Die vorprogrammierte Altersarmut im System und das hässliche Gesicht der Altersarmut vor Ort. Und dann das Nichtstun als Alternative zur Alternative

Leistungen begrenzen, Beiträge und Lebensarbeitszeit erhöhen, staatliche Zuschüsse ausweiten – das waren und sind die vier großen Stellschrauben in der Rentenpolitik der letzten Jahrzehnte. Das kann man einer Sendung des Deutschlandradio Kultur entnehmen, die unter diese Überschrift gestellt wurde: Und in 50 Jahren ist alles vorbei? Die Zukunft der Rentenkasse. Ein Parcours-Ritt durch die Geschichte und Gegenwart der Gesetzlichen Rentenversicherung, der wichtigsten Säule der Alterssicherung. Und wenn man sich mit dieser beschäftigt, dann stößt man immer wieder auf zwei besonders herausgestellte Bewertungen: Da wird zum einen damit argumentiert, dass es noch nie einer Rentnergeneration so gut ging wie der heutigen – und das sei eben auch Ausdruck des Erfolgs der guten alten Tante Rentenversicherung, die ansonsten immer gerne in Grund und Boden geredet und geschrieben wird. Und parallel dazu läuft seit längerem ein Diskurs, der darauf abstellt, dass in den vor uns liegenden Jahren die Altersarmut (wieder) erheblich ansteigen wird bzw. muss, denn innerhalb des Systems der Alterssicherung ist die  tragende Säule, also die gesetzliche Rentenversicherung, durch ständige Bauarbeiten an vielen Stellen beschädigt worden.

Vor allem die Rentenniveauabsenkung im Gefolge der „Rentenreformen“, vor allem der Einschnitte während der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder, werden hier ins Feld geführt. Die rot-grüne Regierung hatte damals das gesetzliche Versorgungsniveau bis 2030 um ein Fünftel abgesenkt. Und mit dem damaligen Bundesarbeitsminister Walter Riester untrennbar, auch namentlich verknüpft ist der Vorstoß in die kapitalgedeckte individuelle Alterssicherung – Stichwort „Riester-Rente“ -, mit der eine Kompensation der Rentensenkungen im umlagefinanzierten Teil der Alterssicherung versprochen wurde.

Das alles hat sich als ein grandioser Irrtum erwiesen, wie Karl Doemens in seinem Leitartikel Auf dem Weg in die Altersarmut herausgearbeitet hat:

»Um die sinkenden Renten im Alter auszugleichen, müssten hundert Prozent der Beschäftigten jeweils vier Prozent ihres Gehalts in einen Riester-Vertrag stecken, der sich bei zehnprozentigen Verwaltungskosten Jahr für Jahr mit vier Prozent verzinst. So unterstellt es die Bundesregierung kurzerhand in ihrem jährlichen Rentenversicherungsbericht. Eine Utopie.
Tatsächlich dümpelt der Garantiezins bei 1,25 Prozent, die Kostenquote beträgt oft zwölf bis 15 Prozent, und von den 34 Millionen künftigen Rentnern zahlen nur 6,4 Millionen die vollen vier Prozent in einen Riester-Vertrag ein. Zwar haben im Westen Deutschlands viele ältere männliche Beschäftigte in der Industrie oder dem Bankgewerbe noch eine Betriebsrente. Doch laut einer ministeriellen Studie wird ein Drittel der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten künftig alleine auf die schrumpfende gesetzliche Rente angewiesen sein.«

Dabei war der Systemwechsel durchaus anders geplant gewesen. Riester wollte ein Obligatorium für die private Altersvorsorge installieren. Wieder einmal war es wohl die BILD-Zeitung, die diesem Vorhaben ein jähes Ende bereitet hat: »Für die Altersvorsorge in Deutschland aber war der 17. Juni 1999 ein schicksalhafter Tag. „Auch das noch! Riester plant Zwangsrente“, titelte die „Bild“-Zeitung und löste in der Regierung Panik aus. Die Grünen rebellierten, der Kanzler sah eine „Wut-Welle“ heranrollen. Eilig stoppte Gerhard Schröder die Pläne seines Sozialministers für eine verpflichtende Zusatzvorsorge.« Unabhängig von der eigenen Positionierung den Sinn und Unsinn einer kapitalgeeckten individuellen Altersvorsorge, mit erheblichen Steuermitteln gepampert, betreffend – der Verzicht auf eine obligatorische private Altersvorsorge kann und muss durchaus als Geburtsfehler der rot-grünen Rentenreform identifiziert werden.

»Stattdessen kam eine freiwillige Lösung, die nun dazu führt, dass aus sozialpolitischer Sicht zu wenige einen Vertrag abschließen«, so der Volkswirt Gert Wagner vom DIW, zugleich Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung, der diese in Rentenfragen berät, in einem Interview mit der Überschrift „Riester-Rente funktioniert nicht“.

Auch Wagner kommt zu diesem Befund: »Für viele Niedrigverdiener lohnt sich die Riester-Rente nicht. Selbst wenn einige ein ganzes Arbeitsleben sparen, kommen sie am Ende nicht über die Grundsicherung.« Er plädiert für eine  Abschaffung der staatlichen Zulagen, die dann nur noch an die Altfälle ausgezahlt werden würde. Wagner: »Für viele Niedrigverdiener lohnt sich die Riester-Rente nicht. Selbst wenn einige ein ganzes Arbeitsleben sparen, kommen sie am Ende nicht über die Grundsicherung.« Sein Alternativvorschlag – zugleich ein Hinweis darauf, welche Rentendebatte uns in der zweiten Jahreshälfte bevorsteht, denn genau daran versucht sich die heutige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles bereits mit ersten Entwürfen: »Man sollte die betriebliche Altersvorsorge ausbauen. Damit können alle Beschäftigten obligatorisch erfasst werden, die einem Tarifvertrag angehören.« Und das wären zumindest mehr als heute einen Riester-Rentenvertrag unterschrieben haben.

