin Kempe aus dem Jahr 2014 können wir die folgende Erinnerung entnehmen:

»(Am) 10. Dezember 2004, dem „Tag der Menschenrechte“, hat die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di eine breit angelegte Kampagne in einem Unternehmen gestartet, das – ähnlich wie Amazon – allgemein bekannt ist und dessen Geschäftsmodell durch den Slogan „Billig auf Kosten der Beschäftigten“ zutreffend beschrieben wurde.
Auf einer gut besuchten Pressekonferenz stellte Verdi das „Schwarzbuch Lidl“ vor: Ein medialer Paukenschlag. Nahezu die gesamte Tagespresse berichtete an prominenter Stelle über die skandalösen Arbeitsbedingungen, über systematische Schikanen, aufgezwungene unbezahlte Mehrarbeit sowie Druck und Drohungen gegen Beschäftigte, die ihr Recht auf die Wahl eines Betriebsrats wahrnehmen wollten.
Rund zwei Jahre später legte der Journalist Andreas Hamann, der zusammen mit anderen das Schwarzbuch recherchiert und verfasst hatte, mit dem „Schwarzbuch Lidl Europa“ nach: Sogar in den Billiglohnländern Süd- und Osteuropas profilierte sich der „Schwarz-Konzern“ (nach dem Lidl- und Kaufland-Eigentümer Dieter Schwarz) als Lohndrücker und Billigkonkurrenz für einheimische Einzelhändler.«

Die Lidl-Kampagne kann man rückblickend als eine große Erfolgsstory der Gewerkschaft ver.di bezeichnen, an die man später immer wieder anzuknüpfen versuchte. Das Unternehmen kam erheblich unter Druck und hat seitdem tatsächliche oder zumindest proklamatorische Veränderungen vorgenommen, um sich aus der Kritiklinie zu nehmen. Auf der anderen Seite ist es »nicht gelungen, eine nennenswerte Anzahl von Betriebsräten zu installieren, die als gewerkschaftliche Organisationskerne hätten fungieren können. Es gab zwar im Verlauf der Kampagne einen deutlichen Mitgliederzuwachs unter den Lidl-Beschäftigten, aber eine effektive gewerkschaftliche Gegenmacht innerhalb des Unternehmens konnte nicht aufgebaut werden«, so Kempe in seinem Rückblick.

Der Konzern hingegen hat seine Öffentlichkeitsarbeit professionalisiert. In den ersten Wochen und Monaten des Jahres 2015 diskutierte man (über)aufgeregt über die am Jahresanfang erfolgte Scharfstellung des gesetzlichen Mindestlohnes in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde für alle, die nicht unter Ausnahmeregelungen fallen. Gut platziert in diese Zeit wurde dann die folgende frohe Botschaft unters Volks gestreut: »Die Discount-Kette Lidl erhöht den intern bezahlten Mindestlohn für die Mitarbeiter in Deutschland zum 1. Juni auf 11,50 Euro … Die 11,50 Euro seien ein Einstiegsentgelt, das auch dann bezahlt werde, wenn der tarifliche Lohn niedriger sei – auch bei geringfügiger Beschäftigung«, berichtete Susanne Preuss in ihrem Artikel Lidl erhöht den internen Mindestlohn. Es gab – wie erwartet und geplant – große Aufmerksamkeit und Zustimmung in den Medien. Nun ist er damit verbundenen Anstieg nicht wirklich besonders sensationell, denn man muss wissen, dass seit knapp zwei Jahren die Lidl-Beschäftigen durchweg mindestens 11 Euro die Stunde verdienen. Was ist diese Anhebung des Mindestlohns von 4,5 Prozent (die ja auch nur einen Teil der Belegschaft überhaupt betrifft) gegen eine durchschnittliche Anhebung der Löhne um 14 Prozent. Um die Größenordnung geht es bei Lidl. In Großbritannien.

Genau. Großbritannien. Die meisten Menschen bei uns verbinden Lidl (nur) mit Deutschland, dabei handelt es sich um einen international aufgestellten und vor allem auch international wachsenden Konzern. Nur zwei Zahlen: In Deutschland hat Lidl im Jahr 2014 einen Umsatz in Höhe von 18,6 Milliarden Euro erzielt, weltweit waren es 59 Milliarden Euro. Und gerade in Großbritannien können wir mitverfolgen, was es bedeutet, wenn die deutschen Discounter von „Expansion“ sprechen.

