Auf der Flucht im doppelten Sinne. Ein Update zu den Sprachlehrkräften sowie den Chancen und Risiken dahinter

Ein Land im Ausnahmezustand. Die ganze Berichterstattung dreht sich um die vielen Flüchtlinge, die in den vergangenen Tagen stündlich zu uns gekommen sind. Und jetzt die Wiedereinführung der Grenzkontrollen nach Österreich und die Aussage, man sei „am Limit“ angekommen, es gehe so nicht weiter. Trotz der verständlichen Fokussierung auf die Nöte und praktischen Herausforderungen durch die, die bei uns ankommen, muss man natürlich auch weiterdenken, denn es geht ja nicht nur um die Aufgabe, diese Menschen irgendwie unterzubringen und zu versorgen. Viele von ihnen werden bleiben und darunter auch viele Kinder und Jugendliche, bei denen es auch um die Schulpflicht geht. Für viele Schulen beginnt das neue Schuljahr nicht nur mit „normalen“ neuen Schüler/innen, sondern immer mehr schlagen natürlich auch die Flüchtlingskinder in einem System auf, das schon unter Normalbedingungen eine Vielzahl an Problemen aufweist. Es ist nicht wirklich überraschend, dass aus den Reihen der Insider des Schulsystems lauthals Bedenken geäußert werden hinsichtlich einer Überforderung durch diese Situation und das man dringend mehr Personal brauche.

Und – nicht als Vorwurf gemeint – seien wir ehrlich: Viele Lehrer/innen sind doch schon mit der „normalen“ Heterogenität der Schülerschaft überfordert – wie soll da die „en passant“-Aufnahme von Flüchtlingskindern, aus ganz unterschiedlichen Nationen und Kulturkreisen, ohne irgendwelche deutsche Sprachkenntnisse, zwischen (bisher) solider Schulbildung im Herkunftsland bis hin zu vielen Analphabeten, die nicht nur eine neue Sprache an sich lernen müssen, gelingen?
Aber dafür gibt es ja auch Experten, die den Kernbereich bilden (könnten) für eine Bildungsoffensive in diesem Feld. Gemeint sind die pädagogischen Fachkräfte mit einem Zusatzstudium „Deutsch als Fremdsprache“. Um diese Gruppe herum könnte man dann die motivierten und engagierten „normalen“ Lehrer/innen (teilweise auch reaktiviert aus dem Ruhestand) sowie – das wird gar nicht ohne sie gehen – ehrenamtliche Kräfte gruppieren und versuchen, den Andrang halbwegs sinnvoll zu bewältigen.

Nun wird sich der eine oder andere daran erinnern, dass in diesem Blog am 2. September 2015 der Beitrag 1.200 Euro im Monat = „Top-Verdienerin“? Lehrkräfte in Integrationskursen verständlicherweise auf der Flucht oder im resignativen Überlebenskampf veröffentlicht wurde. In diesem Beitrag wurde kritisch auf die Situation der Lehrkräfte aufmerksam gemacht, die in den Sprach- und Integrationskursen arbeiten – und nur als skandalös schlecht zu bezeichnenden Bedingungen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat bislang rund 24.000 Lehrer für den Unterricht in Integrationskursen zugelassen. Sie müssen dafür neben einem akademischen Abschluss ein Zusatzstudium „Deutsch als Fremdsprache“ oder eine gleichwertige pädagogische Qualifikation vorweisen. Nur ein geringer Teil der Lehrkräfte ist festangestellt bei den Trägern der Maßnahmen wie Volkshochschulen oder Wohlfahrtsverbänden. Das bedeutet, die meisten Lehrkräfte arbeiten als (Schein-)Selbständige auf Honorarbasis – zu überaus miesen Bedingungen.

Hintergrund dieser Situation ist auch, dass die Träger – 1.800 private und öffentliche Träger sind für Integrationskurse zugelassen – mit einer Pauschale pro Teilnehmer vergütet werden – das BAMF zahlt den Kursträgern 2,94 Euro pro Teilnehmer und Kursstunde (bzw. 1,74 Euro für Teilnehmer, die einen Eigenanteil leisten). Die Notwendigkeit einer Anhebung dieser vollkommen unzureichenden Beträge sei nach Auskunft des zuständigen Bundesinnenministeriums und der BAMF nicht geplant. Trotz aller Sonntagsreden und vor allem trotz aller Erkenntnisse über die Bedeutung der Sprach- und Integrationsangebote für eine gelingende Integration. Wenn sich das noch mehr zum Flaschenhals entwickelt, dann werden wir in Zukunft ganz erhebliche Folgekosten serviert bekommen.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat sich vor wenigen Tagen noch zu diesem Thema zu Wort gemeldet im Kontext der gerade abgeschlossenen Haushaltsberatungen im Bundestag: GEW: „Flüchtlinge: Zugang zur Bildung für alle – Fachkräfte und Einrichtungen unterstützen“ mit der Forderung nach einem bildungspolitischen Soforthilfeprogramm. Die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe wird mit diesen Worten zitiert: „Wir benötigen ein Förderprogramm des Bundes für die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften für ‚Deutsch als Zweitsprache‘ (DaZ). Weil es viele zu wenige Lehrkräfte mit dieser Qualifikation gibt, schlagen wir eine Doppelstrategie vor: Für ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen müssen jetzt ‚Crashkurse‘ angeboten, gleichzeitig muss deutlich mehr Geld für die reguläre Ausbildung von DaZ-Lehrkräften in die Hand genommen werden.“ Außerdem: Um guten, sinnvollen Unterricht für geflüchtete Jugendliche und Heranwachsende zu ermöglichen, müsse die Schulpflicht in allen Bundesländern bis zum 21. Lebensjahr verlängert werden. Projekte mit Schulangeboten für Flüchtlinge, die bis zu 25 Jahre alt sind, zeigen: Viele Heranwachsende können so in Ausbildung und Beschäftigung vermittelt werden. Alles durchaus nachvollziehbare Forderungen.

