62 = 3,5 Milliarden. Menschen. Die Zunahme der extremen Ungleichheit setzt sich fort. Auch in Deutschland

Was sich kaum einer vorstellen kann: 3,5 Mrd. Menschen. Das ist genau die Hälfte der derzeitigen Weltbevölkerung. Eine unvorstellbar große Zahl. Und alle zusammen haben so viel wie ein Raum voll Menschen, genauer gesagt: 62 überwiegend Männer. Behauptet die Organisation Oxfam in ihrem neuen Report An Economy for the 1%. How privilege and power in the economy drive extreme inequality and how this can be stopped. Die hat öffentlichkeitswirksam kurz vor Beginn des Weltwirtschaftsforums 2016 im schweizerischen Davos die neuen Ungleichheitszahlen veröffentlicht. Nicht nur die plakative Relation von ganz weit oben und dem unteren „Rest“ ist interessant, die Organisation legt den Finger auf strukturelle Ursachen und macht zugleich politische Vorschläge, wie man das ändern könnte: »Die Spirale der wachsenden sozialen Ungleichheit dreht sich weiter: Mittlerweile besitzt ein Prozent der Weltbevölkerung mehr Vermögen als der Rest der Welt zusammen. Nur 62 Menschen besitzen genauso viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Das derzeitige Wirtschaftssystem kommt vor allem den Reichen zugute und vertieft weltweit die Kluft zwischen Arm und Reich. Ein wesentlicher Grund ist eine ungerechte Steuerpolitik. Reiche Einzelpersonen halten in Steueroasen rund 7,6 Billionen US-Dollar versteckt, neun von zehn großen Unternehmen haben mindestens eine Tochterfirma in Steueroasen. Sie entziehen sich damit ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Wer soziale Ungleichheit und Armut bekämpfen will, muss Steuergerechtigkeit schaffen und Steueroasen trockenlegen«, so Oxfam in dem Hintergrundpapier Ein Wirtschaftssystem für die Superreichen. Wie ein Unfaires Steuersystem und Steueroasen die soziale Ungleichheit verschärfen.

Die Resonanz in den Medien ist groß: 62 Superreiche besitzen so viel wie die ärmsten 3,6 Milliarden oder 62 Superreiche besitzen so viel wie die halbe Welt oder Reich und Reich gesellt sich gern, um nur drei Beispiele zu erwähnen. Oxfam kritisiert eine weitere Verschärfung der globalen extremen Ungleichheit: Während die ärmere Bevölkerungshälfte in den letzten fünf Jahren eine Billion Dollar verloren hat, ist das Vermögen der 62 reichsten Menschen der Welt um eine halbe Billion Dollar gewachsen.

Das wir mit einer expandierenden Ungleichheit konfrontiert sind, die nicht nur Quelle für viele konflikthafte Zuspitzungen ist – bis hin zu den anschwellenden Flüchtlingsbewegungen -, sondern selbst in den Kerninstitutionen des kapitalistischen Systems zunehmend mit Besorgnis gesehen wird, weil sie sich negativ auswirkt auf dort hoch relevante Parameter wie beispielsweise das Wirtschaftswachstum, verdeutlicht dieses Zitat:

»… auch die Wirtschaftskraft der Staaten leidet. Nach Berechnungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist die Wirtschaft in 19 Staaten zwischen 1990 und 2010 um 4,7 Prozentpunkte weniger gewachsen, als das bei unveränderter Ungleichheit der Fall gewesen wäre. OECD-Generalsekretär Angel Gurría spricht bereits von einem Wendepunkt: „Noch nie in der Geschichte der OECD war die Ungleichheit in unseren Ländern so hoch wie heute“, sagt er.«

Was treibt diese Entwicklung an? Oxfam erläutert dazu:

»Ein Grund für diese Entwicklung ist die unzureichende Besteuerung von großen Vermögen und Kapitalgewinnen sowie die Verschiebung von Gewinnen in Steueroasen. Investitionen von Unternehmen in Steuerparadiesen haben sich zwischen 2000 und 2014 vervierfacht. Neun von zehn der weltweit führenden Großunternehmen haben Präsenzen in mindestens einer Steueroase. Entwicklungsländern gehen auf diese Weise jedes Jahr mindestens 100 Milliarden US-Dollar an Steuereinnahmen verloren.
Alleine die afrikanischen Staaten kostet es jährlich rund 14 Milliarden US-Dollar, dass reiche Einzelpersonen ihr Vermögen in Steueroasen verschieben. Mit dem Geld ließe sich in Afrika flächendeckend die Gesundheitsversorgung für Mütter und Kinder sicherstellen, was pro Jahr rund vier Millionen Kindern das Leben retten würde.«

Den Trend umzukehren, sei nicht aussichtslos, aber es werde „sehr schwierig“, so Oxfam-Chefin Winnie Byanyima. Die Organisation fordert die Eindämmung von Steueroasen und die stärkere Besteuerung hoher Einkommen.