Sebastian Borger bringt es auf den martialischen Punkt: Aldi und Lidl erobern die Insel. »In Großbritannien eilen die deutschen Discounter Lidl und Aldi Süd von einem Erfolg zum anderen. Der Siegeszug scheint unaufhaltsam.« Aldi, genauer: Aldi Süd, wagte 1990 den Sprung über den Kanal, Lidl folgte vier Jahre später. Anfangs waren die beiden nur ganz kleine Anbieter, aber seit 2008 explodiert die Erfolgsgeschichte der deutschen Discounter im Vereinigten Königreich. Lidl hat derzeit knapp 600 Filialen auf der Insel, die auf 1.200 verdoppelt werden sollen. Derzeit »liegt Aldi auf Platz sechs mit einem Marktanteil von 5,6 Prozent, Lidl (4,1 Prozent) nimmt Platz acht ein. Damit sind die Deutschen weit entfernt von etablierter Konkurrenz wie Wm Morrison (10,8), dem traditionsreichen Sainsbury-Konzern (16,6) oder der Walmart-Tochter Asda (16,6), vom Marktführer Tesco (28,3) ganz zu schweigen«, so Sebastian Borger. Aber sie wachsen und wachsen. Festzuhalten bleibt: Die deutschen Diskonter Lidl und Aldi führen seit Jahren einen aggressiven Preiskrieg und haben die Supermarkt-Landschaft in Großbritannien erheblich in Aufruhr versetzt. Alle großen Ketten wie Tesco und Sainsbury schrumpfen und verlieren Kunden, während Aldi und Lidl sprunghafte Wachstumsraten verzeichnen.

Und um zu expandieren, kann man nun versuchen, noch etwas billiger zu werden wie die Konkurrenz, die dann aber meistens sofort nachzieht, um das auch zu erreichen. Offensichtlich geht man aber bei Lidl in Großbritannien einen anderen Weg: Nicht die Löhne drücken, sondern im Gegenteil – Löhne rauf. Denn dadurch kann man sich natürlich ein positives Image verschaffen.

Das ist dann der Hintergrund für so einen Artikel: Lidl to pay 9,000 staff the full living wage. Der aufmerksame Leser wird sofort darauf gestoßen sein, dass hier nicht etwa vom „national minimum wage“, also dem Mindestlohn, die Rede ist, sondern vom „full living wage“. Das ist nicht nur semantisch ein Unterschied, der sich für die Betroffenen auszahlt. Lidl UK hat angekündigt, ab dem kommenden Monat 9.000 seiner 17.000 Mitarbeiter rund 1.200 Pfund (1.647 Euro) pro Jahr mehr zu bezahlen als bislang. Der Lidl-Mindestlohn pro Stunde steigt mit dem Schritt auf 8,20 Pfund in weiten Teilen Großbritanniens und auf 9,35 Pfund in der Hauptstadt London. Derzeit zahlt Lidl 7,30 Pfund außerhalb Londons und 8,03 Pfund in der Metropole. Mit der neuen Lohntabelle liegt Lidl um fast ein Pfund pro Stunde über der Konkurrenz. Vgl. dazu auch die Meldung Lidl zahlt britischer Belegschaft freiwillig mehr.

Der staatliche Mindestlohn liegt derzeit bei 6,50 Pfund und die konservative Regierung hat eine Anhebung auf 7,20 Pfund ab April 2016 angekündigt. Bis 2020 soll er dann auf 9 Pfund ansteigen, allerdings beide Erhöhungen nur für die über 25-Jährigen. Die Anhebung des Lidl-Mindestlohns gilt hingegen für alle, auch jüngere Beschäftigte.

Lidl folgt mit der Erhöhung einer Empfehlung der Living Wage Foundation, die den „living wage“ berechnet und kalkuliert. Lidl hat bereits angekündigt, dass das Unternehmen Anpassungen der ausgewiesenen Pfund-Beträge nach oben entsprechend an das eigene Personal weitergeben würde. Für die „living wage“-Kampagne ist die Lidl-Entscheidung ein großer Durchbruch und von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Damit wird natürlich der ganze Lebensmitteleinzelhandel unter Druck gesetzt, sich nun auch in diese Richtung zu bewegen.