Zurück zu dem, was damals passiert ist: Für alle (zukünftigen) Rentner wurde das Versorgungsniveau in der Gesetzlichen Rentenversicherung verpflichtend abgesenkt – was natürlich die unteren Einkommensgruppen relativ gesehen viel stärker trifft als die mit höheren Rentenansprüchen. Aber genau die unteren Einkommensgruppen sind diejenigen, die die staatliche Förderung des Aufbaus einer individuellen, kapitalgedeckten Alterssicherung am wenigstens bis gar nicht in Anspruch genommen haben. »Die … Einbußen für künftige Senioren sollten durch die Erträge aus einer neuen kapitalgedeckten Vorsorgesäule ausgeglichen werden. Doch während die Kürzungen im Gesetzbuch festgeschrieben wurden, basiert die Kompensation auf dem Prinzip Hoffnung: Finanzielle Anreize durch Zulagen und Steuervergünstigungen sollen die Bürger zum Sparen bringen«, so auch Karl Doemens. Die Hoffnungen, die man mit diesem Systemwechsel verbunden hatte – Systemwechsel deshalb, weil die staatliche Förderung der privaten Altersvorsorge nicht als zusätzliche Ergänzung zum bestehenden System ausgelegt war, sondern Einschnitte in dieses kompensieren sollte -, haben sich auch deshalb zerschlagen, weil die Annahmen, mit denen man die Kompensationshoffnung grundiert hatte, mittlerweile wie die Butter in der Sonne dahingeschmolzen sind. Der Volkswirt Reinhold Thiede, bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zuständig für Forschung und Entwicklung, wird in einem Radiobeitrag (Und in 50 Jahren ist alles vorbei? Die Zukunft der Rentenkasse) mit den folgenden Worten die damalige Situation bei Einführung der Riester-Rente beschreibend:

»Das achte Weltwunder des Zinseszinseffektes wurde beschworen, es wurden Rendite unterstellt von Kapitalanlagen von acht Prozent in gewissen Modellen, von Wissenschaftlern, die heute noch bekannt sind und die einen guten Namen haben.«

Zurück zum Thema Altersarmut. Denn in der aktuellen Diskussion wird immer darauf hingewiesen, dass Altersarmut derzeit „kein Problem sei“. Zwar befinden sich gut 500.000 Menschen in der Grundsicherung für Ältere (vgl. dazu auch meinen Blog-Beitrag Sie wächst und wird weiter wachsen – die Altersarmut. Neue bedrückende Zahlen am Anfang einer bitteren Wegstrecke vom 4.11.2014), aber das seien „nur“ gut drei Prozent der Älteren. Für einen kritischen Blick auf die in der aktuellen Debatte immer wieder behauptete Nicht-Existenz von Altersarmut heute vgl. auch meinen Blog-Beitrag Elfenbeinturm pur: „Altersarmut existiert in Deutschland praktisch nicht“. Und dann spielt Biedermann wieder mal mit den Brandstiftern: Eine „Diktatur der Rentner“ sei ante portas vom 22.02.2015).

Unabhängig von der gerade bei Älteren ausgeprägten Nicht-Inanspruchnahme rechtlich eigentlich zustehender Grundsicherungsleistungen stellt sich natürlich die Frage, ob diese Teilgruppe wirklich „Altersarmut“ adäquat abzubilden in der Lage ist.

Für eine neue Übersicht über die Diskussion der Bestimmung von Altersarmut vgl. auch diese neue Publikation aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung:

Johannes Geyer: Grundsicherungsbezug und Armutsrisikoquote als Indikatoren von Altersarmut. Berlin, April 2015

Vor diesem Hintergrund und aufgrund der in die Rentenformel eingebauten Mechanik der Bestimmungsfaktoren der Rentenhöhe ist eines auf alle Fälle sicher: Ceteris paribus wird es zu einer stetigen und sich beschleunigenden Entwicklung der Altersarmut kommen. Selbst Ökonomen, die zu der Gruppe gehören, von der Reinhold Thiede in seinem Zitat gesprochen hat, müssen das konstatieren, wie beispielsweise die Schlüsselfigur beim Umbau der der Alterssicherungssysteme, Bert Rürup, der sich in einem Interview („Die Lebensversicherer haben ein dickes Problem“) zum Thema (drohende) Altersarmut äußert:

»Altersarmut ist … derzeit – zum Glück – noch kein gesellschaftlich relevantes Problem. Allerdings gibt es Anzeichen, dass die Risiken steigen.«

Rürup sieht vor allem zwei Risikofaktoren:

»Die Absenkung des gesetzlichen Rentenniveaus spielt sicher auch eine Rolle. Wichtiger ist allerdings, dass sich die Erwerbsbiographien der Menschen im Vergleich zu früher deutlich gewandelt haben … Die Lohnspreizung und die Teilzeitbeschäftigung haben zugenommen. Es gab eine Destandardisierung der Erwerbsverhältnisse – Stichwort Solo-Selbstständige -, und für Bezieher des Arbeitslosengelds II werden keine Beiträge gezahlt. Gerade in den neuen Ländern haben sich diese durchbrochenen Erwerbsbiografien auch in die Rentenbiografien eingefräst. Da sind Altersarmutsprobleme vorprogrammiert.«