Und ist das alles auch ein Problem für Deutschland? Dazu Oxfam im Hintergrundpapier Ein Wirtschaftssystem für die Superreichen. Wie ein Unfaires Steuersystem und Steueroasen die soziale Ungleichheit verschärfen:

»Im Vergleich zu anderen OECD-Ländern ist in Deutschland die Ungleichheit bei Vermögen, Einkommen und Chancen besonders hoch und in den vergangenen Jahrzehnten massiv angestiegen.«

Es werden drei Hauptargumente für diese Bewertung vorgetragen:

  • Die reichsten zehn Prozent der Haushalte in Deutschland besitzen mindestens 63 Prozent des Gesamtvermögens. Der größte Anteil dieser Vermögensungleichheit geht auf Erbschaften und Schenkungen zurück.
  • Deutschland weist die höchste Vermögensungleichheit in der Eurozone auf.
  • Die Lohnspreizung hat in Deutschland seit dem Jahr 2000 erheblich zugenommen. Die Löhne der ärmsten zehn Prozent der sozialversicherungspflichtig Vollzeit-Beschäftigten sind inflationsbereinigt zwischen 2000 und 2005 um zwei Prozent gesunken und zwischen 2005 und 2010 um weitere sechs Prozent. Die reichsten zehn Prozent in der Einkommensskala haben dagegen enorm hinzugewonnen.

Auch der Verteilungsbericht 2015 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) kommt nach Auswertung der verfügbaren Daten zur Einkommensungleichheit zu Befunden, die skeptisch stimmen müssen:

»Deutschland … erlebt seit einigen Jahren einen deutlichen konjunkturellen Aufschwung. Die Erwerbstätigkeit ist auf Rekordniveau und auch die Reallöhne sind zuletzt angestiegen. Dennoch … geht die Einkommensungleichheit nicht zurück. Sie ist vielmehr am aktuellen Rand wieder leicht angestiegen. Gleichzeitig werden Armuts- und Reichtums- positionen immer dauerhafter.« (S. 2)

In ihrem Fazit schreiben die Wissenschaftler des WSI:

»Die sehr Reichen schweben regelrecht über den konjunkturellen Krisen, während viele Arme auch von einem länger andauernden wirtschaftlichen Aufschwung kaum profitieren können. Die Einkommensverteilung ist in den letzten drei Jahrzehnten deutlich undurchlässiger geworden – und mit ihr hat sich auch die Chancengleichheit verringert. Gleichzeitig steigt der Anteil der Gewinn- und Vermögenseinkommen am Volkseinkommen und damit die Bedeutung von privaten Vermögen bzw. Renditen und Kapitalgewinnen. Europaweit hat Deutschland die höchste Vermögensungleichheit … Zudem sind Vermögenseinkommen deutlich unabhängiger von der konjunkturellen Entwicklung als dies bei den Erwerbseinkommen der Fall ist. Wenn die Bedeutung von Erwerbseinkommen abnimmt – am oberen Ende zugunsten von Vermö- genseinkommen, am unteren zugunsten staatlicher Transferzahlungen – verstärkt das die Entkoppelungstendenz zusätzlich.« (S. 13)

Hartz IV ist eigentlich zu niedrig, aber … Neues aus einem mehr als 40 Mrd. Euro schweren „System“, in dem man zuweilen sehr unsystematisch für eine ganz bestimmte „Ordnung“ sorgt

Eigentlich müsste man, aber … Das Muster kennt man von vielen sozialpolitischen Baustellen. Vor wenigen Tagen wurde hier berichtet: Zahlen können geduldig sein. Hartz IV ist nach den vorliegenden Daten zu niedrig, doch bei den eigentlich notwendigen Konsequenzen sollen sich die Betroffenen – gedulden. Da ging es um die Tatsache, dass eigentlich eine Neuberechnung der Hartz IV-Leistungen erforderlich ist angesichts der Tatsache, dass die neuen Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 mittlerweile vorliegen und die bisherigen Leistungen noch auf der Datengrundlage der EVS 2008 bemessen worden sind, so dass eine Anpassung erfolgen müsste, wenn der Gesetzgeber seine eigene Vorschrift im § 28 SGB XII „Ermittlung der Regelbedarfe“ umsetzen würde. Will er auch, aber eben nicht so schnell: Mit einer Erhöhung der Regelsätze aufgrund der neuen Daten können die Hartz IV-Empfänger erst Anfang 2017 rechnen, denn – so das Bundesarbeitsministerium –  zunächst werde man die Ergebnisse der EVS prüfen und bei den Statistikern neue Sonderauswertungen in Auftrag geben. Bloß nichts überstürzen. Das an sich ist schon mehr als kritikwürdig.

Nunmehr erreicht uns eine weitere Hiobsbotschaft für die eigentlich erforderliche sorgfältige Systematik bei der Bestimmung der Leistungen, mit denen immerhin das „soziokulturelle Existenzminimum“ abgesichert werden soll: Nahles wegen Hartz-IV-Berechnung in der Kritik, so beispielsweise Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles lässt die Hartz-IV-Sätze nach einem Modell berechnen, dass schon Vorgängerin Ursula von der Leyen verwendete. Diese Berechnungsmethode hatte Nahles vor Jahren heftig kritisiert. Neben der Tatsache, dass wir wieder einmal Zeuge werden müssen, dass das Motto „Was schert mich mein Geschwätz von gestern“ offensichtlich eine Konstante im politischen Geschäft ist, geht es hier um das „Eingemachte“ im Grundsicherungssystem.