Jenseits der Einzelfälle: Die sich selbst beschleunigende Verwüstungsmechanik von abnehmender Tarifbindung im Einzelhandel, gnadenlosem Verdrängungswettbewerb und dem Hamsterrad der Personalkostenreduzierung. Plädoyer für eine Wiederherstellung der Ordnungs- und Schutzfunktion des Tarifsystems gegen die „Rutschbahn nach unten“ durch Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge

Regelmäßig werden wir konfrontiert mit Berichten über
problematische, in Teilbereichen nur als mies zu bezeichnende
Arbeitsbedingungen des Personals im Lebensmitteleinzelhandel. Immer wieder
Lohndumping-Versuche der Arbeitgeber in einer Branche, in der nicht einige wenige
Leute beschäftigt sind, sondern sehr viele Menschen, vor allem Frauen, mit
ihrer Hände Arbeit den Lebensunterhalt verdienen (müssen). Und auch immer ganz
vorne dabei die großen Discounter, aus denen dann den Medien Bruchstücke einer
Arbeitswelt zugespielt werden, die ziemlich wenig zu tun hat mit dem
Euphemismus „Jobwunder“, mit dem so gerne in Deutschland hantiert wird. Und
diese Berichte in den Medien haben in den zurückliegenden Jahren immer mehr
zugenommen und sie betreffen fast alle der auf diesem hart umkämpften Markt
tätigen Unternehmen. Netto, Lidl, Rewe, auch Edeka – um nur einige aufzurufen. Allein
in dieser Woche durchaus prominent platziert kritische Fernsehberichte über
Lidl (Lidl
als Arbeitgeber
vom 03.08.2015) im Wirtschaftsmagazin „WISO“ (ZDF) und nur
einen Tag später am 04.08.2015 im Politikmagazin „Report Mainz“ (ARD) der
Beitrag Rewe
in der Kritik: Wie durch den Verkauf der Märkte Arbeitnehmerrechte ausgehöhlt
werden
. Und immer sind es die gleichen Muster, mit denen die betroffenen
Arbeitnehmer/innen konfrontiert werden. Immer mehr Teilzeitverträge, immer
öfter nur Stundenkontingente und Arbeit auf Abruf und immer wieder: unbezahlte
Mehrarbeit. Zugleich kaum oder keine betrieblichen Mitbestimmungsstrukturen
bzw. da, wo es welche gab, wurden sie beseitigt im Zuge von „Privatisierungen“,
also der Übernahme von bislang konzerneigenen Filialen durch selbständige
Kaufleute.

In diesem Beitrag soll es nicht darum gehen, den seit Jahren
immer und immer wieder vorgetragenen Einzelfällen weitere hinzuzufügen, sondern
einen Schritt zurückzutreten und die letztendlich entscheidende Frage zu
stellen: Kann es jenseits der wichtigen und berechtigten Kritik an dem Verhalten
einzelner Unternehmen – die teilweise schon Änderungen bewirken kann, aber bei
anderen, z.B. dem Discounter Netto, so gut wie keinen Effekt zeigen – eine strukturelle
Lösung eines offensichtlich eben strukturellen, also die gesamte Branche
betreffenden Problems geben? Und warum tut sich auf dieser grundsätzlichen
Baustelle so wenig? Es geht also um die von mir in vielen Beiträgen in den
vergangenen Jahren, in denen über die gleichen Muster in unterschiedlichen
Unternehmen berichtet wurde, immer und immer wieder beschriebene „Rutschbahn
nach unten“, auf der sich die Arbeitsbedingungen im Lebensmitteleinzelhandel
befinden (müssen) und die Aufgabe, wenn schon nicht das Rad wieder zurückzudrehen in
die alte Welt, so doch zumindest den Neigungswinkel der Rutschbahn erheblich zu
verkleinern.

Wenn wir über den Lebensmitteleinzelhandel in Deutschland
sprechen, dann wird man mit einem überaus konzentrierten Markt konfrontiert.
Die Abbildung über die Verteilung der Marktanteile im Lebensmittelhandel
verdeutlicht, dass wir es mit einem – wie die Ökonomen sagen – sehr engen
Angebotsoligopol zu tun haben, also einige wenige marktstarke Anbieter stehen
vielen kleinen marktschwachen Nachfragern (den Verbrauchern) gegenüber. Eine
Marktform, die aus Wettbewerbsgründen mit größter Vorsicht und Argwohn zu
behandeln ist. Genau das ist Aufgabe des Bundeskartellamtes und die tun das
dann auch ganz praktisch, man denke hier aktuell an den Fall der beabsichtigten
Übernahme von 450 Filialen von Kaiser’s Tengelmann durch EDEKA, die Anfang
April dieses Jahres vom Bundeskartellamt untersagt wurde (vgl. hierzu Bundeskartellamt
untersagt Übernahme von Kaiser’s Tengelmann durch EDEKA
).