Bevor hier abschließend Hinweise gegeben werden, was denn nun mit Blick auf das System an Alternativvorschlägen diskutiert wird, sei an dieser Stelle auf einen anderen Zugang zum Thema Altersarmut hingewiesen, der wesentlich konkreter und fassbarer und auch realistischer daherkommt. Nehmen wir aus der Vielzahl der vorliegenden Berichte diesen hier: Das Leid wohnt nebenan. Altersarmut in der Kreisstadt. Und hier geht es nicht um zukünftige und mögliche und umstrittene Entwicklungen, sondern um die Gegenwart, die vor allem die wahrnehmen, die mit armen alten Menschen arbeiten: »Verwahrloste Wohnungen, in denen es kaum Essen und kein Telefon gibt, alte Menschen, die seit Jahren nicht beim Arzt waren, vereinsamte Senioren ohne jeden Kontakt zur Außenwelt: So präsentiert Marion Eisler, seit 35 Jahren fürs Diakonische Werk, die Kirche, den Betreuungsverein und die Ahrweiler Tafel aktiv, das hässliche Gesicht der Altersarmut in Bad Neuenahr-Ahrweiler.«

Der Artikel berichtet über die Arbeit von Marion Eisler in einer rheinland-pfälzischen Kurstadt, die schon seit langem einen überdurchschnittlichen Anteil an älteren Menschen hat – von den rund 28.000 Einwohnern sind heute 10.563 über 60 Jahre alt. In den kommenden drei Jahren kommen 1.430 hinzu. Von den 369 Personen, die derzeit Sozialhilfe nach SGB XII erhalten, sind rund 200 über 60 Jahre alt sind. Auch hier: Tendenz steigend:

»Die Kurstadt, die bebaut ist mit Stadtvillen für Gutbetuchte, bietet so gut wie keinen bezahlbaren Wohnraum für Senioren, die Grundsicherung nach SGB XII – auch Hartz IV für Ältere genannt – beziehen. Das heißt im Klartext: 399 Euro monatlich plus eine Miete, die jedoch höchstens 295 Euro betragen darf, was bei maximal 50 Quadratmetern einem Preis von 5,90 Euro pro Quadratmeter entspricht. Es gibt keine Beihilfen mehr für Kleidung, Schuhe, Renovierung, Brillen, Fahrten zum Arzt oder beispielsweise kaputt gegangene Haushaltsgegenstände. Stirbt der Partner, muss binnen sechs Monaten der Betroffene, bei dem das Geld nicht reicht, in eine „angemessene“ Wohnung ziehen. „Womit wir wieder beim nicht vorhandenen Angebot plus der derzeitigen Situation, dass jeder Meter Wohnraum für Flüchtlinge benötigt wird, sind“, so Eisler zum Teufelskreis … Welche Lawine gerade erst anrollt, das machte Eisler klar: Langzeitarbeitslose werden ebenso in der Grundsicherung landen, wie Menschen mit geringem Einkommen. Selbst der Mindestlohn von 8,50 Euro reicht nicht aus und wird im Alter dorthin führen. „Alle Aufstocker, also Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, durch Niedriglöhne aber Leistungen vom Jobcenter erhalten, gehen in die Grundsicherung. Die, die Kinder erzogen haben, also immer noch schwerpunktmäßig Frauen, sind bedroht. Zwangsverrentungen durch das Jobcenter, also vorzeitige Altersrente mit Abschlägen mit 63 Jahren, kommen in Frage. Wir können uns anhand der Arbeitslosenstatistik ausrechnen, was da auf uns zukommt.“«

Natürlich stellt sich auch hier, gerade hier vor Ort, die Frage nach: Was tun?

„Wir, die täglich mit Menschen in Not zu tun haben, wissen, dass aus der materiellen Armut oft auch eine soziale Armut entsteht. Manche wissen nicht, dass sie Anträge stellen können oder sind nicht in der Lage, sie auszufüllen. Viele schämen sich und nehmen keine Hilfe in Anspruch. Mein Appell: Schauen Sie links und rechts in Ihrer Nachbarschaft genau hin. Kümmern Sie sich“, forderte Eisler auf.
Für sie ist die Einführung eines „Topfes für aktive Hilfe“ unabdingbar. „Ich fände es schön für eine Stadt mit solch unermesslichem Reichtum, wenn die Solidargemeinschaft in diesen Topf einzahlt für die, die aus dem Leben geschmissen wurden. Das stünde einer Stadt wie unserer gut zu Gesicht.“

Und wie es vor Ort auch aussehen kann für ältere Menschen in Armut, verdeutlicht dieser Bericht aus einer – von oben betrachtet – sehr reichen Stadt. Also München: Abgewiesen vom Amt, so hat Sven Loerzer seinen Artikel überschrieben: »Weit mehr als ihr halbes Leben hat eine 78 Jahre alte Münchnerin in derselben Wohnung verbracht. Doch jetzt hätte nicht viel gefehlt, dass die Frau, die seit 1959 dort lebt, obdachlos geworden wäre – und zwar ohne eigenes Verschulden. Beim zuständigen Sozialbürgerhaus fand sie zunächst kaum Hilfe und Unterstützung, sondern fühlte sich im Gegenteil drangsaliert.«

Zurück auf die große Bühne der Riester- und sonstigen Renten. Doemens, mit dessen kritischen Leitartikel wir begonnen haben, berichtet über zwei konträre Lösungsvorschläge aus den Reihen der Oppositionsparteien:

»Die Linke möchte die drohende Versorgungslücke einfach dadurch schließen, dass sie die Einschnitte der Rentenreformen zurücknimmt.« Diesen Ansatz hält er für nicht wirklich praxistauglich, denn so seine Einschätzung: »Nicht nur müssten dann nämlich Millionen Menschen, die auf staatliches Geheiß eine private Police abgeschlossen haben, neben ihren Prämien auch noch kräftig steigende Rentenbeiträge zahlen. Vor allem würden die Kosten komplett von den Älteren auf die Jüngeren abgewälzt.«

Also rüber zu den Grünen, die es dem Artikelschreiber schon deutlich mehr angetan haben:

»Sie fordern ein einfaches, kapitalgedecktes Basisprodukt zur Altersvorsorge unter öffentlich-rechtlicher Verwaltung. Wer sich nicht mit dem Vergleich unzähliger Angebote beschäftigen will, der könnte einen solchen Pensionsfonds erwerben, der ohne exzessive Vertriebskosten in Anleihen oder auch Aktien investiert, die im Augenblick wesentlich rentabler sind. In Schweden gibt es ein ähnliches Modell. Dort ist es sogar verpflichtend.«

Ob das schon als „revolutionäre Reformidee“ zu bezeichnen ist, wie das Doemens tut, sei hier mal dahingestellt. Aber er ist insofern realistisch, als er keinerlei Bewegung bei der Bundesregierung erkennen kann, auch nur Schritte in diese Richtung zu gehen. Er kommt zu einem pessimistischen Ausblick:

»Zwar hat das Haus von Sozialministerin Andrea Nahles kürzlich Sympathien für den Ausbau der betrieblichen Altersversorgung durch die Tarifparteien bekundet. Doch gerade in eher schlecht bezahlten Berufen wie der Pflege- oder Baubranche existieren praktisch keine Betriebsrenten. Weder soll es nun mehr Fördermittel noch eine Verpflichtung geben. So klingt das Ganze bislang eher nach weißer Salbe als nach einer entschlossenen Initiative. Mit den fragwürdigen Wahlgeschenken der Mütterrente und der Rente mit 63 hat die große Koalition nicht nur ihren finanziellen Spielraum verspielt. Es scheint, als habe sie auch jede Ambition im Kampf gegen die drohende Altersarmut aufgegeben.«

Dass Handlungsbedarf besteht, konstatiert selbst Bert Rürup, der maßgeblich beteiligt war an der Herbeiführung der jetzigen Strukturprobleme. Auf die Frage, was zu tun wäre, antwortet er:
»Eine Art Lebensleistungsrente wäre sinnvoll. Deutschland gehört zu den wenigen OECD-Ländern, in denen Geringverdiener bei der Festsetzung oder Anpassung ihrer Renten gleichbehandelt werden wie Durchschnitts- oder Besserverdiener. Durch die Lebensleistungsrente würde man eine gewisse Umverteilung zugunsten der Geringverdiener erreichen. Das halte ich für wichtig, auch aus Gründen der Legitimation unseres Rentensystems …  Ich gehe davon aus, dass die Regierung noch in dieser Legislaturperiode eine Lebensleistungsrente, eine Solidarrente – oder wie immer Sie es nennen wollen – einführt.« Schauen wir mal.

Dafür ist Geld da. Die Riester-Rente und ihre Förderung, die wirkliche Wirklichkeit der Zahlen und das offensichtliche Unvermögen, mit Scheitern umgehen zu können

Also normalerweise ist es ja so, dass die Haushaltspolitiker versuchen, zukünftige Ausgaben klein zu rechnen oder zu verschieben. Da werden dann Annahmen gemacht, die so konstruiert sind, dass die daraus resultierenden Kosten geringer ausfallen als es dann tatsächlich kommt. An so etwas ist man gewöhnt. Aber den umgekehrten Fall findet man weitaus seltener. Die Kalkulation der Steuermittel für die Riester-Rentenförderung folgt offensichtlich diesem Ausnahmemuster. »Die Ausgaben für die staatliche Förderung der Riester-Rente werden nach Angaben der Bundesregierung bis 2019 voraussichtlich um rund 920 Millionen Euro steigen. Nach 2,41 Milliarden Euro im vergangenen Jahr rechnet der Arbeitskreis Steuerschätzung für 2019 mit Aufwendungen an Altersvorsorgezulagen von 3,3 Milliarden Euro«, kann man dem Artikel Förderung der Riester-Rente steigt bis 2019 entnehmen – und schreibt damit eine lange Geschichte der Fehlkalkulation fort, wie wir noch sehen werden.

Der Aufbau einer staatlich geförderten zusätzlichen Altersvorsorge (Riester-Rente) war und ist ein Kernstück der Rentenreform 2001 – neben der deutlichen Schwächung der gesetzlichen Rentenversicherung im Umlageverfahren durch die massive Absenkung des Rentenniveaus sowie einer „Dämpfung“ des eigentlich vorzunehmenden Rentenanstiegs durch Eingriffe in die Rentenanpassungsformel. Die Förderung wird in Form von Zulagen und einem zusätzlichen Sonderausgabenabzug ausgezahlt, wobei die Deutsche Rentenversicherung für die Abwicklung der staatlichen Förderung zuständig ist. Nun wurde in den vergangenen Jahren immer öfter auch kritisch berichtet über Sinn und Unsinn der unterschiedlichen Formen der Riester-Rente und ihrer Förderung, wobei sich diese Debatten in der Regel auf Fragen der „Rendite“ dieser kapitalgedeckten Form der privaten Altersvorsorge bezogen haben und beziehen. Offensichtlich hat die kritisch-ablehnende Perspektive ihre Wirkung entfalten können – denn die Inanspruchnahme dieser geförderten Form der Altersvorsorge schwächelt doch ganz erheblich, um das mal nett zu formulieren.

