Jenseits der Einzelfälle: Die sich selbst beschleunigende Verwüstungsmechanik von abnehmender Tarifbindung im Einzelhandel, gnadenlosem Verdrängungswettbewerb und dem Hamsterrad der Personalkostenreduzierung. Plädoyer für eine Wiederherstellung der Ordnungs- und Schutzfunktion des Tarifsystems gegen die „Rutschbahn nach unten“ durch Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge

Regelmäßig werden wir konfrontiert mit Berichten über
problematische, in Teilbereichen nur als mies zu bezeichnende
Arbeitsbedingungen des Personals im Lebensmitteleinzelhandel. Immer wieder
Lohndumping-Versuche der Arbeitgeber in einer Branche, in der nicht einige wenige
Leute beschäftigt sind, sondern sehr viele Menschen, vor allem Frauen, mit
ihrer Hände Arbeit den Lebensunterhalt verdienen (müssen). Und auch immer ganz
vorne dabei die großen Discounter, aus denen dann den Medien Bruchstücke einer
Arbeitswelt zugespielt werden, die ziemlich wenig zu tun hat mit dem
Euphemismus „Jobwunder“, mit dem so gerne in Deutschland hantiert wird. Und
diese Berichte in den Medien haben in den zurückliegenden Jahren immer mehr
zugenommen und sie betreffen fast alle der auf diesem hart umkämpften Markt
tätigen Unternehmen. Netto, Lidl, Rewe, auch Edeka – um nur einige aufzurufen. Allein
in dieser Woche durchaus prominent platziert kritische Fernsehberichte über
Lidl (Lidl
als Arbeitgeber
vom 03.08.2015) im Wirtschaftsmagazin „WISO“ (ZDF) und nur
einen Tag später am 04.08.2015 im Politikmagazin „Report Mainz“ (ARD) der
Beitrag Rewe
in der Kritik: Wie durch den Verkauf der Märkte Arbeitnehmerrechte ausgehöhlt
werden
. Und immer sind es die gleichen Muster, mit denen die betroffenen
Arbeitnehmer/innen konfrontiert werden. Immer mehr Teilzeitverträge, immer
öfter nur Stundenkontingente und Arbeit auf Abruf und immer wieder: unbezahlte
Mehrarbeit. Zugleich kaum oder keine betrieblichen Mitbestimmungsstrukturen
bzw. da, wo es welche gab, wurden sie beseitigt im Zuge von „Privatisierungen“,
also der Übernahme von bislang konzerneigenen Filialen durch selbständige
Kaufleute.

In diesem Beitrag soll es nicht darum gehen, den seit Jahren
immer und immer wieder vorgetragenen Einzelfällen weitere hinzuzufügen, sondern
einen Schritt zurückzutreten und die letztendlich entscheidende Frage zu
stellen: Kann es jenseits der wichtigen und berechtigten Kritik an dem Verhalten
einzelner Unternehmen – die teilweise schon Änderungen bewirken kann, aber bei
anderen, z.B. dem Discounter Netto, so gut wie keinen Effekt zeigen – eine strukturelle
Lösung eines offensichtlich eben strukturellen, also die gesamte Branche
betreffenden Problems geben? Und warum tut sich auf dieser grundsätzlichen
Baustelle so wenig? Es geht also um die von mir in vielen Beiträgen in den
vergangenen Jahren, in denen über die gleichen Muster in unterschiedlichen
Unternehmen berichtet wurde, immer und immer wieder beschriebene „Rutschbahn
nach unten“, auf der sich die Arbeitsbedingungen im Lebensmitteleinzelhandel
befinden (müssen) und die Aufgabe, wenn schon nicht das Rad wieder zurückzudrehen in
die alte Welt, so doch zumindest den Neigungswinkel der Rutschbahn erheblich zu
verkleinern.

Wenn wir über den Lebensmitteleinzelhandel in Deutschland
sprechen, dann wird man mit einem überaus konzentrierten Markt konfrontiert.
Die Abbildung über die Verteilung der Marktanteile im Lebensmittelhandel
verdeutlicht, dass wir es mit einem – wie die Ökonomen sagen – sehr engen
Angebotsoligopol zu tun haben, also einige wenige marktstarke Anbieter stehen
vielen kleinen marktschwachen Nachfragern (den Verbrauchern) gegenüber. Eine
Marktform, die aus Wettbewerbsgründen mit größter Vorsicht und Argwohn zu
behandeln ist. Genau das ist Aufgabe des Bundeskartellamtes und die tun das
dann auch ganz praktisch, man denke hier aktuell an den Fall der beabsichtigten
Übernahme von 450 Filialen von Kaiser’s Tengelmann durch EDEKA, die Anfang
April dieses Jahres vom Bundeskartellamt untersagt wurde (vgl. hierzu Bundeskartellamt
untersagt Übernahme von Kaiser’s Tengelmann durch EDEKA
).

Das Kartellamt hatte im vergangenen Jahr eine
„Sektoruntersuchung Lebensmitteleinzelhandel“ veröffentlicht, in dem die
Verfasstheit dieses Marktes ausführlich beschrieben worden ist (vgl. dazu: Bundeskartellamt:
Sektoruntersuchung Lebensmitteleinzelhandel
. Darstellung und Analyse der
Strukturen und des Beschaffungsverhaltens auf den Märkten des
Lebensmitteleinzelhandels in Deutschland. Bericht gemäß § 32 e GWB – September
2014, Bonn). Aus der Kurzfassung
der Sektoruntersuchung:

»Durch die Konzentrationsentwicklungen der letzten Jahre ist
heute nur noch eine über- schaubare Zahl an Lebensmitteleinzelhändlern in
Deutschland tätig. Auf nationaler Ebene handelt es sich im Wesentlichen um die fünf
führenden Unternehmen Edeka, Rewe, Schwarz Gruppe (Lidl und Kaufland), Aldi und
mit Einschränkungen Metro. Auch der Discounter Norma verfügt über ein überregionales
Filialnetz … Auf die führenden Unternehmen Edeka, Rewe, Schwarz Gruppe und
Aldi entfallen deutlich mehr als drei Viertel aller Umsätze im
Lebensmitteleinzelhandel, die mit Endkunden in Deutschland erzielt werden.«