Nun aber schlagen die Gesetzmäßigkeiten von Angebot und Nachfrage durch und führen dazu, dass sich auf der einen Seite die individuelle Situation der bereits vorhandenen Sprachlehrkräfte verbessern kann, während gleichzeitig die angesprochene Flaschenhalsproblematik an Schärfe gewinnen wird, weil die individuelle Verbesserung einhergeht mit einem „Abwerben“ der Fachkräfte aus den bisherigen Angeboten.

So berichtet Martin Klesmann in seinem Artikel Berlin sucht Lehrer für Willkommensklassen: Für »Schüler und Schülerinnen ohne Deutschkenntnisse immer mehr Willkommensklassen eingerichtet. Allein hierfür qualifiziertes Lehrpersonal zu finden ist schwierig. Viele prekär Beschäftigte bewerben sich.«  Bereits 478 Lerngruppen sind es. Aus den bisher rund 480 Lerngruppen mit 5.000 Schülern können schnell 600 Gruppen mit 6.000 Kindern werden. Oder noch mehr. Es wird immer schwieriger, hierfür qualifizierte Lehrer zu finden. Und damit öffnet sich jetzt an dieser Stelle ein ganz neuer Chancenraum für die Fachkräfte, die bislang in den unterfinanzierten Sprach- und Integrationskursen gearbeitet haben – mit einem deutlichen Gefälle, das verständlich macht, für wen man sich entscheiden würde:

»Eine der Bewerberinnen ist Marlene Bergermeier. Wie viele hier hat sie Deutsch als Fremdsprache studiert und schlägt sich mit Honorarverträgen durch. Marlene Bergermeier unterrichtet Deutsch an einer privaten Ausbildungsstätte für berufsqualifizierende Maßnahmen. Dort wird man stundenweise bezahlt, die Einkünfte liegen bei 16 bis 22 Euro pro Unterrichtsstunde. Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle gebe es nicht, auch Sozialabgaben spare sich der Arbeitgeber so, sagt sie … Andere Bewerberinnen arbeiten ebenfalls bei privaten Sprachschulen für Menschen ohne Deutschkenntnisse oder in den Integrationskursen, die auch die Volkshochschulen anbieten. Meist befristet. So auch Gudrun Nebe. Sie hat schon arabischsprachigen Kindern Deutsch beigebracht.«

Und was bietet die Gegenseite? Sie bietet letztendlich an, einen Fuß in die Tür des staatlichen Schuldienstes zu bekommen. Mit einem Arbeitsvertrag und einer ganz anderen Bezahlung:

»Auch im staatlichen Schuldienst sollen die meisten Willkommensklassen-Lehrer erst einmal befristet bis zu den nächsten Sommerferien beschäftigt werden. Doch angesichts der vielen Flüchtlingskinder rechnen die Bewerber, die in der Regel kein reguläres Lehramtsstudium aufweisen, damit, irgendwann fest übernommen zu werden. Ihre Aufgabe ist es, den Schülern die deutsche Sprache so gut zu vermitteln, dass sie spätestens innerhalb eines Jahres in eine Regelklasse wechseln können. Oft klappt es schon nach wenigen Monaten.«

Weitere Hinweise finden sich in dem Artikel Senat sucht Sprachlehrer – und wird fündig von Susanne Vieth-Entus, die ebenfalls auf den Pool an prekäre Beschäftigten aus den Sprach- und Integrationskursen hinweist, die in der Vergangenheit keine Chance hatten, in den regulären Schuldienst zu kommen, beispielsweise Editha Lemke: »Die 34-Jährige hat Linguistik mit einer Spezialisierung auf Deutsch als Fremdsprache studiert, sechs Jahre lang in Brasilien gelebt und in Bolivien Waisenkinder alphabetisiert. Auch sie arbeitet jetzt an einer privaten Sprachenschule und unterrichtete bis vor kurzem Akademiker aus Syrien, die den Kursus vom Jobcenter finanziert bekommen.« Und ein weiteres Beispiel: „Sprachenschulen zahlen schlecht“, sagt Marlene Bergermeier, 36. Sie hat an der Humboldt-Universität ebenfalls Linguistik und Deutsch als Fremdsprache studiert und wäre ebenfalls froh, wenn sie an eine allgemeinbildende Schule wechseln könnte.« Und das angesprochene Gefälle wird an den folgenden Zahlen mehr als ersichtlich:

Die »Bildungsverwaltung bietet je nach Voraussetzungen rund 3.000 Euro brutto im Monat, während die Lehrer an den Sprachschulen von Stundenlöhnen um die 15 Euro berichten – ohne Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.«

Noch Fragen?