Ein erster flüchtiger Blick auf die Zahlen scheint hingegen eine „Erfolgsgeschichte“ anzuzeigen: Im Sommer des Jahres 2014 »wurden fast genau 16 Mio. Riester-Verträge gezählt. Die Versicherer liegen mit knapp 10,9 Mio. Policen unangefochten auf dem ersten Platz. Gefolgt von den Fondsgesellschaften mit gut 3 Mio. Verträgen. Nahezu 1,3 Mio. Menschen  wohnriestern und gut 800.000 Riester-Verträge konnten Banken und Sparkassen an die Vorsorgeenthusiasten bringen.« Aber die wirkliche Wirklichkeit sieht anders aus, man kann nicht nur davon sprechen, dass das Riester-System schwächelt, sondern man muss sagen, »dass es an die Wand gefahren ist, denn seit dem Jahr 2011 ist klar erkennbar, dass die Zahl der neuen Verträge stagniert und die Wachstumsgeschichte vorbei ist: Im Jahr 2007 wurden mit fast 2,1 Mio. Policen die meisten Riester-Verträge neu abgeschlossen. Im Jahr 2013 hingegen haben sich nur noch 453.000 Menschen neu für das „Riestern“ entschieden und unter Berücksichtigung der Vertragsabgänge kann man erkennen, dass sich bei der Zahl der Verträge seit 2011 nichts mehr bewegt.« Außerdem muss man berücksichtigen, dass knapp 20 Prozent der Verträge ruhend gestellt sind und damit nicht (mehr) bespart werden.
»Nur auf 12,7 Millionen werden noch Beiträge eingezahlt … Nur 6,4 Millionen Versicherte zahlen den vollen Satz von 4 Prozent des Bruttoeinkommens ein, nur sie bekommen die volle Zulage – vier Millionen Frauen und 2,4 Millionen Männer. Hier hatte sich die Bundesregierung deutlich mehr Zuspruch erhofft, denn insgesamt könnten hierzulande 35,7 Millionen Menschen riestern«, so Kerstin Schwenn in ihrem Artikel Die Deutschen „riestern“ viel zu wenig.

Von den Beschäftigten werden mit Blick auf die Gesamtzahl der Riester-Verträge etwas mehr als ein Drittel erreicht – was aber eben auch heißt, dass zwei Drittel nicht partizipieren werden können von dieser ja eben nicht zusätzlichen Säule der Alterssicherung, denn die Zahlungen aus der Riester-Rente sollen ja – so der ursprüngliche Plan der rot-grünen Bundesregierung bei der Rentenreform um die Jahrtausendwende – die Absenkung des Rentenniveaus in der eigentlichen Rentenversicherung wieder kompensieren für die Betroffenen. Was natürlich bei solchen (Nicht-)Inanspruchnahmequoten auch nicht annähernd gelingen kann. Der Vollständigkeit halber sei noch hinzugefügt, dass aus sozialpolitischer Sicht besonders erschwerend hinzu kommt, dass die Haushalte, die über sehr niedrige oder durchschnittliche Einkommen verfügen, was sich dann ja auch über die Rentenformel abbilden wird in der Höhe der Leistungen aus der 1. Säule der Alterssicherung, eine überdurchschnittliche Nicht-Inanspruchnahme aufweisen, anders gesagt: Je wohlhabender die Haushalte, desto größer ist der Mitnahmeeffekt der staatlich geförderten Riester-Rente. Dass viele Versicherte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gar keine „Rendite“ aus ihren Sparmodellen erhalten werden, weil sie das dafür erforderliche Alter nicht erreichen werden oder dass die einzigen, die wirklich bislang profitiert haben, der finanzindustrielle Komplex war, wurde und wird auch immer wieder berichtet, so dass in der Gesamtschau bei vielen, die vorher dem Staat vertraut haben, dass er in ihrem Sinne handeln wird, wenn er so etwas einführt, nicht mehr glauben und dann lieber verzichten auf irgendeine Förderung.

Aber das alles lässt die Bundesregierung völlig kalt, wenn es um die Kalkulation der (angeblich) in Zukunft erforderlichen Steuermittel geht. Sie glaubt an den Erfolg der Riester-Story. Wie ein uneinsichtiger Wiederholungstäter werden sich auch die nun vorgelegten Zahlen in Rauch auflösen. Darauf hat dankenswerterweise der Bundestagsabgeordnete Markus Kurth von den Grünen auf der Basis einer Anfrage an die Bundesregierung hingewiesen, die ihm nun geantwortet hat.
Er hat sich die Zahlen geben lassen, wie sich realen Ausgaben für die steuerliche Förderung der Riester-Renten, also die Altersvorsorgeaufwendungen, entwickelt haben – und das dann verglichen mit den kalkulierten Steuermitteln für die staatliche Förderung, wie sie in den Steuerschätzungen der Jahre 2009 bis 2012 in Ansatz gebracht worden sind. Das Ergebnis verdeutlich eindrucksvoll die Abbildung. Man ist fast schon geneigt, etwas blumig zu bilanzieren: Wie eine Herde wilder Pferde stürmen die Steuerschätzer immer wieder in unerreichbare Regionen des Bedarfs an Steuermitteln für die Riester-Förderung – und werden dann von der Realität der tatsächlichen Inanspruchnahme eingeholt. Offensichtlich aber – siehe die Abbildung – gibt es keinen erkennbaren Lerneffekt. Der grüne Abgeordnete wird hinsichtlich der von ihm kritisierten Schönrechnerei zitiert mit den Worten: „Seit Jahren gibt sich die Bundesregierung der Illusion hin, dass die Riester-Rente immer beliebter wird.“

Nun könnte man an dieser Stelle kopfschüttelnd ob der (letztendlich nicht nur) rechnerischen Merkwürdigkeiten den Beitrag schließen. Dennoch kann und muss man weiterdenken. Denn offensichtlich sind wir konfrontiert mit einem grandiosen Scheitern des bestehenden Systems der staatlichen Förderung der privaten Altersvorsorge, die ja – bei allem Zurückbleiben hinter den hochgerechneten Erwartungen – jedes Jahr gut 2,5 Mrd. Euro verschlingt, von denen viele Euros in den Taschen der Finanzindustrie hängen bleiben. Von 2002 bis 2014 wurde die Riesterrente insgesamt mit 27,4 Milliarden Euro aus Steuermitteln subventioniert. Und beharrlich erscheint das Unvermögen der Bundesregierung, aus der faktischen Entwicklung irgendwelche Konsequenzen zu ziehen. Davon abweichend gibt es unterschiedliche Positionierungen, wie es (nicht) weitergehen soll in diesem Bereich.