Das Kartellamt hatte im vergangenen Jahr eine
„Sektoruntersuchung Lebensmitteleinzelhandel“ veröffentlicht, in dem die
Verfasstheit dieses Marktes ausführlich beschrieben worden ist (vgl. dazu: Bundeskartellamt:
Sektoruntersuchung Lebensmitteleinzelhandel
. Darstellung und Analyse der
Strukturen und des Beschaffungsverhaltens auf den Märkten des
Lebensmitteleinzelhandels in Deutschland. Bericht gemäß § 32 e GWB – September
2014, Bonn). Aus der Kurzfassung
der Sektoruntersuchung:

»Durch die Konzentrationsentwicklungen der letzten Jahre ist
heute nur noch eine über- schaubare Zahl an Lebensmitteleinzelhändlern in
Deutschland tätig. Auf nationaler Ebene handelt es sich im Wesentlichen um die fünf
führenden Unternehmen Edeka, Rewe, Schwarz Gruppe (Lidl und Kaufland), Aldi und
mit Einschränkungen Metro. Auch der Discounter Norma verfügt über ein überregionales
Filialnetz … Auf die führenden Unternehmen Edeka, Rewe, Schwarz Gruppe und
Aldi entfallen deutlich mehr als drei Viertel aller Umsätze im
Lebensmitteleinzelhandel, die mit Endkunden in Deutschland erzielt werden.«

Die oftmals hoch problematischen Folgen des gewaltigen
Konzentrationsprozesses betreffen nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch die
Zulieferer, auf die ein gnadenloser Preis- und damit Kostendruck ausgeübt wird
(den sie oft nur an die eigenen Beschäftigten weitergeben können, wenn sie im
Markt bleiben wollen) und auch für die Verbraucher. Auch das wird von den Medien
aufgegriffen, vgl. beispielsweise die ZDF-Dokumentation Die
Macht von Aldi, Edeka & Co. Kundenkampf um jeden Preis
, die am
08.07.2015 ausgestrahlt wurde.
Hinsichtlich der Entwicklung der Arbeitsbedingungen in den
Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels muss man von einer Welt „vor“ und
einer „nach“ dem Jahr 2000 sprechen. Bis zum Jahr 2000 war die Welt des
Einzelhandels insgesamt und damit auch in diesem Teilbereich des
Wirtschaftszweigs relativ wohlgeordnet, in der Arbeitsmarktforschung hat man
von einer „stabilen Branche“ gesprochen. Und das hatte damit zu tun, dass bis
zu diesem Jahr eine flächendeckende Tarifsystematik über alle Unternehmen
vorhanden war, denn: Bis 1999 waren im Einzel- und im Großhandel nahezu alle Tarifverträge
für allgemeinverbindlich erklärt, die Lohn- und Gehaltsstruktur insgesamt, die Manteltarifverträge
und die Tarifverträge zu vermögenswirksamen Leistungen usw. Bis zum Jahr 1999
gab es einen Konsens zwischen Arbeitgeberverbänden des Einzelhandels und den damaligen
Gewerkschaften HBV und DAG, nach Unterzeichnung der Tarifverträge einen Antrag
auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu stellen.