Allerdings wird durch den absolut verständlichen und die individuelle Situation der Betroffenen verbessernden Wechsel das andere System massiv geschwächt, denn die Rahmenbedingungen dort werden offensichtlich einfach ignoriert, es gibt derzeit keine Signale aus der Politik, die zu verbessern. Das wird sich hinsichtlich der Integration bitter rächen.

Wie wichtig Schule, Lernen und mehr vor allem für die betroffenen Kinder und Jugendlichen ist, zugleich aber auch welche enormen Chancen sich für das Aufnahmeland ergeben (könnten), verdeutlichen dann Artikel, von denen hier nur auf zwei hingewiesen werden soll: Ab in die Schule, Alima, Bassam und Chipo!, so haben Katharina Schuler und Parvin Sadigh ihren Beitrag überschrieben: »Der Ziegenhirte aus Afghanistan ist jetzt Elektrotechniker in Deutschland. An den Schulen soll sich diese Erfolgsgeschichte mit Tausenden Flüchtlingskindern wiederholen.« Hört sich nach einer rührseligen Utopie an, aber: Den afghanischen Jungen gibt es wirklich – und er bereitet sich gerade auf seine Meisterprüfung vor.

Um welche Größenordnung es hier geht, verdeutlichen einige wenige Zahlen: »Etwa ein Drittel aller Flüchtlinge sind Kinder und Jugendliche, davon etwa zwei Drittel im schulpflichtigen Alter, das ist die Faustformel, mit der sich die Länder derzeit behelfen, um den Bedarf abzuschätzen.«
In Baden-Württemberg etwa rechnet das Kultusministerium mit 20.000 schulpflichtigen Flüchtlingskinder allein in diesem Jahr, die zusätzlich in die Schulen kommen. Wie immer gibt es an solchen Stellen die berechtigte Frage: Ist das nun viel oder eher wenig?

Dazu eine zahlenmäßige Annäherung, die vor allem die unglaubliche Dynamik verdeutlicht:
Vergleicht man die 20.000 neuen schulpflichtigen Flüchtlingskinder allein dieses Jahr »mit den knapp 18.000 Schülern, die bereits jetzt in besonderen Deutschkursen unterrichtet werden und bei denen es sich ja nur zu einem Teil um Flüchtlinge handelt, lässt sich erahnen, wie stark der Bedarf an zusätzlichen Angeboten steigen wird.« Das muss man erst einmal organisieren und geregelt bekommen, in einem System, das nicht per se durch Flexibilität gekennzeichnet ist.
Und ein zweites Beispiel verdeutlicht, dass es auch an anderer Stelle Gewinner im positiven Sinne geben kann: Flüchtlinge retten Grundschule: Syrische Kinder für Golzow, so ist der Beitrag von Heike Klovert überschrieben: »Die Grundschule im brandenburgischen Golzow wäre langsam ausgestorben, hätte der Bürgermeister nicht zwei syrische Familien in das Dorf geholt. Nun gibt es doch eine erste Klasse – und der kleine Ort macht vor, wie Integration gelingen kann.«

Es gibt sie, die positiven Nachrichten. Man sollte aber eben ach nicht verschweigen, dass die bestehenden Systeme wenig bis gar nicht fassungsfähig sind hinsichtlich einer flexiblen und dann auch noch die vielen Einzelfälle sinnvollerweise berücksichtigenden Strategie. Und das man es angesichts der Dynamik und der schieren Größenordnung mit einem beweglichen Ziel zu tun hat, das selbst ausgebuffte Profis überfordern (muss). Und man darf sich nicht nur verengen lassen auf die Akthilfe, so nachvollziehbar das ist, sondern bereits jetzt investieren, auch wenn die Ergebnisse beispielsweise in Form neuer Sprachlehrkräfte erst im kommenden Jahr oder später wirksam werden können.

Zur Änderung des Asylrechts. Geduldete werden mehr geduldet, zugleich wird die andere Seite der „Willkommenskultur“ geschärft: Mehr einsperren, Internierung, Flucht als Verbrechen