Die oftmals hoch problematischen Folgen des gewaltigen
Konzentrationsprozesses betreffen nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch die
Zulieferer, auf die ein gnadenloser Preis- und damit Kostendruck ausgeübt wird
(den sie oft nur an die eigenen Beschäftigten weitergeben können, wenn sie im
Markt bleiben wollen) und auch für die Verbraucher. Auch das wird von den Medien
aufgegriffen, vgl. beispielsweise die ZDF-Dokumentation Die
Macht von Aldi, Edeka & Co. Kundenkampf um jeden Preis
, die am
08.07.2015 ausgestrahlt wurde.
Hinsichtlich der Entwicklung der Arbeitsbedingungen in den
Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels muss man von einer Welt „vor“ und
einer „nach“ dem Jahr 2000 sprechen. Bis zum Jahr 2000 war die Welt des
Einzelhandels insgesamt und damit auch in diesem Teilbereich des
Wirtschaftszweigs relativ wohlgeordnet, in der Arbeitsmarktforschung hat man
von einer „stabilen Branche“ gesprochen. Und das hatte damit zu tun, dass bis
zu diesem Jahr eine flächendeckende Tarifsystematik über alle Unternehmen
vorhanden war, denn: Bis 1999 waren im Einzel- und im Großhandel nahezu alle Tarifverträge
für allgemeinverbindlich erklärt, die Lohn- und Gehaltsstruktur insgesamt, die Manteltarifverträge
und die Tarifverträge zu vermögenswirksamen Leistungen usw. Bis zum Jahr 1999
gab es einen Konsens zwischen Arbeitgeberverbänden des Einzelhandels und den damaligen
Gewerkschaften HBV und DAG, nach Unterzeichnung der Tarifverträge einen Antrag
auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu stellen.

Dieser Konsens wurde im
Jahr 2000 von der Arbeitgeberseite aufgekündigt. Das stand in einem
unmittelbaren Zusammenhang mit einer Spaltung der Arbeitgeberverbände, denn im
Jahr 2000 erfolgte die Abspaltung der BAG (Bundesarbeitsgemeinschaft der
Mittel- und Großbetriebe) als selbständiger Tarifträgerverband und dort wurde
die OT-Mitgliedschaft zugelassen, also eine Mitgliedschaft im Verband ohne
Tarifbindung. Peek und Cloppenburg war das erste große Handelsunternehmen, das
in die OT-Mitgliedschaft wanderte. Unter Zugzwang gesetzt führte dann auch der
HDE (Hauptverband des deutschen Einzelhandels) die OT Mitgliedschaft ein.
Übrigens: Diese Spaltung war nicht von Dauer: Ende 2009 war die BAG
wirtschaftlich am Ende, denn Karstadt als Hauptfinanzier der BAG konnte diese
nicht mehr finanzieren und der Mitgliederverlust war ein weiterer Sargnagel in
die Existenz dieses Verbandes. Seit dieser Zeit existiert als Tarifträgerverband
im Einzelhandel nur noch ein Arbeitgeberverband – der HDE Handelsverband Deutschland.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die Allgemeinverbindlichkeit
im Einzelhandel wurde Anfang des neuen Jahrtausends von den Arbeitgebern
zerstört, denn die OT-Mitgliedschaft stand im Widerspruch zur
Allgemeinverbindlichkeit, denn die betreffenden Unternehmen wollten sich ja
gerade aus der Tarifbindung verabschieden. Außerdem wurde das Erfordernis des
mindestens 50%-Anteils tarifgebundener Unternehmen durch den Austritt von
Unternehmen aus den Verbänden nicht mehr erreicht. Im Jahr 2000 wurde dann
seitens der Arbeitgeber der Konsens aufgekündigt, beantragte
Allgemeinverbindlichkeitserklärungen über die Arbeitgebervertreter im
Tarifausschuss abgelehnt und das bis dato bewährte Ordnungssystem im Einzelhandel
einem sich selbst beschleunigenden Zerstörungsmechanismus ausgeliefert. Dabei
lohnt es sich, noch einmal in die Zeit vor 2000 zurückzublicken, mit welchen
Argumenten man die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge gerechtfertigt
hat – und zwar von beiden Seiten, also Gewerkschaften und Arbeitgeber. Man wird
auf eine überaus moderne, weil heute hoch relevante Begründungslinie stoßen:
Danach ist der Einzelhandel eine Branche mit extrem hoher
Wettbewerbsintensität. Personalkosten spielen eine strategisch wichtige Rolle.
Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung dient dazu, dass nicht durch
Nichtbeachtung der Tarifverträge Personalkostenvorteile gegenüber
tarifgebundenen Konkurrenten erzielt werden können. Außerdem wurde gesehen, dass
darüber realisierte Personalkosteneinsparungen in eine Intensivierung des
Verdrängungswettbewerbs fließen würden.
Genau so ist es dann ja auch in den Jahren nach 2000
passiert.
Gabriel Felbermayr und Sybille Lehwald haben kürzlich eine
Studie veröffentlicht, aus der man ganz praktisch die Folgen gerade für die
Arbeitnehmer ablesen kann, die sich aus der abnehmenden Tarifbindung in der
Branche ergeben (Gabriel Felbermayr und Sybille Lehwald: Tarifbindung
im Einzelhandel: Trends und Lohneffekte
, in: ifo Schnelldienst, Heft 11/2015,
S. 33-40):

»Die Bedeutung der Kollektivverträge im Handel hat sich in
jüngster Zeit deutlich gewandelt: Seit 2000 hat sich der Anteil der Beschäftigungsverhältnisse,
die einem Tarifvertrag unterliegen, von knapp drei Viertel auf weniger als die
Hälfte verringert. Nur noch jeder dritte Betrieb verfügt über einen
Kollektivvertrag. Tarifgebundene Betriebe sind größer und älter als ungebundene
… und zahlen durchschnittlich 25 bis 32% höhere Löhne.«

Diese für die gesamte Branche ermittelten Werte decken sich
gut mit konkreten Erfahrungen, die man machen kann bzw. muss hinsichtlich der Verschlechterung
der Arbeitsbedingungen für Beschäftigte gerade im Lebensmitteleinzelhandel,
wenn Filialen, die bislang als Konzernfilialen geführt wurden, „privatisiert“,
also an selbständige Kaufleute abgegeben werden, die dann weiter unter dem
Namensdach des Konzerns segeln. Diese Umwandlung passiert gerade bei Rewe, Vorreiter
der Entwicklung ist aber EDEKA. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der
„Privatisierungsstrategie“ hat die Gewerkschaft ver.di 2012 veröffentlicht:

Ver.di Bundesverwaltung
(Hrsg.): Schöne
neue Handelswelt!? Ein Blick hinter die Kulissen des „privatisierten“ Handels
am Beispiel der Firma EDEKA
, Berlin 2012.

Auch hier wird immer wieder
von Einkommenseinbußen in Höhe von 20 bis 30 Prozent gegenüber vorher
berichtet. Hinzu kommen weitere deutliche Verschlechterungen der
Arbeitsbedingungen. Neben der Gestaltung der Arbeitsverträge gerade
hinsichtlich der Stundenvorgaben beobachtet man in aller Regel ein Verschwinden
der bereits vorher mehr als dünnen betrieblichen Mitbestimmungsstrukturen, denn
in den „privatisierten“ Märkten gibt es in aller Regel keinen einzigen
Betriebsrat.