»Wer etwas gegen Altersarmut tun will, muss die Riesterförderung endlich stoppen und die gesetzliche Rente stärken. Denn Riestern kann und wird den Niedergang der gesetzlichen Rente nicht ausgleichen«, so der Bundestagsabgeordnete Matthias Birkwald von den Linken in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau unter der Überschrift Die Riesterrente ist ein kolossaler Flop. Seine Diagnose deckt sich mit der Kritik vieler anderer:

»Schon im März 2008 begründete die Linke ihren Antrag mit dem Titel „Riesterrente auf den Prüfstand stellen“ wie folgt: „Tatsächlich wird das Gesamtversorgungsniveau aus gesetzlicher Rente und Zusatzvorsorgeleistungen aus der Riesterrente in Zukunft nicht einmal jenes Sicherungsniveau erreichen, welches vor der ,Riesterreform‘ allein aus der gesetzlichen Rente geleistet wurde.“ Das war damals schon wahr und die aktuellen Zahlen aus dem Rentenversicherungsbericht 2014 bestätigen das noch einmal eindrücklich: Zwischen 2000 und 2014 sank das Sicherungsniveau der gesetzlichen Rente vor Steuern von 53 auf 48 Prozent und wird 2028 auf 44,4 Prozent geschrumpft sein. Selbst mit Riesterrente und – das sei hinzugefügt – unter völlig unrealistischen Annahmen von vier Prozent Verzinsung und Verwaltungskosten von zehn Prozent werden wir dann nur bei einem Gesamtsicherungsniveau von 50,6 Prozent angekommen sein. Zwischen 2014 und 2028 sollen laut der Bundesregierung die Löhne um 51,3 Prozent steigen, die gesetzliche Rente aber nur um 39 Prozent.

Im Klartext: Die Kürzungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel verschärfen den Niedergang der gesetzlichen Rente Jahr für Jahr. Riestern kann und wird den Niedergang der gesetzlichen Rente nicht ausgleichen.«

So weit, so bekannt und grundsätzlich auch richtig. Was aber tun? Birkwald plädiert in seinem Beitrag für ein 3-Punkte Programm:

»Erstens: Die staatliche Riesterförderung wird gestoppt. Wer heute schon einen Riester-Vertrag hat, soll die bisher angesparten Gelder reibungslos und freiwillig auf sein persönliches Rentenkonto bei der Deutschen Rentenversicherung einzahlen können.

Zweitens: Die in den kommenden Jahren vorgesehenen jährlichen 3,5 Milliarden Euro Riesterförderung werden zur Stabilisierung des gesetzlichen Rentenniveaus eingesetzt. Damit ließe sich dauerhaft eine zusätzliche Rentenerhöhung von 1,5 Prozent finanzieren.

Drittens: Die Kürzungsfaktoren werden aus der Rentenanpassungsformel gestrichen und die Rückkehr zu einem angemessenen und lebensstandardsichernden Rentenniveau vor Steuern in Höhe von 53 Prozent wird langfristig durch eine jährliche moderate Beitragssatzerhöhung finanziert. «

Am eher anderen Ende sind dann Positionen zu verorten wie des Vorsitzenden der CDU-Sozialausschüsse, Karl-Josef Laumann: Es müsse darüber diskutiert werden, wie die Riester-Rente profitabler werde. Eine Option sei, die private Altersvorsorge verpflichtend einzuführen. Darüber würde sich die Finanzwirtschaft sicher sehr freuen, denn die, so Schwenn in ihrem Artikel, »sorgt sich ums Geschäft, weil gerade die Jüngeren mit eher niedrigen Einkommen zögern, einen Vorsorgevertrag abzuschließen.«

Und die Grünen? Der bereits erwähnte Bundestagsabgeordnete Markus Kurth wird in dem Schwenn-Artikel so zitiert: »Kurth sagt, viele fürchteten, dass sie im Alter ohnehin nur die staatliche Grundsicherung bekämen – auf die das Riestern angerechnet werde. Nur jeder Fünfte mit einem Haushaltseinkommen von weniger als 1200 Euro sorge „riestergefördert“ vor. Kurth fordert als Anreiz, die Einführung eines Freibetrages bei der Grundsicherung zu prüfen. „Das wäre eine Lösung“, sagte er. „Allerdings eine teure, denn den Freibetrag müsste man wohl auch für die gesetzliche Rente gewähren.“ Geringverdiener sollten jedenfalls höhere Zulagen bekommen. Außerdem müssten Riester-Produkte transparenter werden.«

Der eigentliche weiterführende Vorschlag von ihm kommt dann: „Wir könnten uns auch ein neues Riester-Basisprodukt vorstellen, gespeist aus einem öffentlichen Fonds, öffentlich administriert und gemanagt durch die Deutsche Rentenversicherung – so ähnlich wie in Schweden“, sagte Kurth.
Zu diesem Ansatz vgl. auch Markus Kurth: Private Altersvorsorge stärken! Das Basisprodukt in öffentlich-rechtlicher Hand, 23.12.2014. Der Referenzpunkt für dieses „Grüne Basisprodukt“ die 3. Säule des Alterssicherungssystems betreffend sind offensichtlich die Erfahrungen, die man in Schweden gesammelt hat. Dazu kann man dem Kurth-Papier entnehmen:

»Beim skandinavischen Modell des staatlichen Vorsorgefonds investieren die Verbraucherinnen und Verbraucher einen Teil ihres Einkommens in staatliche Fonds. Diese sind ausschließlich den Anlageinteressen der Vorsorgenden gewidmet. Information, Kontrolle und Standards bei der Anlage werden groß geschrieben. In Schweden, wo die so genannte Premiepension von einer neu geschaffenen Behörde verwaltet wird, wählt der oder die Versicherte gemäß der individuellen Risikobereitschaft und auf der Grundlage verlässlicher Informationen aus einem überschaubaren Pool von staatlich geprüften und zertifizierten Produkten aus. Die jährlichen Kosten betragen lediglich etwa ein Zehntelprozent des verwalteten Vermögens.«