Die Bundestagsabgeordneten haben im Mai 1993 ein Zeichen gesetzt. Sie haben das Grundgesetzt geändert – und zwar ganz vorne, wo eigentlich eherne Grundrechte verankert sind. Es waren bewegte Zeiten, denn hunderttausende Menschen waren vor dem Krieg in Jugoslawien nach Deutschland geflohen, gleichzeitig kamen viele Asylbewerber aus anderen Teilen der Welt und nicht zu vergessen die Zuwanderung seitens der so genannten „Spätaussiedler“ aus der zerfallenden Sowjetunion. Und die mussten alle irgendwie untergebracht und versorgt werden. Parallel durchlief das Land eine mehr als verstörende und ganze Biografien entwertende Wiedervereinigung mit einem Arbeitsmarkt in Ostdeutschland, der gleichsam auseinandergerissen war. In dieser brodeligen Gemengelage kamen ausländerfeindlich motivierte Brandanschläge auf Asylbewerberheime und andere Unterkünfte, in denen Ausländer lebten, hinzu. Die Namen Mölln und Rostock-Lichtenhagen sowie Solingen seien hier nur stellvertretend für die damalige Zeit genannt. Die Politiker hatten Angst, dass ihnen der innenpolitische Laden um die Ohren fliegen könnte. Doch statt sich vor die Menschen zu stellen, die nach Deutschland gekommen sind, hat man ein anderes Zeichen gesetzt. Die damalige Regierung aus Union und FDP verabschiedete mit Unterstützung der SPD ein Gesetz, welches das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft hat. Eine große Koalition der Abschottung. Im Dezember 1992 hatten sich Union, FDP und die eigentlich oppositionelle SPD auf eine Neuregelung des Asylrechts verständigt (vgl. dazu auch die Hintergrundinformationen in diesem Beitrag: Einschränkung des Asylrechts 1993). Das Ziel: Die Verfahren sollten beschleunigt und ein „Asylmissbrauch“ verhindert werden. Dazu sollte der ursprünglich schrankenlose Satz in Artikel 16 („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“) gestrichen und durch einen Artikel 16a ersetzt werden. Als gleichsam perfide technokratische „Spitzenleistung“ erwies sich die Operationalisierung der angestrebten Abschottung, also wie man die Zugbrücke hat hochziehen wollen: So wurde die so genannte „Drittstaatenregelung“ eingeführt, die besagt: Wer über ein EU-Land oder ein anderes Nachbarland Deutschlands einreist, hat keinen Anspruch auf Asyl und kann sofort abgewiesen werden. Die meisten Flüchtlinge scheitern auf diese Weise bereits an den Grenzen Deutschlands. Und um das wasserdicht zu bekommen: Auch Flüchtlinge aus „sicheren Herkunftsstaaten“, also Ländern, in denen keine Verfolgung oder unmenschliche Behandlung droht, haben keinen Anspruch auf Asyl. Dieser kurze Exkurs in die Zeit von vor über zwanzig Jahren ist notwendig, um das, was man nunmehr gemacht hat, besser einordnen zu können.

Das Bundesinnenministerium hat einen Gesetzesentwurf zur „Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung“ vorgelegt, der im Bundestag zur Verabschiedung stand und von der Mehrheit heute auch angenommen wurde. »Hinter dem technischen Ausdruck verbirgt sich ein perfides Vorhaben: Die Bundesregierung will die Inhaftierung von Schutzsuchenden dramatisch ausweiten«, so Maximilian Popp in seinem Kommentar Flucht als Verbrechen. Die Perfidie des Ansatzes wird in den folgenden Zeilen erkennbar:

»Künftig sollen Flüchtlinge, die mithilfe von Schleppern nach Deutschland gelangen, die Grenzkontrollen umgehen, ihren Pass verloren haben oder falsche Angaben gegenüber Behörden machen, weggesperrt werden können. Also mehr oder weniger alle. Das Gesetz ist der größte Einschnitt in die Flüchtlingsrechte seit dem Asylkompromiss 1993.«

Popp zitiert den Bundesinnenminister Thomas de Maizière, der behauptet, die Härte gegenüber Neuankömmlingen sei nötig, um „die Zustimmung zur Zuwanderung und der Aufnahme von Schutzbedürftigen in Deutschland zu sichern“. Auch wenn er diese Zuordnung für einem Minister „unwürdig“ hält, sie folgt natürlich im bestehenden System durchaus einer bestimmten Logik, die man nicht sofort von der Hand weisen kann.

Carolin Weidemann hat in ihrem Artikel Bundesregierung will mehr Flüchtlinge einsperren dargelegt, was die gesetzlichen Neuregelungen auf der dunklen Seite des Asylrechts beinhalten. Dazu muss man wissen, dass die Zahl der Abschiebehäftlinge gesunken ist, vor allem seit der Bundesgerichtshof im Sommer 2014 die Inhaftierung von europäischen Binnenflüchtlingen, sogenannte Dublin-Fälle, weitgehend verboten hat. Genau das aber will die Bundesregierung nun wieder ändern:

»Gemäß des Dublin-Abkommens dürfen sich Schutzsuchende lediglich in jenem europäischen Land um Asyl bewerben, das sie zuerst betreten. Wer trotzdem nach Deutschland weiterflieht, soll, nach dem Willen der Bundesregierung, unmittelbar nach der Einreise interniert werden können.

Als Haftgründe gelten laut Gesetzesvorhaben:
falsche oder unvollständige Angaben gegenüber den Behörden,
ein fehlender Pass,
Geldzahlungen an Schlepper
oder die Umgehung von Grenzkontrollen bei der Einreise.
Kurz: alle unvermeidlichen Begleiterscheinungen der Flucht.«

Auch der mittlerweile überarbeitete Entwurf zielt vor allem darauf: eine Ausweitung der Abschiebehaft und die Herstellung der dafür notwendigen rechtlichen Voraussetzungen. Die Einwände gegen dieses Ansinnen reichen vom Bundesrat, der „gravierende negative Auswirkungen“ auf die Betroffenen herausstellt bis hin zu der Feststellung, dass in den vergangenen Jahren trotzt sinkender Zahlen an in Abschiebehaft befindlichen Menschen keineswegs weniger Abschiebungen vollzogen wurden, was ja als These sofort in den Raum gestellt wird, wenn man die Leute nicht wegsperrt.