Dieser Konsens wurde im
Jahr 2000 von der Arbeitgeberseite aufgekündigt. Das stand in einem
unmittelbaren Zusammenhang mit einer Spaltung der Arbeitgeberverbände, denn im
Jahr 2000 erfolgte die Abspaltung der BAG (Bundesarbeitsgemeinschaft der
Mittel- und Großbetriebe) als selbständiger Tarifträgerverband und dort wurde
die OT-Mitgliedschaft zugelassen, also eine Mitgliedschaft im Verband ohne
Tarifbindung. Peek und Cloppenburg war das erste große Handelsunternehmen, das
in die OT-Mitgliedschaft wanderte. Unter Zugzwang gesetzt führte dann auch der
HDE (Hauptverband des deutschen Einzelhandels) die OT Mitgliedschaft ein.
Übrigens: Diese Spaltung war nicht von Dauer: Ende 2009 war die BAG
wirtschaftlich am Ende, denn Karstadt als Hauptfinanzier der BAG konnte diese
nicht mehr finanzieren und der Mitgliederverlust war ein weiterer Sargnagel in
die Existenz dieses Verbandes. Seit dieser Zeit existiert als Tarifträgerverband
im Einzelhandel nur noch ein Arbeitgeberverband – der HDE Handelsverband Deutschland.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die Allgemeinverbindlichkeit
im Einzelhandel wurde Anfang des neuen Jahrtausends von den Arbeitgebern
zerstört, denn die OT-Mitgliedschaft stand im Widerspruch zur
Allgemeinverbindlichkeit, denn die betreffenden Unternehmen wollten sich ja
gerade aus der Tarifbindung verabschieden. Außerdem wurde das Erfordernis des
mindestens 50%-Anteils tarifgebundener Unternehmen durch den Austritt von
Unternehmen aus den Verbänden nicht mehr erreicht. Im Jahr 2000 wurde dann
seitens der Arbeitgeber der Konsens aufgekündigt, beantragte
Allgemeinverbindlichkeitserklärungen über die Arbeitgebervertreter im
Tarifausschuss abgelehnt und das bis dato bewährte Ordnungssystem im Einzelhandel
einem sich selbst beschleunigenden Zerstörungsmechanismus ausgeliefert. Dabei
lohnt es sich, noch einmal in die Zeit vor 2000 zurückzublicken, mit welchen
Argumenten man die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge gerechtfertigt
hat – und zwar von beiden Seiten, also Gewerkschaften und Arbeitgeber. Man wird
auf eine überaus moderne, weil heute hoch relevante Begründungslinie stoßen:
Danach ist der Einzelhandel eine Branche mit extrem hoher
Wettbewerbsintensität. Personalkosten spielen eine strategisch wichtige Rolle.
Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung dient dazu, dass nicht durch
Nichtbeachtung der Tarifverträge Personalkostenvorteile gegenüber
tarifgebundenen Konkurrenten erzielt werden können. Außerdem wurde gesehen, dass
darüber realisierte Personalkosteneinsparungen in eine Intensivierung des
Verdrängungswettbewerbs fließen würden.
Genau so ist es dann ja auch in den Jahren nach 2000
passiert.
Gabriel Felbermayr und Sybille Lehwald haben kürzlich eine
Studie veröffentlicht, aus der man ganz praktisch die Folgen gerade für die
Arbeitnehmer ablesen kann, die sich aus der abnehmenden Tarifbindung in der
Branche ergeben (Gabriel Felbermayr und Sybille Lehwald: Tarifbindung
im Einzelhandel: Trends und Lohneffekte
, in: ifo Schnelldienst, Heft 11/2015,
S. 33-40):

»Die Bedeutung der Kollektivverträge im Handel hat sich in
jüngster Zeit deutlich gewandelt: Seit 2000 hat sich der Anteil der Beschäftigungsverhältnisse,
die einem Tarifvertrag unterliegen, von knapp drei Viertel auf weniger als die
Hälfte verringert. Nur noch jeder dritte Betrieb verfügt über einen
Kollektivvertrag. Tarifgebundene Betriebe sind größer und älter als ungebundene
… und zahlen durchschnittlich 25 bis 32% höhere Löhne.«

Diese für die gesamte Branche ermittelten Werte decken sich
gut mit konkreten Erfahrungen, die man machen kann bzw. muss hinsichtlich der Verschlechterung
der Arbeitsbedingungen für Beschäftigte gerade im Lebensmitteleinzelhandel,
wenn Filialen, die bislang als Konzernfilialen geführt wurden, „privatisiert“,
also an selbständige Kaufleute abgegeben werden, die dann weiter unter dem
Namensdach des Konzerns segeln. Diese Umwandlung passiert gerade bei Rewe, Vorreiter
der Entwicklung ist aber EDEKA. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der
„Privatisierungsstrategie“ hat die Gewerkschaft ver.di 2012 veröffentlicht:

Ver.di Bundesverwaltung
(Hrsg.): Schöne
neue Handelswelt!? Ein Blick hinter die Kulissen des „privatisierten“ Handels
am Beispiel der Firma EDEKA
, Berlin 2012.

Auch hier wird immer wieder
von Einkommenseinbußen in Höhe von 20 bis 30 Prozent gegenüber vorher
berichtet. Hinzu kommen weitere deutliche Verschlechterungen der
Arbeitsbedingungen. Neben der Gestaltung der Arbeitsverträge gerade
hinsichtlich der Stundenvorgaben beobachtet man in aller Regel ein Verschwinden
der bereits vorher mehr als dünnen betrieblichen Mitbestimmungsstrukturen, denn
in den „privatisierten“ Märkten gibt es in aller Regel keinen einzigen
Betriebsrat.