Aus dem Bundesarbeitsministerium hört man dazu – wie zu vielen anderen Baustellen in der Sozialpolitik – nichts. Möglicherweise ist die Ministerin, Andrea Nahles (SPD) erschöpft bzw. stillgelegt nach Rentenpaket und Mindestlohn und/oder angesichts dessen, was auf sie noch zukommen wird – Stichwort Tarifeinheitsgesetz – bedient mit solchen Systemfragen. Aber vielleicht ist es auch ganz anders, denn man arbeitet ja bislang den Koalitionsvertrag ab und da steht eine weitere „Rentenreform“ (man mag diesen Begriff schon nicht mehr hören) drin: Die Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge. Möglicherweise will man da zeigen, was man „gelernt“ hat: Mehr in Richtung auf eine Verpflichtung zur Vorsorge marschieren, damit sich die Leute nicht so einfach entziehen können, den von der Riester-Ebbe „gebeutelten“ Versicherungsunternehmen und Banken neue Produktperspektiven eröffnen und dann auch noch durch Instrumente wie die Entgeltumwandlung weiter dazu beitragen, dass die Arbeitnehmer ihre „Betriebsrente“ letztlich selbst finanzieren und zugleich die eigenen Rentenansprüche aus der 1. Säule nach unten fahren. Möglicherweise heißt natürlich nicht hoffentlich. In diesem Fall gilt das ganz besonders.

Abb.: MdB Markus Kurth, Aufwendungen Altersvorsorgezulage in Mio. Euro

Rürup „rettet“ wieder mal die Rente. Fragt sich nur, welche

Bert Rürup war mal der sozialpolitische „Super-Berater“ in der deutschen Politik: 1992-2002 war er wissenschaftlicher Berater der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages Demografischer Wandel; 1996–1998 Mitglied der Kommission der Bundesregierung Fortentwicklung der Rentenversicherung; 1999-2001 Mitglied im Expertenkreis des Bundesarbeitsministers zur Vorbereitung der Rentenreform 2001, von 2000 bis 2009 Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung. Zeitgleich war er auch einer der so genannten „fünf Wirtschaftsweisen“: Denn ebenfalls im Jahr 2000 wurde er in den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung berufen, dessen Vorsitz er von März 2005 bis zu seinem Ausscheiden im Februar 2009 übernommen hat. Von April bis Dezember 2009 war Rürup Chefökonom beim Finanzdienstleister AWD des Carsten Maschmeyer, einer der schillerndsten Figuren der deutschen Finanzindustrie. Seine Aufgabe bestand u.a. in der Erschließung neuer Märkte für betriebliche und private Altersvorsorge. Gemeinsam mit dem AWD-Gründer Carsten Maschmeyer rief Rürup dann eine Beratungsgesellschaft für Banken, Versicherungen wie auch Regierungen ins Leben: die MaschmeyerRürup AG. Nach dreijähriger Tätigkeit ist er dann Ende 2012 aus diesem Unternehmen ausgeschieden, um sich wieder stärker der Wissenschaft zu widmen. Seit Januar 2013 leitet Bert Rürup als Präsident das Handelsblatt Research Institute, ein Ableger der Verlagsgruppe Handelsblatt. Und er produziert wieder Gutachten. Auch zur Rente.

Rürup hat maßgeblich die damaligen rot-grünen „Rentenreformen“ vorangetrieben, deren Auswirkungen heute an so vielen Ecken und Enden Probleme bereiten. Vor diesem Hintergrund ist es fast schon logisch, dass sich Rürup auch in der aktuellen Rentendebatte zu Wort meldet, die zumindest mit der „Rente mit 63“ einige „seiner“ Weichenstellung – wenn auch nur temporär – außer Kraft setzen will. Zugleich ist er wie andere Apologeten einer stärkeren kapitalgedeckten Altersvorsorge konfrontiert mit der Tatsache, dass die „Riester“- und „Rürup“-Renten, also die mit erheblichen Steuergeld gepamperte private Altersvorsorge aufgrund einer breiten kritischen Berichterstattung in den vergangenen Jahren wie aber auch angesichts der erheblichen Verwerfungen im Gefolge der Finanzkrise von 2008 zunehmend in Legitimationsschwieirgkeiten geraten ist, was natürlich schlecht ist für das Geschäft der Banken und Versicherungen. Vgl. hierzu nur als ein Beispiel von vielen die SWR-Reportage „Was tun für die Rente? Im Dschungel der Altersvorsorge„, die im Januar 2014 ausgestrahlt wurde.

Und solche aktuellen Meldungen beispielsweise sind Gift für das Geschäft: „Auch große Lebensversicherer sind gefährdet„: »Die Bundesfinanzaufsicht Bafin befürchtet bei einem Anhalten der aktuellen Niedrigzinsphase Probleme bei Lebensversicherern. Es könne durchaus auch größere Anbieter geben, die Probleme bekommen.«

Damit aber nicht genug. Denn große Aufgaben warten auf die Handelsreisenden in Sachen kapitalgedeckte Altersvorsorge – denn die Große Koalition hat sich die aus Sicht der Finanzindustrie  „wahre“ Rentenreform für die zweite Jahreshälfte aufgehoben. Werfen wir einen Blick in den Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. Dort findet man den folgenden aufschlussreichen Passus:

Private und betriebliche Altersvorsorge stärken
Die Alterssicherung steht im demografischen Wandel stabiler, wenn sie sich auf mehrere starke Säulen stützt. Deswegen werden wir die betriebliche Altersvorsorge stärken. Sie muss auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Klein- und Mittelbetrieben selbstverständlich werden. Daher wollen wir die Voraussetzungen schaffen, damit Betriebsrenten auch in kleinen Unternehmen hohe Verbreitung finden. Hierzu werden wir prüfen, inwieweit mögliche Hemmnisse bei den kleinen und mittleren Unternehmen abgebaut werden können. Wir werden auch im europäischen Kontext darauf achten, dass die guten Rahmenbedingungen für die betriebliche Altersvorsorge erhalten bleiben. (Koalitionsvertrag, S. 52)

Das muss jetzt schnell vorbereitet und mit Leben gefüllt werden, denn eine Umsetzung im Sinne einer erheblichen Ausweitung der staatlichen Förderung auf noch mehr Arbeitnehmer würde Milliarden-Steuermittel in die Kassen des finanz-industriellen Komplexes spülen.

In diesem Kontext muss man eine neue Studie einordnen, die von Rürups Handelsblatt Research Institute in Zusammenarbeit mit Prognos im Auftrag des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) erstellt wurde:

Handelsblatt Research Institute/Prognos (2014): Die Zukunft der Altersvorsorge. Vor dem Hintergrund von Bevölkerungsalterung und Kapitalmarktentwicklungen

Die Kernaussagen der Studie finden sich im Fazit – und damit auch die zentrale Stoßrichtung, um die es den Verfassern geht:

»Die Reformen der vergangenen Jahre im Bereich der Alterssicherung waren in der Sache richtig und zielführend. Die von der amtierenden Bundesregierung geplanten rentenpolitischen Maßnahmen stehen in großen Teilen den Zielen des nicht erst seit Anfang des Jahrtausends eingeschlagenen rentenpolitischen Kurses – zumindest für einen längeren Zeitraum – entgegen. Sie beeinträchtigen für mehr als zwei Jahrzehnte die finanzwirtschaftliche Stabilität der gesetzlichen Rentenversicherung. Eine Konsequenz wird sein, dass ohne eine weitere Anhebung der Bundeszuschüsse die Beitragssatzobergrenze von 22 Prozent bis zum Jahr 2030 nicht eingehalten werden kann. Zudem wird das Leistungsniveau stärker sinken als bei einer Fortschreibung des rentenrechtlichen Status ex ante.

Eine Kombination aus umlagefinanzierter und kapitalgedeckter Altersvorsorge kann für die nächsten Generationen am ehesten Alterseinkommen gewährleisten, die es erlauben, in etwa den in der Erwerbsphase gewohnten Konsumstandard auch im Alter aufrechtzuerhalten. Dabei wird die gesetzliche Rentenversicherung ungeachtet des noch zu erwartenden moderaten Rückgangs des Rentenniveaus weiterhin die bedeutendste Säule der Altersversorgung bleiben. Um aber von dem derzeitigen Anteil der kapitalgedeckten Rentenansprüche von weniger als 20 Prozent auf einen Anteil von etwa 30 Prozent zu kommen sind verbesserte Informationen und staatliche Anreize erforderlich.

Ohne eine Erhöhung des Verbreitungsgrads der staatlich geförderten privaten und betrieblichen Alterssicherung wird keine lebensstandardsichernde Versorgung breiter Bevölkerungsschichten möglich sein. Dabei sollte – nach den Erfahrungen, sowohl im Ausland wie auch hierzulande – gerade auch auf einen Ausbau der (kollektiven) betrieblichen Versorgungssysteme gesetzt werden.

Kurzfristig niedrige Zinsen sind kein mittel- und langfristig tragendes Argument gegen einen Ausbau des Drei-Säulen-Systems der Alterssicherung.

Die künftig zu erwartenden Renditen im Kapitaldeckungs- und im Umlageverfahren zeigen, dass nur ein Altersvorsorgemix eine sinnvolle und lebensstandardsichernde Absicherung gegen das Langlebigkeitsrisiko bietet.

Das Ausschöpfen von Anlagemöglichkeiten im Ausland und die internationale Diversifizierung über Anlagen in Titel international tätiger Unternehmen sollten daher vereinfacht werden.« (Handelsblatt Research Institute/Prognos 2014: 81)

Also zusammenfassend: Der Anteil der privaten, kapitalgedeckten Altersversorgung soll sogar noch angehoben werden (von 20 auf 30 Prozent), was natürlich angesichts der derzeitigen, aber auch für die nächsten Jahren absehbaren Niedrigzinswelt ein „ambitioniertes“ Unterfangen darstellt: Während man dem Niedrigzinsumfeld mit dem Zulassen riskanterer Anlagen im Ausland sowie in Aktien gegensteuern will, müssen mehr Kunden generiert werden für den Abschluss einer privaten Altersvorsorge. Wenn die Autoren scheinbar harmlos von einem „Ausbau der (kollektiven) betrieblichen Versorgungssysteme“ sprechen, dann meinen sie eine Zwangskollektivierung der Arbeitnehmer in betriebliche Altersvorsorgesysteme, beispielsweise nach dem „opt-out“-Modell statt dem heute gegebenen „opt-in“-Modell, was also bedeuten würde, dass alle erst einmal in eine betriebliche Altersvorsorge integriert werden, außer sie widersprechen ausdrücklich. Wenn man dann noch bedenkt, dass mittlerweile immer mehr Unternehmen zur „Entgeltumwandlung“ übergehen (vgl. kritisch dazu z.B. schon meinen Beitrag aus dem Jahr 2012), bei der die Unternehmen sparen, der Sozialversicherung Beitragseinnahmen entgehen und die Arbeitnehmer die volle Finanzierungslast zu tragen haben, dann wird klar, wohin die Reise gehen soll. Passen wir also auf im Herbst dieses Jahres – und vorher, wenn die Begleitmusik komponiert wird.