Martin Kaul weist in seinem Artikel Schneller und mehr ausweisen auf eine weitere erhebliche Verschärfung hin:

»So sollen Ausländerbehörden künftig etwa mit einem neu geschaffenen „Ausreisegewahrsam“ Flüchtlinge zu deren einfacherer Abschiebung bis zu vier Tage lang festnehmen können. In der Vergangenheit durften Ausländer, die nicht von den Behörden „geduldet“ sind, im Rahmen der Abschiebehaft auch schon festgesetzt werden. Allerdings mussten dafür weitere Gründe vorliegen. Hierbei wurde zumeist das Argument der Fluchtgefahr herangezogen.
Mehr Wiedereinreiseverbote
Mit dem neu geschaffenen Ausreisegewahrsam entfallen solche weiteren Gründe. Hier reicht es im Wesentlichen, dass die Ingewahrsamnahme die Abschiebung vereinfachen kann.«

Und in einem kann man sich ja auf Juristen verlassen – sie können einem Schwarz als Weiß verkaufen, so auch hier: Die vereinfachte Ingewahrsamnahme sei sogar „gut“ für die Betroffenen und eigentlich nur in deren Interesse, denn so könnten Nachtabholungen von Familien vermieden werden, die in der Öffentlichkeit und bei den in diesem Feld engagierten Menschen auf besondere Proteste gestoßen sind. Weitere Verschärfungen sind in den Gesetzesänderungen enthalten, z.B.: Ermittlungen aufgrund aufenthaltsrechtlicher Straftaten braucht die Staatsanwaltschaft nicht mehr zuzustimmen. Wiedereinreiseverbote sollen ebenfalls leichter ausgesprochen werden können. Das richtet sich etwa gegen „Personen aus Staaten des Westbalkans“, wie es beim Innenministerium heißt. Gemeint sind vor allem Sinti und Roma.

Das reiht sich ein in weitere Bausteine einer partiell abschreckenden Ausgestaltung des Umgangs mit bestimmten Flüchtlingen. Stellvertretend hierfür die Ausführungen nicht irgendeinen unmaßgeblichen Menschen, sondern des Präsidenten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Manfred Schmidt, der in einem Interview der FAZ ausführt, das monatliche Taschengeld in Höhe von 140 Euro sollte für Asylsuchende aus sicheren Herkunftsländern gestrichen werden. Damit werde der Anreiz für Migranten vor allem aus dem westlichen Balkan gesenkt.

„Wir müssen Menschen, die vermutlich kein Asyl bekommen, sagen, dass sie vom ersten Tag in Deutschland an kein Taschengeld erhalten. Dann würde der Zustrom schnell abnehmen.“

Die 140 Euro, die es in Deutschland während des Asylverfahrens als Taschengeld gebe, seien in etwa der durchschnittliche Monatsverdienst in Südserbien.

Die gesetzlichen Änderungen, die heute verabschiedet wurden, folgen einer ganz bestimmten und nicht unbekannten Logik: Schlechte Flüchtlinge, gute Flüchtlingen. Insofern gilt auch hier: Wo Schatten ist, muss auch Licht sein und insofern werben die Politiker der großen Koalition für die Änderungen mit dem Hinweis, es gebe doch auch zahlreiche Erleichterungen für Flüchtlinge, die bei uns sind, wenn auch nur als Geduldete. Dazu Martin Kaul in seinem Artikel:

»Vereinfachungen im Bleiberecht zielen vor allem auf jüngere und besonders gut integrierte Ausländer ab, die bislang nur geduldet wurden. Sie sollen künftig ein Bleiberecht erhalten können, wenn sie etwa unter 27 Jahre alt sind und mindestens 4 Jahre eine deutsche Schule besucht haben. Bislang mussten sie 6 Jahre Schulbesuch nachweisen.
Auch Familien, die für sich selbst aufkommen können, die ihre Treue zum Grundgesetz bekennen und mit einem Kind seit mindestens 6 Jahren in Deutschland wohnen, können ein Bleiberecht erhalten. Früher mussten es 8 Jahre sein.«

Es gibt also eine schrittweise Reduzierung der zu nehmenden Hürden, wenn man denn hier ist und geduldet wird. Die absehbare Verfestigung ihres Aufenthaltsstatus wird jetzt formal etwas schneller abgebildet. Man kann es auch so zusammenfassen, wie der Artikel Der Bundestag differenziert das Asylrecht weiter aus:

»Erleichterungen soll es für die rund 125 000 Geduldeten in Deutschland geben – also für jene Menschen, deren Asylantrag keinen Erfolg hatte, die aus verschiedenen Gründen aber nicht abgeschoben werden. Sie bekommen nun die Chance auf ein sicheres Bleiberecht. Voraussetzung ist: Der Betroffene lebt schon seit Jahren im Land, spricht ausreichend Deutsch und kann seinen Lebensunterhalt selber sichern.«