Interessanterweise spielt
dieser Aspekt sogar eine Rolle in der ablehnenden Stellungnahme der
Monopolkommission hinsichtlich der beantragten Ministererlaubnis für eine
Übernahme der 450 Filialen von Kaiser’s Tengelmann durch EDEKA (vgl. herzu
Monopolkommission: Zusammenschlussvorhaben
der Edeka Zentrale AG & Co. KG mit der Kaiser’s Tengelmann GmbH.
Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 42 Abs. 4 Satz 2 GWB
. Bonn.
August 2015):

»Nach Ansicht der
Monopolkommission sind Vereinbarungen, mit denen ein Unternehmen den Erhalt
sämtlicher Arbeitsplätze verspricht, in tatsächlicher Hinsicht nicht geeignet,
den betriebswirtschaftlichen Zwängen, die gegebenenfalls einen Abbau von
Arbeitsplätzen erfordern, wirksam zu begegnen. Im vorliegenden Fall kommt
hinzu, dass eine Vereinbarung mit der Edeka Zentrale keine rechtliche
Bindungswirkung für die selbstständigen Einzelhändler, an die Filialen
übertragen werden sollen, entfalten würde. Darüber hinaus besteht die Gefahr,
dass das häufige Fehlen von Mitbestimmungsstrukturen in den privatisierten
Filialen zu Einschränkungen des gesetzlichen Arbeitnehmerschutzes in der Praxis
führen wird, wovon auch ältere Beschäftigte und solche mit einem hohen
Qualifikationsniveau betroffen wären.« (S. 49 f.)

Was also tun angesichts
dieser Entwicklungen und vor allem der bekannten Folgen, die sich in den vielen
Einzelfällen besichtigen lassen? Immer wieder einzelne Unternehmen vor das
zumeist kurzlebige Auge einer zu Recht skandalisierenden
Medienberichterstattung zu zerren, reicht offensichtlich nicht aus, denn die
Branche sitzt strukturell auf einer „Rutschbahn nach unten“, deren innere
Rationalität dazu führen muss, dass selbst „gut meinende“ Unternehmen gezwungen
sind, sich an dem Lohnkostensenkungsautomatismus zu beteiligen, wollen sie
nicht über kurz oder lang aus dem Markt gekegelt werden.
Systematisch gesehen ergeben
sich drei grundsätzliche Optionen, um die Tarifbindung der „alten Welt“ wieder
herzustellen bzw. wenigstens einige Aspekte der damit verbundenen Ordnungs- und
Schutzfunktion wieder herzustellen:

1.) Eine Rückkehr zu einer
umfassenden Tarifbindung von Unternehmen und Beschäftigten, wie es sie mal
gegeben hat – allerdings ist diese „beste“ Option unrealistisch, nicht nur
aufgrund der massiven Tarifflucht der Arbeitgeber, sondern auch aufgrund des
niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrades der Beschäftigten in vielen
Dienstleistungsbereichen.

2.) Dann bliebe als „ große
mittlere Variante“ die Allgemeinverbindlichkeitserklärung gesamter
Branchentarifverträge bzw. als „kleine mittlere Variante“ die Allgemeinverbindlichkeit
eines Branchen-Mindestlohns als unterste Haltelinie, wobei die kleinere
Variante der AVE das Grundproblem hat, dass eben nur ein branchenspezifischer
Mindestlohn für alle gilt, nicht aber die gesamte Tarifvertragssystematik.

3.) Auf der untersten Ebene
steht dann das, was wie gerade erlebt haben, der Substitutionsversuch durch die
Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes. Das mag hier und da
ein wichtige und gute Verbesserung sein, birgt aber auch die übrigens derzeit
schon beobachtbare Gefahr, dass die Vergütungen abgesengt werden auf den
Referenzpunkt des Mindestlohns.
Vor diesem Hintergrund
drängt sich der Lösungsvorschlag auf, einen deutlichen Schritt „zurück“ zu
gehen und die Allgemeinverbindlichkeit der tarifvertraglichen Ordnung wieder
herzustellen. Und dafür gibt es durchaus im Grunde einen Ansatzpunkt: die
Allgemeinverbindlichkeitserklärung der Tarifverträge (AVE) auf der Basis des
Tarifvertragsgesetzes.  Aber warum
passiert dann an dieser Stelle nichts? Um das zu verstehen, muss man kurz
eintauchen in die Systematik und die Hürden einer
Allgemeinverbindlichkeitserklärung.
Der grundsätzliche Weg der
AVE läuft über das Tarifvertragsgesetz. Dazu gleich mehr. Daneben gibt es den
Weg über das Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG). Dieses seit 1996 vorhandene
Gesetz hatte das Ziel, dass ausländische Unternehmen an die tariflichen
Mindestarbeitsbedingungen (Entgelt, Urlaub, Urlaubsgeld) hier in Deutschland
gebunden werden sollten. Bis zum Jahr 2007 war lediglich das Bauhauptgewerbe
und das Baunebengewerbe vom Arbeitnehmerentsendegesetz erfasst. Bereits im Jahr
1998 gab es eine Neuregelung dieses Gesetzes, durch die eine bis dahin
bestehende Hürde beseitigt wurde, nämlich die Anforderung, dass die
tarifgebundenen Unternehmen mindestens 50 % der Beschäftigten der Branche
umfassen. Außerdem wurde geregelt, dass das BMAS durch Rechtsverordnung die AVE
eines Tarifvertrags herstellen kann – auch gegen den Willen der
Spitzenorganisationen der Arbeitgeber. Hierbei handelt es sich um einen ganz
entscheidenden Passus der ein Grunddilemma der AVE auflösen könnte.  Könnte deshalb, bei dieser Option bislang
noch nie genutzt wurde. Die AVE im Kontext des Arbeitnehmerentsendegesetzes
wurde in den Jahren nach 2007 vor allem für die Implementierung von
Branchen-Mindestlöhnen benutzt, also für die oben beschriebene „kleine mittlere
Variante“.
Der normale Weg eine
Allgemeinverbindlichkeitserklärung der tarifvertraglichen Strukturen im
Einzelhandel müsste über das Tarifvertragsgesetz laufen. Und an und für sich
könnte man meinen, dass die Voraussetzungen, diesen Weg zu gehen, durch die
große Koalition deutlich verbessert worden sind. Bereits in dem Koalitionsvertrag
vom Dezember 2013
haben sich die Unionsparteien und die SPD auf das
folgende Vorhaben unter der Überschrift „Allgemeinverbindlicherklärungen nach
dem Tarifvertragsgesetz anpassen und erleichtern“ verständigt:

»Das wichtige
Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) nach dem Tarifvertragsgesetz
bedarf einer zeitgemäßen Anpassung an die heutigen Gegebenheiten. In Zukunft
soll es für eine AVE nicht mehr erforderlich sein, dass die tarifgebundenen
Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages
fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Ausreichend ist das Vorliegen eines
besonderen öffentlichen Interesses. Das ist insbesondere dann gegeben, wenn
alternativ:
die
Funktionsfähigkeit von Gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien
(Sozialkassen) gesichert werden soll,
die AVE die
Effektivität der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen
wirtschaftlicher Fehlentwicklungen sichert, oder
die
Tarifvertragsparteien eine Tarifbindung von mindestens 50 Prozent glaubhaft darlegen.
Wir wollen, dass die, den
Antrag auf AVE stellenden Tarifvertragsparteien, an den Beratungen und Entscheidungen
des Tarifausschusses beteiligt werden können und werden prüfen, wie dies
umgesetzt werden kann.« (S. 48)

Und es ist nicht so, dass die
Große Koalition untätig geblieben wäre, denn mit dem
„Tarifautonomiestärkungsgesetz“, mit dem der allgemeine gesetzliche Mindestlohn
eingeführt wurde, hat man auch das 50%-Quorum abgeschafft und damit eine
bisherige Hürde auf dem Weg zur AVE. Allerdings bleibt es wie bei einem
beschwerlichen Hürdenlauf: Auch wenn eine Hürde weniger da ist, die nächste
baut sich unbezwingbar vor einem auf. Dazu genügt ein Blick in das
Tarifvertragsgesetz und hierbei konkret in den § 5 TVG. Dort heißt
es im Absatz 1:

»Das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales kann einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je
drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer
bestehenden Ausschuss (Tarifausschuss) auf gemeinsamen Antrag der
Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären, wenn die
Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint.«

Entscheidend ist hier die
Formulierung: „im Einvernehmen“ mit dem Tarifausschuss. Daraus resultiert eine
effektive Blockademöglichkeit einer wieder stärkeren Nutzung der AVE seitens
der Arbeitgeber, denn wenn die das im Tarifausschuss verweigern, dann wird
nichts passieren (können). Weil das BMAS hier eben nicht die Option hat, auch
gegen den Widerstand beispielsweise der Arbeitgeber einen Tarifvertrag für
allgemeinverbindlich zu erklären, wenn denn das öffentliche Interesse dafür
spricht – und das öffentliche Interesse wird definiert über zwei Merkmale:
Sicherung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und Wahrung der
Tarifautonomie. Gerade mit dem letzten Punkt könnte man angesichts der
Tarifflucht-Realitäten im Einzelhandel argumentieren.
Ein aktuelles und handfestes
Beispiel zu der Totalblockademöglichkeit seitens der Arbeitgeber kommt aus dem
Saarland (vgl. hierzu bereits meinen Blog-Beitrag
vom 16.07.2015
): Heftiger
Streit um Löhne in der Saar-Gastronomie
, so hat Joachim Wollschläger seinen
Artikel überschrieben.
Die Gewerkschaft Nahrung,
Genuss, Gaststätten (NGG) Saarland wirft der Vereinigung der saarländischen
Unternehmensverbände (VSU) vor, auskömmliche Gehälter zu verhindern. Was ist
passiert? Die NGG im Saarland wirft der VSU vor, sie »habe durch ihr Veto
verhindert, dass die Tarifverträge der unteren drei Entgeltgruppen im Hotel-
und Gastgewerbe nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden seien … Und das
nicht aus sachlichen Gründen, sondern nur aus Prinzip, um nicht im Saarland
Vorreiter zu werden, so der Vorwurf.«

Der Pressemitteilung der NGG
(VSU
betreibt rückwärtsgewandte Blockadepolitik
) kann man entnehmen:

»Die Tarifvertragsparteien
hatten unter anderem das Ziel, mit einem allgemeinverbindlichem
Einstiegsentgelt für Fachkräfte in Höhe von 9,40 €/h, die Attraktivität einer
Ausbildung im Gastgewerbe zu steigern und sicherzustellen, dass Fachkräfte
flächendeckend mehr Entgelt erhalten als den gesetzlichen Mindestlohn in Höhe
von 8,50 €/h. Mit dem ersten Einstieg in die AVE sollte außerdem ein fairer
Wettbewerb gewährleistet werden und dem öffentlichen Interesse nach einem
zukunftsfähigen Gastgewerbe Rechnung getragen werden. Die AVE der unteren 2
Entgeltgruppen sollte zudem eine Mindestentlohnung für Mitarbeiter im
Gastgewerbe ohne Ausbildung oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns
festschreiben.«

Man muss an dieser Stelle
besonders hervorheben: Im Vorfeld des Antrags auf
Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) – wohlgemerkt nicht des gesamten
Tarifvertrags, sondern der drei unteren Entgeltgruppen – hatte die Gewerkschaft
NGG gemeinsam mit dem Hotel- und Gaststättenverband Dehoga Saar einen
Tarifvertrag ausgehandelt und gleichzeitig beschlossen, diesen für die
untersten drei Entgeltgruppen für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Mit
dem Ziel, dass Fachkräfte deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt
werden. Es handelt sich also um eine konzertierte Aktion der beiden
Tarifvertragsparteien, nicht nur der Gewerkschaft.

Aber hier wird ein
systematisches Problem der Allgemeinverbindlichkeitserklärung offensichtlich.
Zwar hat man eine Hemmschwelle beseitigt, aber eben nur eine. Konkret am
Beispiel dessen, was im Saarland abläuft:

»Der Gesetzgeber hat zur
Erleichterung einer AVE zudem mit Wirkung zum 1. Januar 2015 die starre
Quotenregelung, wo nach 50 % der Beschäftigten einer Branche im
antragsstellenden Arbeitgeberverband organisiert sein müssen, zu Gunsten des
öffentlichen Interesses aufgegeben.
Leider wurde branchenfremden
Verbänden weiterhin eine Veto-Möglichkeit im Gesetz eingeräumt, wie sie die
Vereinigung saarländischer Arbeitgeberverbände (VSU) in der Anhörung zur AVE am
9. Juli 2015 im saarl. Wirtschaftsministerium, auch genutzt hat. DEHOGA-
Saarland und NGG haben im Rahmen der Anhörung ausführlich Stellung zum Antrag
bezogen. Beide Tarifvertragsparteien sind allerdings nicht stimmberechtigt, was
aus Sicht der NGG eine Sollbruchstelle im Gesetz darstellt«, so die NGG
Saarland in ihrer Pressemitteilung.