Interessanterweise spielt
dieser Aspekt sogar eine Rolle in der ablehnenden Stellungnahme der
Monopolkommission hinsichtlich der beantragten Ministererlaubnis für eine
Übernahme der 450 Filialen von Kaiser’s Tengelmann durch EDEKA (vgl. herzu
Monopolkommission: Zusammenschlussvorhaben
der Edeka Zentrale AG & Co. KG mit der Kaiser’s Tengelmann GmbH.
Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 42 Abs. 4 Satz 2 GWB
. Bonn.
August 2015):

»Nach Ansicht der
Monopolkommission sind Vereinbarungen, mit denen ein Unternehmen den Erhalt
sämtlicher Arbeitsplätze verspricht, in tatsächlicher Hinsicht nicht geeignet,
den betriebswirtschaftlichen Zwängen, die gegebenenfalls einen Abbau von
Arbeitsplätzen erfordern, wirksam zu begegnen. Im vorliegenden Fall kommt
hinzu, dass eine Vereinbarung mit der Edeka Zentrale keine rechtliche
Bindungswirkung für die selbstständigen Einzelhändler, an die Filialen
übertragen werden sollen, entfalten würde. Darüber hinaus besteht die Gefahr,
dass das häufige Fehlen von Mitbestimmungsstrukturen in den privatisierten
Filialen zu Einschränkungen des gesetzlichen Arbeitnehmerschutzes in der Praxis
führen wird, wovon auch ältere Beschäftigte und solche mit einem hohen
Qualifikationsniveau betroffen wären.« (S. 49 f.)

Was also tun angesichts
dieser Entwicklungen und vor allem der bekannten Folgen, die sich in den vielen
Einzelfällen besichtigen lassen? Immer wieder einzelne Unternehmen vor das
zumeist kurzlebige Auge einer zu Recht skandalisierenden
Medienberichterstattung zu zerren, reicht offensichtlich nicht aus, denn die
Branche sitzt strukturell auf einer „Rutschbahn nach unten“, deren innere
Rationalität dazu führen muss, dass selbst „gut meinende“ Unternehmen gezwungen
sind, sich an dem Lohnkostensenkungsautomatismus zu beteiligen, wollen sie
nicht über kurz oder lang aus dem Markt gekegelt werden.
Systematisch gesehen ergeben
sich drei grundsätzliche Optionen, um die Tarifbindung der „alten Welt“ wieder
herzustellen bzw. wenigstens einige Aspekte der damit verbundenen Ordnungs- und
Schutzfunktion wieder herzustellen:

1.) Eine Rückkehr zu einer
umfassenden Tarifbindung von Unternehmen und Beschäftigten, wie es sie mal
gegeben hat – allerdings ist diese „beste“ Option unrealistisch, nicht nur
aufgrund der massiven Tarifflucht der Arbeitgeber, sondern auch aufgrund des
niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrades der Beschäftigten in vielen
Dienstleistungsbereichen.

2.) Dann bliebe als „ große
mittlere Variante“ die Allgemeinverbindlichkeitserklärung gesamter
Branchentarifverträge bzw. als „kleine mittlere Variante“ die Allgemeinverbindlichkeit
eines Branchen-Mindestlohns als unterste Haltelinie, wobei die kleinere
Variante der AVE das Grundproblem hat, dass eben nur ein branchenspezifischer
Mindestlohn für alle gilt, nicht aber die gesamte Tarifvertragssystematik.

3.) Auf der untersten Ebene
steht dann das, was wie gerade erlebt haben, der Substitutionsversuch durch die
Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes. Das mag hier und da
ein wichtige und gute Verbesserung sein, birgt aber auch die übrigens derzeit
schon beobachtbare Gefahr, dass die Vergütungen abgesengt werden auf den
Referenzpunkt des Mindestlohns.
Vor diesem Hintergrund
drängt sich der Lösungsvorschlag auf, einen deutlichen Schritt „zurück“ zu
gehen und die Allgemeinverbindlichkeit der tarifvertraglichen Ordnung wieder
herzustellen. Und dafür gibt es durchaus im Grunde einen Ansatzpunkt: die
Allgemeinverbindlichkeitserklärung der Tarifverträge (AVE) auf der Basis des
Tarifvertragsgesetzes.  Aber warum
passiert dann an dieser Stelle nichts? Um das zu verstehen, muss man kurz
eintauchen in die Systematik und die Hürden einer
Allgemeinverbindlichkeitserklärung.
Der grundsätzliche Weg der
AVE läuft über das Tarifvertragsgesetz. Dazu gleich mehr. Daneben gibt es den
Weg über das Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG). Dieses seit 1996 vorhandene
Gesetz hatte das Ziel, dass ausländische Unternehmen an die tariflichen
Mindestarbeitsbedingungen (Entgelt, Urlaub, Urlaubsgeld) hier in Deutschland
gebunden werden sollten. Bis zum Jahr 2007 war lediglich das Bauhauptgewerbe
und das Baunebengewerbe vom Arbeitnehmerentsendegesetz erfasst. Bereits im Jahr
1998 gab es eine Neuregelung dieses Gesetzes, durch die eine bis dahin
bestehende Hürde beseitigt wurde, nämlich die Anforderung, dass die
tarifgebundenen Unternehmen mindestens 50 % der Beschäftigten der Branche
umfassen. Außerdem wurde geregelt, dass das BMAS durch Rechtsverordnung die AVE
eines Tarifvertrags herstellen kann – auch gegen den Willen der
Spitzenorganisationen der Arbeitgeber. Hierbei handelt es sich um einen ganz
entscheidenden Passus der ein Grunddilemma der AVE auflösen könnte.  Könnte deshalb, bei dieser Option bislang
noch nie genutzt wurde. Die AVE im Kontext des Arbeitnehmerentsendegesetzes
wurde in den Jahren nach 2007 vor allem für die Implementierung von
Branchen-Mindestlöhnen benutzt, also für die oben beschriebene „kleine mittlere
Variante“.
Der normale Weg eine
Allgemeinverbindlichkeitserklärung der tarifvertraglichen Strukturen im
Einzelhandel müsste über das Tarifvertragsgesetz laufen. Und an und für sich
könnte man meinen, dass die Voraussetzungen, diesen Weg zu gehen, durch die
große Koalition deutlich verbessert worden sind. Bereits in dem Koalitionsvertrag
vom Dezember 2013
haben sich die Unionsparteien und die SPD auf das
folgende Vorhaben unter der Überschrift „Allgemeinverbindlicherklärungen nach
dem Tarifvertragsgesetz anpassen und erleichtern“ verständigt:

»Das wichtige
Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) nach dem Tarifvertragsgesetz
bedarf einer zeitgemäßen Anpassung an die heutigen Gegebenheiten. In Zukunft
soll es für eine AVE nicht mehr erforderlich sein, dass die tarifgebundenen
Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages
fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Ausreichend ist das Vorliegen eines
besonderen öffentlichen Interesses. Das ist insbesondere dann gegeben, wenn
alternativ:
die
Funktionsfähigkeit von Gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien
(Sozialkassen) gesichert werden soll,
die AVE die
Effektivität der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen
wirtschaftlicher Fehlentwicklungen sichert, oder
die
Tarifvertragsparteien eine Tarifbindung von mindestens 50 Prozent glaubhaft darlegen.
Wir wollen, dass die, den
Antrag auf AVE stellenden Tarifvertragsparteien, an den Beratungen und Entscheidungen
des Tarifausschusses beteiligt werden können und werden prüfen, wie dies
umgesetzt werden kann.« (S. 48)

Und es ist nicht so, dass die
Große Koalition untätig geblieben wäre, denn mit dem
„Tarifautonomiestärkungsgesetz“, mit dem der allgemeine gesetzliche Mindestlohn
eingeführt wurde, hat man auch das 50%-Quorum abgeschafft und damit eine
bisherige Hürde auf dem Weg zur AVE. Allerdings bleibt es wie bei einem
beschwerlichen Hürdenlauf: Auch wenn eine Hürde weniger da ist, die nächste
baut sich unbezwingbar vor einem auf. Dazu genügt ein Blick in das
Tarifvertragsgesetz und hierbei konkret in den § 5 TVG. Dort heißt
es im Absatz 1:

»Das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales kann einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je
drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer
bestehenden Ausschuss (Tarifausschuss) auf gemeinsamen Antrag der
Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären, wenn die
Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint.«

Entscheidend ist hier die
Formulierung: „im Einvernehmen“ mit dem Tarifausschuss. Daraus resultiert eine
effektive Blockademöglichkeit einer wieder stärkeren Nutzung der AVE seitens
der Arbeitgeber, denn wenn die das im Tarifausschuss verweigern, dann wird
nichts passieren (können). Weil das BMAS hier eben nicht die Option hat, auch
gegen den Widerstand beispielsweise der Arbeitgeber einen Tarifvertrag für
allgemeinverbindlich zu erklären, wenn denn das öffentliche Interesse dafür
spricht – und das öffentliche Interesse wird definiert über zwei Merkmale:
Sicherung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und Wahrung der
Tarifautonomie. Gerade mit dem letzten Punkt könnte man angesichts der
Tarifflucht-Realitäten im Einzelhandel argumentieren.
Ein aktuelles und handfestes
Beispiel zu der Totalblockademöglichkeit seitens der Arbeitgeber kommt aus dem
Saarland (vgl. hierzu bereits meinen Blog-Beitrag
vom 16.07.2015
): Heftiger
Streit um Löhne in der Saar-Gastronomie
, so hat Joachim Wollschläger seinen
Artikel überschrieben.
Die Gewerkschaft Nahrung,
Genuss, Gaststätten (NGG) Saarland wirft der Vereinigung der saarländischen
Unternehmensverbände (VSU) vor, auskömmliche Gehälter zu verhindern. Was ist
passiert? Die NGG im Saarland wirft der VSU vor, sie »habe durch ihr Veto
verhindert, dass die Tarifverträge der unteren drei Entgeltgruppen im Hotel-
und Gastgewerbe nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden seien … Und das
nicht aus sachlichen Gründen, sondern nur aus Prinzip, um nicht im Saarland
Vorreiter zu werden, so der Vorwurf.«