Und wie zögerlich man hier insgesamt ist, verdeutlicht nicht nur das Beispiel mit der „Etwas-Absenkung“ der Schwellenwerte, sondern vor allem auch der Nicht-Umgang mit den jungen Flüchtlingen, die man hat gewinnen und vermitteln können in eine Berufsausbildung. Man sollte meinen, offensichtlich eine win-win-Stutation für beide Seiten, dem Individuum wie auch dem Staat. Und in ungezählten Sonntagsreden wird doch derzeit landauf landab beschworen, wie wichtig es sei, gerade die jungen Menschen so schnell wie möglich in Arbeit bzw. vor allem in Ausbildung zu bringen. Aber wie heißt es so schön im erfahrungsgesättigten Volksmund: Links blinken und rechts fahren.

Der Wahrheitsgehalt dieser Weisheit wird auch hier dokumentiert: Chance vertan: Berlin kneift bei Bleiberecht für Azubis mit Duldung, so die Überschrift eines Artikels, der den Finger notwendigerweise auf die offene Wunde legt:

»Die Idee klang gut: Junge Flüchtlinge sollten bis zum Ende ihrer Ausbildung nicht abgeschoben werden. Das Ergebnis ist ernüchternd: Diese Jugendliche sollen nur eine Duldung bekommen und keinen Aufenthaltstitel. Erste Kritik kommt aus Rheinland-Pflalz, die initiatoren dieser Idee.«

Die Aufenthaltserlaubnis für die gesamte Dauer der Lehrzeit kommt nicht, statt dessen hat der Innenausschuss des Bundestages lediglich für eine Duldungsregelungen votiert – »die bereits nach heute geltendem Recht realisierbar ist.« Dabei ist die Begründung für die eigentlich angestrebte Verbesserung offensichtlich:

»Wenn man junge Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integrieren wolle, müsse man ihnen und ihren Ausbildungsbetrieben garantieren, dass die Jugendlichen mindestens bis zum Ende ihrer Ausbildung in Deutschland bleiben dürfen.
Mit einer Duldung ist das nur bedingt gegeben. Denn die Duldung beschinigt lediglich, dass die Abschiebung vorerst nicht vollzogen werden kann, der Inhaber Deutschland aber eigentlich verlassen muss, sobald die Hinderungsgründe nicht mehr vorliegen. Junge Menschen mit Duldung haben es daher schwer, überhaupt einen Ausbildungsplatz zu finden.«

„Es wäre eine Frage des gesunden Menschenverstandes gewesen, Angebot und Nachfrage hier sinnvoll zusammenzuführen“, so das Argument der rheinland-pfälzischen Wirtschaftsministerin Eveline Lemke. Letztendlich hat das was damit zu tun, dass bei den Entscheidungsträgern immer noch explizit oder implizit der Abschottungsgedanke verankert ist.

Wegschauen, Handlungsstarre, ehrliches Bemühen, Wut und Hilflosigkeit. Das Sammelsurium der Folgen des Aufschlagens der Flüchtlingsfrage in den Kommunen

Es sind mehr als irritierende Nachrichten, die aus zahlreichen Kommunen an die Oberfläche dringen hinsichtlich der vielen Flüchtlinge, die dort im wahrsten Sinne des Wortes aufschlagen. Nehmen wir das Beispiel München: „Es ist einfach alles Chaos“: »Zeltlager, Altenheime und Gewerbeobjekte dienen als Unterkünfte: Die Situation für Flüchtlinge wird in München immer dramatischer. Selbst die Verantwortlichen verlieren den Überblick.« Asylsuchende in der Münchner Erstaufnahmezentrale Bayernkaserne berichten, dass sie tagelang im Freien genächtigt hätten und nicht oder unzureichend mit Decken versorgt worden seien. »Unter sehr prekären Umständen leben auch etwa 700 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in sogenannten Schutzstellen, für die das Stadtjugendamt verantwortlich ist. Derzeit kommen viele Jugendliche aus Eritrea und Syrien, die noch keine 16 Jahre alt sind, ohne Eltern an. „Es ist alles entsetzlich“, sagte Jugendamtschefin Maria Kurz-Adam … Um die jungen Menschen annähernd gesetzeskonform zu betreuen, muss das Jugendamt laut Kurz-Adam neben Honorarkräften auch Ehrenamtliche engagieren, die mit Fachleuten in Teams arbeiten. Es sei nicht mehr möglich, ausreichend reguläre Mitarbeiter zu rekrutieren. Kurz-Adam räumt ein, dass sie keine Idee mehr habe, wie ihr Amt alleine eine tragfähige und langfristige Versorgung gewährleisten solle.« Und die ganze Widersprüchlichkeit, das Hin und Her offenbart sich auch in diesen Zeilen: »Sorgen macht man sich in der Stadt auch wegen wachsender Ressentiments in der Nachbarschaft der überbelegten Unterkünfte. Zunehmend höre man ablehnende, mitunter rassistische Äußerungen. Zugleich aber wächst auch die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung. Unzählige Münchner helfen Flüchtlingen mit Sachspenden oder ehrenamtlichem Engagement.«