Fazit: Wenn die
Bundesregierung dabei bleibt, nur das 50%-Quorum abzuschaffen, nicht aber die
überaus harte und hohe Hürde des Einvernehmens im Tarifausschuss auch zu
schleifen für die Fälle, in denen aus übergeordneten Erwägungen eine AVE im
gesellschaftspolitischen, volkswirtschaftlichen, letztendlich aber mit Blick
auf die Verwüstungen in der Branche sogar betriebswirtschaftlich sinnvoll ist,
dann wird es weiter keine Bewegung geben (können). Die Politik könnte
entscheiden, wenn sie denn wollte. Um endlich wieder mehr Ordnung auf dem
Arbeitsmarkt zu schaffen. Es steht aber zu befürchten, dass aufgrund der
scheinbar bereits eingesetzten Handlungsstarre vor der nächsten Bundestagswahl
2017 (!) alle Akteure in der Großen Koalition in eine Art Dauerwinterschlaf
verfallen sind und keine erkennbaren Bestrebungen zu beobachten sind, dieses
Problem wenigstens mal anzugehen, geschweige denn zu lösen. Machbar aber wäre
das. Wenn der Wille da wäre.

Die gnadenlose Effizienzmaschine hinter Amazon wird gefeiert und beklagt. Und in Polen spürt man die handfesten Folgen, wenn man ein kleines Rädchen in der großen Maschine ist

Amazon wurde vor genau zwanzig Jahren – natürlich stilgerecht in einer kalifornischen Garage – gegründet und ist heute ein Megakonzern mit über 150.000 Mitarbeitern und einem weltweiten Nettoumsatz von 89 Mrd. US-Dollar, 11,9 Mrd. davon in Deutschland. Während in vielen Zeitungen Artikel erschienen sind, in denen der Aufstieg des Unternehmens teils aus skeptischer Distanz, nicht selten aber auch voller Bewunderung für die aggressive Unternehmensphilosophie behandelt wurde (vgl. als nur ein Beispiel von vielen den Kommentar Service-Monster aus Seattle von Caspar Busse), hat Michael Merz sein Geburtstagsständchen überschrieben mit Kein Tag zum Feiern.
Seine kompakte Sichtweise auf die Unternehmensgeschichte verdeutlicht der folgende Passus:

»Vor genau 20 Jahren verkaufte der Amazon-Patriarch Jeff Bezos das erste Buch via Internet. Ursprünglich wollte er seine Firma »Relentless« (englisch für gnadenlos, unerbittlich) nennen, womit er wohl für mehr Authentizität gesorgt hätte. Denn rücksichtslose Expansion kennzeichnen zwei Dekaden Amazon: Westeuropäische Erlöse wurden jahrelang in Luxemburg versteuert, Autoren und Verleger mit schlechten Konditionen geknechtet, etliche Buchläden aufgrund des Preiskampfs in den Ruin getrieben.«

Der Verdrängungswettbewerb werde auch auf dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen, so die Perspektive der Gewerkschaft ver.di. Und über die Arbeitsbedingungen bei Amazon wurde in den zurückliegenden Jahren in den Medien durchaus kritisch berichtet.

Seit zwei Jahren befinden sich Beschäftigte im Arbeitskampf um einen Tarifvertrag. Immer wieder kommt es zu Streiks an den neun deutschen Standorten. Bislang allerdings haben diese Aktionen nicht wirklich Wirkung entfaltet (bzw. aufgrund der Bedingungen vor Ort nicht entfalten können). Ver.di will Verträge nach den Konditionen des Einzel- und Versandhandels durchsetzen. Diese werden weiterhin verwehrt. Das Unternehmen beharrt darauf, in Anlehnung an den schlechteren Logistik-Tarif zu vergüten. Lediglich kleine Verbesserungen gibt es: dezentrale Pausenräume, Klimaanlagen, Wasserspender.

Auf der anderen Seite wird von denjenigen, die Amazon weniger kritisch sehen, immer wieder darauf hingewiesen, dass in den deutschen Logistikzentren – in denen es mittlerweile überall Betriebsräte gibt – der niedrigste Einstiegslohn (in Leipzig) bei 9,75 Euro liegt und damit deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn – und das Amazon tatsächlich relativ vorbehaltlos auch bislang langzeitarbeitslosen Menschen eine Chance gibt. Wenn sie funktionieren, denn die Arbeit der „Picker“ und „Packer“ ist hart und die Leistungsanforderungen hoch und die Beschäftigten werden einem rigiden Controlling unterworfen. Das erklärt teilweise auch die erheblichen Schwierigkeiten der Gewerkschaft, einen Fuß in die Tür der Belegschaft zu bekommen, nicht nur, weil viele befristet arbeiten müssen, sondern gerade die vorher längere Zeit der Arbeitslosigkeit ausgelieferten Mitarbeiter von Amazon sind froh überhaupt wieder eine Beschäftigung bekommen zu haben.

Aber das Unternehmen plant vor und will zum einen gerüstet sein, wenn die Kollektivierungstendenzen in Deutschland stärker werden, vor allem aber, wenn die Kosten weiter gedrückt werden können und müssen, denn das ist in der Unternehmens-DNA von Amazon eingebrannt: Also hat man beispielsweise in der Nähe von Breslau neue Logistikzentren errichtet, die überwiegend in Deutschland lebende Kunden von Amazon bedienen und deren Beschäftigte deutlich „günstiger“ sind als die in Deutschland.

Amazon in Polen (und der Tschechei) – was da nicht was? Bereits  am 25. November 2013 konnte man in diesem Blog eine Aussicht auf das, was jetzt genauere Formen annimmt, lesen: Von „Work hard. Have fun. Make history“ bei Amazon zur Proletarisierung der Büroarbeit in geistigen Legebatterien. Streifzüge durch die „moderne“ Arbeitswelt, so ist der damalige Beitrag überschrieben worden. Dort konnte man den folgenden Passus lesen:

»Eines ist ganz sicher – die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di nervt Amazon mit ihrer impertinenten Forderung nach einem Tarifvertrag für die Beschäftigten in den deutschen Warenverteilzentren des Weltkonzerns. Deshalb lässt Amazon ja auch schon mal sicherheitshalber neue Logistik-Zentren in der Tschechei und Polen errichten – „natürlich“ auf gar keinen Fall mit der Absicht, die Arbeit dann aus dem für Arbeitgeber „anstrengenden“ Deutschland in die angenehmer daherkommenden Ostländer zu verlagern und die Standorte in Deutschland auszudünnen oder gar aufzugeben. Was natürlich nicht für die Belieferung des deutschen Marktes gilt, denn der ist richtig wichtig für Amazon, hier wird Marge gemacht und dass soll auch so bleiben – bereits 2012 hat Amazon in Deutschland 6,4 Milliarden Euro umgesetzt und damit seit 2010 um 60 Prozent zugelegt. Und geliefert werden kann auch aus Polen und der Tschechei.«