Der Pressemitteilung der NGG
(VSU
betreibt rückwärtsgewandte Blockadepolitik
) kann man entnehmen:

»Die Tarifvertragsparteien
hatten unter anderem das Ziel, mit einem allgemeinverbindlichem
Einstiegsentgelt für Fachkräfte in Höhe von 9,40 €/h, die Attraktivität einer
Ausbildung im Gastgewerbe zu steigern und sicherzustellen, dass Fachkräfte
flächendeckend mehr Entgelt erhalten als den gesetzlichen Mindestlohn in Höhe
von 8,50 €/h. Mit dem ersten Einstieg in die AVE sollte außerdem ein fairer
Wettbewerb gewährleistet werden und dem öffentlichen Interesse nach einem
zukunftsfähigen Gastgewerbe Rechnung getragen werden. Die AVE der unteren 2
Entgeltgruppen sollte zudem eine Mindestentlohnung für Mitarbeiter im
Gastgewerbe ohne Ausbildung oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns
festschreiben.«

Man muss an dieser Stelle
besonders hervorheben: Im Vorfeld des Antrags auf
Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) – wohlgemerkt nicht des gesamten
Tarifvertrags, sondern der drei unteren Entgeltgruppen – hatte die Gewerkschaft
NGG gemeinsam mit dem Hotel- und Gaststättenverband Dehoga Saar einen
Tarifvertrag ausgehandelt und gleichzeitig beschlossen, diesen für die
untersten drei Entgeltgruppen für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Mit
dem Ziel, dass Fachkräfte deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt
werden. Es handelt sich also um eine konzertierte Aktion der beiden
Tarifvertragsparteien, nicht nur der Gewerkschaft.

Aber hier wird ein
systematisches Problem der Allgemeinverbindlichkeitserklärung offensichtlich.
Zwar hat man eine Hemmschwelle beseitigt, aber eben nur eine. Konkret am
Beispiel dessen, was im Saarland abläuft:

»Der Gesetzgeber hat zur
Erleichterung einer AVE zudem mit Wirkung zum 1. Januar 2015 die starre
Quotenregelung, wo nach 50 % der Beschäftigten einer Branche im
antragsstellenden Arbeitgeberverband organisiert sein müssen, zu Gunsten des
öffentlichen Interesses aufgegeben.
Leider wurde branchenfremden
Verbänden weiterhin eine Veto-Möglichkeit im Gesetz eingeräumt, wie sie die
Vereinigung saarländischer Arbeitgeberverbände (VSU) in der Anhörung zur AVE am
9. Juli 2015 im saarl. Wirtschaftsministerium, auch genutzt hat. DEHOGA-
Saarland und NGG haben im Rahmen der Anhörung ausführlich Stellung zum Antrag
bezogen. Beide Tarifvertragsparteien sind allerdings nicht stimmberechtigt, was
aus Sicht der NGG eine Sollbruchstelle im Gesetz darstellt«, so die NGG
Saarland in ihrer Pressemitteilung.

Fazit: Wenn die
Bundesregierung dabei bleibt, nur das 50%-Quorum abzuschaffen, nicht aber die
überaus harte und hohe Hürde des Einvernehmens im Tarifausschuss auch zu
schleifen für die Fälle, in denen aus übergeordneten Erwägungen eine AVE im
gesellschaftspolitischen, volkswirtschaftlichen, letztendlich aber mit Blick
auf die Verwüstungen in der Branche sogar betriebswirtschaftlich sinnvoll ist,
dann wird es weiter keine Bewegung geben (können). Die Politik könnte
entscheiden, wenn sie denn wollte. Um endlich wieder mehr Ordnung auf dem
Arbeitsmarkt zu schaffen. Es steht aber zu befürchten, dass aufgrund der
scheinbar bereits eingesetzten Handlungsstarre vor der nächsten Bundestagswahl
2017 (!) alle Akteure in der Großen Koalition in eine Art Dauerwinterschlaf
verfallen sind und keine erkennbaren Bestrebungen zu beobachten sind, dieses
Problem wenigstens mal anzugehen, geschweige denn zu lösen. Machbar aber wäre
das. Wenn der Wille da wäre.