Und es ist nicht nur eine Stadt wie München, in der es hinsichtlich der Flüchtlinge ganz offensichtlich drunter und drüber geht (vgl. dazu Stadt erwägt Wiesnzelt als Notunterkunft: »München sucht weiter fieberhaft nach neuen Unterkünften für Flüchtlinge. Auf dem Tollwood-Gelände sollen Schlafplätze für 300 bis 400 Menschen geschaffen werden. Auch der VIP-Bereich im Olympiastadion ist im Gespräch – und das Schützenfestzelt auf der Theresienwiese.«)

Mit 200.000 Flüchtlingen hatte das Bundesamt für Migration ursprünglich im laufenden Jahr gerechnet. Jetzt werden es wahrscheinlich 300.000. In einigen Bundesländern hat sich die Zahl der Aufzunehmenden innerhalb der vergangenen fünf Jahre vervielfacht.

Die Medien greifen zu drastischen Betitelungen, die zuweilen über das eigentliche Problem hinausschießen: Die deutsche Flüchtlingskatastrophe, so hat beispielsweise Nadine Oberhuber ihren Beitrag überschrieben. Wenn man eine solche Begrifflichkeit verwenden würde für die Lage in Teilen der Türkei oder noch schlimmer im Libanon, dann wäre das sicher gerechtfertigt. Davon abgesehen stellt Oberhuber eine scheinbar einfache Frage – und liefert sogleich eine enttäuschende Antwort:

»Es muss doch Kommunen geben, die Asylbewerber gut unterbringen und bei denen Sozialarbeiter und Ärzte daran arbeiten, sie professionell zu betreuen. Es kann sein, dass es solche positiven Beispiele gibt – das Problem ist nur: Sie sind verdammt selten geworden. Bei dem derzeitigen Ansturm neuer Flüchtlinge können selbst Vorzeigekommunen kaum noch gute Arbeit leisten.«

Oberhammer berichtet, dass es gute Ansätze gab, »mit denen Länder und Stadtstaaten die Unterbringung verbessern wollten: Berlin etwa beschloss 2003, Flüchtlinge nur noch dezentral unterzubringen. Also nicht mehr in Sammelunterkünften, sondern über die Stadt verteilt in Einzelwohnungen. Viele halten das für die beste Art, denn das ermögliche den Asylsuchenden ein selbstbestimmtes Leben und integriere sie vor allem in die Gesellschaft. Köln und einige andere Städte schlossen sich der Idee Berlins an. Einige Flächenländer wie Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz schafften es sogar, über 80 oder sogar 90 Prozent aller Asylbewerber in eigenen Wohnungen unterzubringen.« Aber das wird immer schwieriger bis unmöglich, je mehr Menschen Aufnahme suchen. Andere Bundesländer sind andere Wege gegangen: Baden-Württemberg, Brandenburg und Sachsen sind diejenigen Länder, die den Großteil aller Asylsuchenden in Sammelunterkünften einquartieren. In Aufnahmeheimen, in denen die Zustände oft erbärmlich sind, wenn Flüchtlinge zu siebt oder acht in ein Zimmer gepfercht werden, Minderjährige allein und ohne Betreuung in diesen Heimen leben.

„Die Situation entgleitet den meisten, selbst wer bisher sagte: Wir wollen die Menschen gut unterbringen, der wird überrollt und ist jetzt bei der Containerunterbringung angelangt“ – mit diesen ernüchternden Worten wird die Politologin Jutta Aumüller zitiert, die derzeit in einem Projekt für das Institut für Entwicklung und Soziale Integration (DESI) die Lage in Flüchtlingsheimen untersucht. Sie weist darauf hin, dass es viele Kommunen gibt, die sich anstrengen – „aber ich erlebe derzeit nur noch Kommunen unter Druck“.

Natürlich geht es auch wie immer um die Finanzierung. »Bisher tragen die Bundesländer die Kosten für die Unterbringung und jedes Land setzt jeweils die Sätze selbst fest, die es den Kommunen dafür zahlt … Theoretisch bekommen die Kommunen also die Kosten für die Unterbringung ersetzt – praktisch reichen die Summen aber bei Weitem nicht aus.« Es sind allerdings eher die Gemeinden, die nicht gerade vor Geld strotzen, die sich für die Asylanten einsetzen, wie Jutta Aumüller beobachtet haben will. »Zumindest kann sie nicht erkennen, dass in finanzstarken Gegenden die Flüchtlinge besser untergebracht würden. Baden-Württemberg wird gelegentlich von Experten als Beispiel für Unterkünfte genannt, die „das nackte Grauen sind“.«

Dazu gesellen sich natürlich auch noch andere Probleme, die aus der akuten Überforderung resultieren. Auch wenn man jetzt, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist, gegensteuert und eine bessere Betreuung zu organisieren versucht, dann fehlen oftmals die qualifizierten und geeigneten Fachkräfte, die man eben nicht aus dem Ärmel schütteln kann.