Und in einem Beitrag am 10. August 2014 musste dann nachgelegt werden: Amazon mal wieder. Ab in den Osten und zurück mit dem Paketdienst: »Und jetzt, im August 2014, wird klar, dass es bei den neuen Logistik-Zentren in unseren Nachbarstaaten natürlich nicht um die Belieferung des osteuropäischen Marktes geht bzw. wenn, dann nur sekundär, sondern um eine strategische Alternative zu diesen unbotmäßigen und übergriffigen Arbeitnehmern bzw. Gewerkschaften in den deutschen Standorten. Amazon verlangt von deutschen Verlagen, dass sie Bücher verstärkt über ausländische Versandzentren schicken, um als ein Ergebnis daraus die potenziell streikgefährdeten deutschen Logistikstandorte umgehen zu können … Dass der Versender durch seine Umgehungstaktik mittelfristig massiv Arbeitsplätze an seinen deutschen Standorten gefährdet, liegt auf der Hand. Die Löhne in Polen und Tschechien liegen teilweise um mehr als die Hälfte niedriger als in Deutschland.«
Hinsichtlich des letzten Punktes, also des Lohnkostengefälles, muss der damalige Beitrag korrigiert bzw. präzisiert werden. Denn mittlerweile wissen wir mehr über die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort, zumindest in Polen, denn dort beginnt man auf der einen Seite zu begreifen, wofür man gebraucht wird und zugleich sprießen erste Pflänzchen der Kollektivierung auch dort.

Darüber berichtet Jörg Winterbauer in seinem Artikel Die „Versklavung“ der polnischen Amazon-Mitarbeiter: »13 Zloty pro Stunde verdienen die Arbeiter: drei Euro. Stühle gibt es nicht, dafür unbezahlte Überstunden. In Polen bekommt Amazon jetzt Ärger mit staatlichen Prüfern – und den eigenen Angestellten.«

Wie immer ist man mit großen Hoffnungen gestartet: »Als Amazon Ende 2014 seine Versandzentren in Polen eröffnete, war die Freude groß. Janusz Piechocinski, der Wirtschaftsminister, bezeichnete die Investitionen als einen „Meilenstein“ für die Wirtschaft Polens. Und Amazon kündigte an, Tausende neue Jobs zu schaffen – in Polen, einem Land mit einer Arbeitslosenquote von etwa zwölf Prozent, wurde diese Nachricht sehr positiv aufgenommen.« Und für das Unternehmen Amazon sind Breslau und Posen ideale Standorte, denn die Kombination aus unmittelbarer geografischer Nähe zu dem riesigen Markt Deutschland und sehr niedrigen Löhnen gibt es so sonst nur noch in Tschechien.
Und hier gleich die Korrektur bzw. Präzisierung des Lohngefälles aus meinem Beitrag vom 10. August 2014:

»Amazon findet in Polen Angestellte für die überwiegend sehr einfachen Tätigkeiten, die in den Amazon-Logistikzentren zu verrichten sind, zu einem Viertel des deutschen Preises: 12,50 Zloty bekommt ein einfacher Lagerarbeiter brutto in Breslau und 13 Zloty in Posen – das sind etwa drei Euro.«

Doch jetzt, nach der Eröffnung und Inbetriebnahme der drei Logistik-Zentren in Polen zeigt sich, dass Amazon Probleme mit staatlichen Behörden und unzufriedenen Angestellten bekommt. Die Staatliche Arbeitsinspektion (PIP), die in Polen die Einhaltung des Arbeitsrechts in den Betrieben kontrolliert, hat eine große Anzahl an Verstößen in Breslau aufgedeckt. Überstunden wurden nicht bezahlt oder bei Abwesenheit wegen Krankheit oder Schwangerschaft wurde – entgegen den gesetzlichen Vorschriften – kein Lohn gezahlt.

Auch »die Gewerkschaften haben unter den Angestellten von Amazon Mitglieder gewonnen und erheben ihre Forderungen. Bei Amazon in Breslau ist vor allem die Gewerkschaft Solidarnosc (Solidarität) aktiv.« Von dieser Seite wird nicht nur die – gerade im Vergleich zu Deutschland – extrem niedrige Bezahlung kritisiert, sondern auch, »dass die Hälfte der Arbeiter bei Amazon über Zeitarbeitsfirmen angestellt seien, die ihre Angestellten „wie Sklaven behandeln“.«

Und der folgende Passus verdeutlicht, dass die neuen Zentren entgegen der Unternehmenspropaganda sehr wohl in einem funktionalen Zusammenhang gesehen werden müssen mit den gewerkschaftlichen „Umtrieben“ in Deutschland und zugleich kann man aber auch eine positive Botschaft der Solidarisierung entnehmen:

»Am 24. und 25. Juni wurden die Schichten für die Arbeiter von zehn auf elf Stunden verlängert, berichtet die PIP. Zu dieser Zeit streikten Angestellte der meisten deutschen Amazon-Versandzentren. In der Nachtschicht vom 24. auf den 25. Juni gab es einen Spontan-Protest in Posen: Ein Teil der Belegschaft verlangsamte die Arbeit in der elften Stunde, um seine Unzufriedenheit mit den Arbeits- und Lohnbedingungen und die Solidarität mit den deutschen Amazon-Angestellten auszudrücken.«

Denjenigen, die mit guten Gründen die Arbeitsbedingungen bei Amazon kritisieren, mag es kein Trost sein sehen zu müssen, dass es den Beschäftigten, auch denen aus der Verwaltung bis zum Management in den USA nicht wirklich besser zu gehen scheint, was vielleicht auch mit erklären kann, warum die Forderungen von ver.di für dieses amerikanische Unternehmen „mysteriös“ daherkommen. So berichtet Christian Rickens in seinem Artikel Wie ein Unternehmen uns alle verändert hat:

»… trotz seiner Größe hat sich Amazon viel von einem Start-up bewahrt. Ein ehemaliger Mitarbeiter spottet sogar, das Unternehmen vereine von beiden Welten das Schlechteste: das Chaos, die langen Arbeitstage und die fehlenden Gewinne eines Start-ups mit der Knickerigkeit und der Bürokratie eines Konzerns.
Noch immer hausen in der Amazon-Zentrale in der Innenstadt von Seattle viele Manager in fensterlosen Arbeitsboxen, die aus rohen Spanplatten zusammengezimmert sind – Verpackungsabfälle aus den Amazon-Logistikzentren. Und weil es hier noch immer keine Kantine gibt, stauen sich um die Mittagszeit die Food Trucks zwischen den Büroklötzen. Von Gratis-Sushi wie bei Google können die Amazon-Mitarbeiter nur träumen. Flüge in der Business Class? Bei Amazon ebenso verpönt wie Powerpoint-Präsentationen.
Vielleicht trägt diese Käfighaltung der Amazon-Mitarbeiter dazu bei, dass das Unternehmen auch nach 20 Jahren nichts von seinem Wettbewerbsgeist verloren hat.«

Aber Amazon hat nicht nur hinsichtlich der Beschäftigungsbedingungen ein dickes Fragezeichen verdient, auch die Auswirkungen des Geschäftsmodells auf den stationären Einzelhandel, auf die vielen Online-Händler, die sich auf dem Amazon-Marktplatz als Heerschar kleiner Handelsameisen verdingen bis hin zu den Kunden, die die Monopolisierung wichtiger Teilbereiche des Online-Handels irgendwann einmal bezahlen werden müssen. Hinzu kommt der Boom der Paketdienste und der enorme Preisdruck, den solche „Mega-Kunden“ wie Amazon hier ausüben kann und das auch tut.

»Dass Jeff Bezos es ernst meint, wenn er, wie er einmal sagte, Geschäftspartner wie »kranke Gazellen« jagt, musste zuletzt die Deutsche Post erfahren. Am Mittwoch wurde kolportiert, Amazon sei dabei, einen eigenen Lieferservice zu installieren – für die Post wäre das ein schwerer Schlag«, so Michael Merz in seinem Artikel.

Hinsichtlich des Kampfes der Gewerkschaft ver.di kann man sich informieren über deren Sicht auf das Unternehmen Amazon auf einer eigenen Webseite unter http://amazon-verdi.de.

Ansonsten sei hier die folgende Reportage aus der Sendereihe ZDFzoom empfohlen, die einen besonderen und kritischen Blick wirft auf das „Ausbeutungssystem“ gegenüber den vielen kleinen Händlern, die sich Amazon unterwerfen (müssen):

ZDFzoom: Die Macht von Amazon. Günstig, aber gnadenlos? (17.06.2015): »Der Online-Handel boomt, allen voran: Amazon. Schon heute wird etwa ein Viertel des gesamten deutschen Onlinehandels von Amazon organisiert. Auch kaum ein Verkäufer kommt am US-Konzern vorbei. Der Grund: Amazon fährt eine Niedrigpreisstrategie, ist Preisbrecher für den Verbraucher. Doch was die Kunden freut, ist für Verkäufer bitter.«

Burger-Brater kriegen jetzt noch mehr Feuer – Naujoks, der Vollstrecker der Arbeitgeber, ante portas

Die einen hassen es, die anderen lieben es – auf alle Fälle gehen viele zu den Burger-Bratern wie McDonald’s oder Burger King, um eine bestimmte Variation von Essen zu sich zu nehmen. Und immer wieder wird dieser Teil des Gaststättengewerbes auch angesichts der dort herrschenden Arbeitsbedingungen thematisiert und kritisiert. In der letzten Zeit wurde man immer wieder mit Burger King konfrontiert: Die 1954 im US-Bundesstaat Florida gegründete Burger-King-Kette ist nach McDonald’s das zweitgrößte Fast-Food-Unternehmen der Welt. 99 Prozent der Filialen sind an Franchisenehmer vergeben, die die Restaurants (mehr oder weniger) eigenverantwortlich führen. In Deutschland existieren 677 Filialen. Und in jedem siebten Burger King-Restaurant geht es drunter und drüber, seitdem ein Besitzerwechsel stattgefunden hat. Betroffen sind 3.000 Mitarbeitern der Burger King GmbH, bislang eine hundertptozentige Tochter der Burger King Worldwide, die mit ihren 91 Filialen Anfang Mai von der Yi-Ko Holding GmbH übernommen wurde. Und seitdem werden Schlagzeilen produziert und bittere Fakten geschaffen. Der Kölner Stadt-Anzeiger betitelt einen aktuellen Frontbericht aus diesem Teil der Burger-Welt mit „Schreckensherrschaft bei Burger King“ und fasst zusammen:
»In den 91 Burger-King-Filialen, die im Mai von der Yi-Ko Holding übernommen wurden, werden Arbeitnehmerrechte mit Füßen getreten. Jetzt soll der berüchtigte Hamburger Anwalt Helmut Naujoks unbotmäßige Betriebsräte zum Schweigen bringen.«

Über die Hintergründe der skandalösen Entwicklung in diesen Filialen wurde bereits vor einem Monat auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ in einem ersten Beitrag berichtet. Hinter dem Firmennamen Yi-Ko Holding GmbH  verbergen sich der türkischstämmige Ergün Yildiz aus Stade sowie der Russe Alexander Kolobov, der in seiner Heimat ein Netz von Burger-King-Filialen aufgebaut hat. Es wurden nicht nur die erwähnten 91 Filialen übernommen, sondern die Käufer haben zugesagt, in den kommenden Monaten zahlreiche neue Restaurants in Deutschland zu gründen. Und die beiden illustren Herren verbreiteten innerhalb kürzester Zeit ein wahres Schreckensregime unter den Beschäftigten, folgt man den einschlägigen Medienberichten (z.B. hier: „Burger-Brater drückt die Löhne“ oder hier: „Burger King: Fressen oder gefressen werden„).

»Mitarbeitern, die schweißtreibende neue Uniformen nicht anziehen möchten, sollen gekündigt werden. Tariflich vereinbarte Lohnerhöhungen sind auf Eis gelegt, ebenso  das  Urlaubsgeld. Die Bezahlung der Betriebsräte während ihrer Tätigkeit als Arbeitnehmervertreter bedarf der ausdrücklichen Genehmigung seitens der Geschäftsleitung. All dies geht aus schriftlichen Mitarbeiter-Anweisungen der Geschäftsleitung  der Yi-Ko Holding GmbH hervor … Wer Betriebsversammlungen besuche, werde mit Entlassung bedroht.  „Ganz offensichtlich versucht Yildiz, die Belegschaft  mit Mafiamethoden einzuschüchtern, bis sie alles widerstandslos hinnimmt“, sagt ein Mitarbeiter, der  nicht genannt werden möchte.  Ein anderer berichtet, er sei körperlich bedroht worden, weil er die Betriebsratsarbeit unterstützt«, so der Kölner Stadt-Anzeiger.

Trotz dieser harten Bandagen geben die betroffenen Arbeitnehmer nicht auf: Gab es Anfang Mai 32 Betriebsräte in den 91 überwiegend in Süd- und Westdeutschland angesiedelten Yi-Ko-Filialen, so ist ihre Zahl mittlerweile auf 38 angestiegen. Die Mitarbeiter, viele von ihnen mit Migrationshintergrund  setzen sich tapfer zur Wehr.

Da liegt es für so einen Typus von Arbeitgeber durchaus nahe, die nächste Stufe der Eskalation zu zünden: Den „Rambo unter den Arbeitgeber-Anwälten“ zu beauftragen, jeden vorhandenen Widerstand zu brechen: Helmut Naujoks, den Meister unter den Vollstreckern, die im Sold der Arbeitgeber über ein Sammelsurium an Maßnahmen vor allem die betroffenen Betriebsräte in die Knie zu zwingen versuchen – und leider oftmals auch erfolgreich sind, mit bleibenden Schäden bei den Betroffenen.