Bereits Anfang Oktober gab es in der Tageszeitung taz einen Themenschwerpunkt mit lesenswerten Beiträgen, die unterschiedliche Perspektiven der Flüchtlingsfrage aus- bzw. zumindest anleuchten. So beispielsweise ein Interview mit Manfred Schmidt, dem Leiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit der bezeichnenden Überschrift „Stimmung darf nicht kippen“. Und auch hier begegnet man wieder dem Engagement vor Ort: »Die Menschen in Balingen haben den Wunsch, Flüchtlingen zu helfen. Ganz pragmatisch. Sie gründen ein Asylcafé. Trotz aller Unterschiede entsteht dabei Nähe«, kann man dem Artikel Reich und Arm verwoben entnehmen.

Viele der Flüchtlinge haben es in die Festung Europa geschafft über das Meer am Südrand der EU, dem Urlaubsparadies für viele Europäer. Das mittlerweile zu einem großen Friedhof geworden ist – denn noch nie sind so viele Menschen bei dem Versuch, nach Europa zu kommen, elendig ertrunken. Vor diesem Hintergrund irritiert auf den ersten Blick eine Artikelüberschrift, die da lautet: Das Meer der Hoffnung. Aber das ist durchaus berechtigt. Gestiftet haben die Italiener diese Hoffnung. Seit November 2013 läuft in der Straße von Sizilien der „Mare Nostrum“-Einsatz, patrouillieren Schiffe und Flugzeuge bis weit hinunter vor die libysche Küste. Es geht um einen „proaktiven Einsatz“, der darauf zielt, Schiffe in Not aufzuspüren und für die schnellstmögliche Rettung zu sorgen, durch eigene Einheiten oder per Alarmierung von Handelsschiffen in der Unglückszone.
Italiens Regierungschef Matteo Renzi bilanzierte vor der UNO-Vollversammlung:

»Zu oft …  verwandle sich das Mittelmeer „in einen Friedhof“, Mare Nostrum aber habe „80.000 Menschenleben dem Friedhof Mittelmeer entrissen.«

Dieses Jahr sind schon fast 140.000 Menschen über das Meer nach Italien gekommen und Mare-Nostrum-Schiffe haben sogar mehr Flüchtlinge gerettet, als die 80.000, die Renzi in seiner Rede erwähnt hat: über 90.000. Aber auch hier wieder das Geld: Italien hatte monatelang gefordert, die EU solle sich an den Kosten für Mare Nostrum beteiligen. Denn das Rettungsprogramm kostet Rom an die 100 Millionen Euro im Jahr. Und nun soll nach Mare Nostrum „Triton“ kommen, ein neu definierter Einsatz der Europäischen Grenzagentur Frontex. Was da auf uns bzw. auf die Flüchtlinge zukommt, offenbart dieses Zitat:

»Triton: Unter diesem Namen sollen in Zukunft die Kontrolleinsätze an den europäischen Außengrenzen vor Italien und Malta laufen, mit einem weit bescheideneren Budget von 36 Millionen Euro. Doch Frontex-Chef Gil Arias-Fernández stellt sofort klar, dass „Triton Mare Nostrum nicht ersetzen wird“ – schlicht, weil Frontex keinen humanitären Auftrag habe: „Wir sind keine Agentur, die sich mit der Lebensrettung auf hoher See befasst“, resümiert Arias trocken.«

Eigentlich müsste Mare Nostrum unbedingt erhalten bleiben, denn das Sterben im Mittelmeer geht weiter: »Allein in der Woche vom 10. zum 15. September kamen bei drei Unglücken über 700 Menschen ums Leben.«

Und der „Nachschub“ ist leider sicher. Am Beispiel Eritrea verdeutlicht das Dominic Johnson in seinem Beitrag Der Horror in der Wüste: »Wer es aus dem ostafrikanischen Land nach Deutschland schafft, hat oft Unvorstellbares hinter sich.« Und das ist auch ein Thema für uns in Deutschland: Aus keinem Land nimmt die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland so stark zu wie aus Eritrea: 7.898 Erstanträge in den ersten acht Monaten dieses Jahres, verglichen mit 703 im Vorjahreszeitraum. Nach Syrien und Serbien stehen Menschen aus Eritrea bereits auf Platz 3 der Länder, aus denen die meisten Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Und ein Ende ist nicht abzusehen, denn kaum ein Land bietet seinen Bürgern so viele gute Fluchtgründe wie Eritrea. Weitere Details in dem Artikel.
Und Serbien wurde ja schon erwähnt – also eines dieser Länder in unserer Nähe, das vor kurzem zu einem „sicheren Staat“ erklärt worden ist, um die Menschen von dort schnell wieder loswerden zu können. Dazu der Beitrag An einem gottverlassenen Ort: »In einer Wellblechsiedlung nahe Belgrad wohnt ein junger Rom mit seiner Familie. Zwei Mal war er schon in Deutschland, seine Tochter ist dort zur Schule gegangen. Vor einigen Wochen wurde die Familie abgeschoben.« Was aber nicht das Ende der Geschichte bedeuten wird, wie Andrej Ivanji seinen Artikel beendet: „Besser lebendig in Deutschland als tot in Serbien“, sagt Sajin lächelnd. Er habe noch Familie in Deutschland, er sei ein freier Mann mit einem Reisepass. Er werde sie besuchen.