Helmut Naujoks ist das schillernde Aushängeschild einer regelrechten Branche von Juristen, die sich darauf spezialisiert haben, den Arbeitgebern zu helfen, unliebsame Mitarbeiter – die aber formal und eigentlich beispielsweise als Betriebsräte unter einem gesetzlichen Schutzschild zu stehen haben – loszuwerden und den anderen Beschäftigten klar zu machen, was ihnen droht, wenn sie etwas in Anspruch nehmen, was ihnen in diesem Land eigentlich grundgesetzlich zusteht: Mitbestimmung im Betrieb. Christian Esser und Alena Schröder haben diese ganz eigene Schattenwelt in einem lesenswerten Buch ausgebreitet: „Die Vollstrecker. Rausschmeißen, überwachen, manipulieren.
Wer für Unternehmen die Probleme löst„. Dort findet man auf den Seiten 56 ff. das Kapitel: „So bringen Sie Ihren Betriebsrat auf Vordermann. Die Methode Naujoks macht Schule.
Auch Günter Wallraff hat sich schon mit Herrn Naujoks beschäftigt:

»Wallraff begegnet ihm schließlich in einer Hotelsuite als vermeintlich millionenschwerer, aber kranker Unternehmer im Rollstuhl. Der Rechtsanwalt durchschaut die Maskerade nicht und legt sich mächtig ins Zeug, um einen neuen Auftrag zu erhaschen: „Ich vertrete ausschließlich Arbeitgeber“, erklärt Naujoks im Gespräch. „Ich mache nur Arbeitsrecht, und zwar ein ganz spezielles Arbeitsrecht. Bei mir fängt die Arbeit erst an, wenn die anderen Anwälte sagen, es geht nicht. In der Regel sind meine Gegner Betriebsräte und die Gewerkschaften. Mein Ziel ist es, dass diese Betriebsräte das Unternehmen verlassen. Davon lebe ich.“ (Quelle: „Auf der Müllkippe der Gesellschaft„; dies und andere Einblicke in die neue Arbeitswelt finden sich in dem Buch von Günter Wallraff: Aus der schönen neuen Welt. Expeditionen ins Landesinnere, Köln, 2009).

Dabei versteckt der Herr Naujoks sich keineswegs, man werfe nur einen Blick auf die Website seiner Anwaltskanzlei. Er geht durchaus offensiv um mit seinem Ansatz. Anfang 2012 erschien von ihm das Buch »Kündigung von „Unkündbaren“« mit dem süffisanten Untertitel: „Wie Arbeitnehmer ihre Arbeitgeber sabotieren“. Die Strategie der Umkehrung der Vorwürfe zeigte sich schon mit seinem 2010 erschienenen Buch „Schwarzbuch Betriebsrat. Schattenbosse zwischen Macht und Machtmissbrauch„, bewusst spielt er mit Titel- und Begriffsvariationen, die man ansonsten eher aus dem gewerkschaftlichen Lager kennt.

In dem Beitrag „Burger King: Franchise-Nehmer heuern Betriebratsfresser Naujoks an“ des Blogs „arbeitsunrecht“ kann man zu Naujoks lesen:

»Zu Naujoks’ Methoden … gehören Abmahnungswellen, Kündigungswellen (d.h. mehrere fristlose Kündigungen gegen eine Person aus verschiedenen Gründen), offene und verdeckte Bespitzelung, Hausverbote gegen Gewerkschaftssekretäre und Betriebsräte, Verhinderung und Abmahnung von Presseberichterstattung, Gründung und Coaching von Anti-Betriebsrats-Initiativen, Spaltung und Polarisierung der Belegschaft. Zur Methode Naujoks gehört auch ein juristisches Sperrfeuer aus unsubstantiierten Abmahnungen, Kündigungen und Anzeigen gegen Einzelne. Das vorrangige Ziel ist nicht ein Sieg vor Gericht, sondern maximale Zermürbung der Gegner. Man könnte auch von juristischem Stalking und institutionellem Rechtsmissbrauch sprechen. Nebeneffekt: Überlastung von Gerichten, hohe Kosten für Auftraggeber, Opfer und Prozesshilfe-Kassen. Kollateralschaden: Zerstörtes Betriebsklima.«

Jeder kann und muss also gewarnt sein, wenn dieser Anwalt, der übrigens seine Thesen von den „armen Arbeitgebern“, die er vor den eigenen Arbeitnehmern „schützen“ müsse, munter einem Millionenpublikum in Talkshows verkaufen kann (Maischberger, Plasberg, Anne Will usw.), angeheuert wird. Der beginnt langsam, aber strategisch angelegt und steigert sich dann systematisch.

Zurück zum aktuellen Fall und der Situation in den Burger King-Filialen der Yi-Ko-Holding. Erste Duftmarken hat der nunmehr beauftragte Naujoks schon gesetzt – wie immer beginnt er mit dem Versuch, eine Schneise des Misstrauens in die Belegschaft zu schlagen bzw. dies zu versuchen, um an bestimmte Informationen zu kommen. Hierzu Stefan Sauer in seinem Artikel „Schreckensherrschaft bei Burger King„:

»Naujoks folge einem perfiden Fahrplan. Er versuche stets, zwischen Belegschaften und ihre Betriebsräte   Misstrauen zu säen. Das geht im konkreten Fall so: „Unsere Wirtschaftsprüfer haben festgestellt, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Burger King GmbH  schlimmen Missbrauch betrieben haben“, heißt es auf Aushängen für das Personal. Rechtsanwalt Naujoks stehe bereit, um gegen diese Mitarbeiter vorzugehen. „Bitte haben Sie keine Angst, uns die Wahrheit mitzuteilen“.«

In dem Beitrag über die Vorkommnisse bei den Yi-Ko-Holding-Filialen von Burger King in dem Blog „arbeitsunrecht“ findet sich ein charakteristischer Satz: „Der Rechtsanwalt Helmut Naujoks zieht seit etwa 2001 eine Spur der Verwüstung durch die Republik, meist durch die Landschaft mittelständischer Betriebe.“ Man kann und muss sich darüber ärgern, wenn man feststellen muss, dass trotz vieler Vorwürfe und auch konkreter Berichte die Staatsanwaltschaft bei Naujoks & Co. auffällig untätig bleibt. Aber neben der Frage, ob es nicht rechtliche Möglichkeiten gibt, diesen gut dotierten Vollstreckern das Handwerk legen zu können – eine Antwort auf solche Vorgänge muss an zwei Hebeln ansetzen: Zum einen die Bereitschaft und dann auch massive Unterstützung der Arbeitnehmer, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Und zum anderen können natürlich auch die Verbraucher Druck ausüben, gerade auf ein „Dachmarkenunternehmen“ wie Burger King.

Abschließend ganz praktisch: Die Burger King-Filialen der Yi-Ko Holding befinden sich vor allem im Südwesten und Westen der Republik. Hier eine Liste mit den Filialen.