Zum besseren Verständnis muss man etwas zurückblicken. Dazu Thomas Öchsner in seinem Artikel: Als die damalige Bundessozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) 2010 die Hartz-IV-Regelsätze neu berechnen ließ, warfen ihr die Kritiker vor, getrickst zu haben, um Geld zu sparen. »Ihre Nachfolgerin Andrea Nahles, damals in der Opposition, war ebenfalls empört. Von der Leyen, sagte die SPD-Politikerin, habe die Hartz-IV-Sätze „künstlich heruntergerechnet“. Nun muss Nahles selbst neu rechnen lassen – und orientiert sich dabei an den von ihr heftig kritisierten Vorgaben der Vorgängerin.« Worum geht es genau?

Bei der Berechnung kommt es entscheidend darauf an, welche Vergleichsgruppe der nach Einkommen geschichteten Ein-Personen-Haushalte herangezogen wird.

»Von der Leyen geriet in die Kritik, weil sie die einkommensschwächsten 15 Prozent heranzog, um den Hartz-IV-Satz für Alleinstehende zu ermitteln . Zuvor hatten die unteren 20 Prozent als Basis gedient. Ein finanziell gewichtiger Unterschied, da die Gruppe der unteren 15 Prozent ein geringeres Einkommen hat als die unteren 20 Prozent der Haushalte.«

Aus der Vergleichsgruppe der einkommensschwächsten 15 Prozent der Haushalte rechnete das Ministerium die Hartz-IV- und Sozialhilfeempfänger selbst heraus, um sogenannte Zirkelschlüsse zu vermeiden. So weit, so richtig, aber: Auch die „Aufstocker“ hätte man heraus nehmen müssen, so die Kritiker, also Hartz-IV-Bezieher, die zusätzlich erwerbstätig sind und so wenig verdienen, dass sie aufstockenden Grundsicherungsleistungen in Anspruch nehmen müssen. Und dann gab (und gibt) es noch die so genannten „verdeckt Armen“, also Menschen, die eigentlich Anspruch hätten auf SGB II-Leistungen, diese aber nicht in Anspruch nehmen (vgl. dazu grundsätzlich die Studie vor Irene Becker, Verdeckte Armut in Deutschland. Ausmaß und Ursachen, aus dem Jahr 2007). Immer noch (und für den „Kostenträger“: Gott sei Dank) keine kleine Gruppe. Die hätte man auch herausfiltern müssen. Hat man aber nicht.

In einer Antwort auf eine Anfrage der Linken im Bundestag, aus der Öchsner zitiert, »kündigt das Arbeitsministerium nun an, es bei der Referenzgruppe für Alleinlebende bei den „unteren 15 Prozent“ zu belassen. Auch werde man daraus nur Haushalte herausrechnen, „die über kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit verfügen“. Die Aufstocker bleiben also drin, genauso wie die verdeckt Armen.«

Schon 2010 hätte der Regelsatz im Hartz IV-System um mindestens 30 Euro höher liegen müssen, wenn man der eigentlich gebotenen Berechnungslogik gefolgt wäre.

Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, verlangt von Nahles, „zu einer seriösen Herleitung der Regelsätze zurückzukehren“. Auch der Caritasverband spricht sich dafür aus, wieder die unteren 20 Prozent der Haushalte heranzuziehen und sich nicht von fiskalischen „Überlegungen zur Ausgabenbegrenzung“ leiten zu lassen.

Aber daraus wird – jedenfalls nach dem derzeitigen Stand der Dinge – nichts. Es wird wieder ein zu geringer Betrag herauskommen und das dann auch noch aufgrund der bereits erwähnten Verschiebetaktik viel zu spät.

Wir reden hier bekanntlich nicht von üppigen Beträgen, ganz im Gegenteil, es gibt zahlreiche Kritiker, die die gegebene Höhe des Hartz IV-Regelsatzes – also bei alleinstehenden Personen derzeit noch 399 Euro, ab dem neuen Jahre dann fünf Euro mehr – für eindeutig zu niedrig klassifizieren. Vgl. dazu beispielsweise Irene Becker, Bedarfsbemessung bei Hartz IV. Zur Ableitung von Regelleistungen auf der Basis des „Hartz-IV-Urteils“ des Bundesverfassungsgerichts, eine Expertise aus dem Jahr 2010, aus diesem Jahr auch Anne Lenze, Regelleistung und gesellschaftliche Teilhabe, sowie den Artikel Die Kosten für ein menschenwürdiges Leben.

»Was braucht ein Mensch zum Leben? Früher errechneten Experten die nötigen Tageskalorien und packten Kartoffeln in imaginäre Warenkörbe. Heute runden sie Statistiken ab«, so Lisa Caspari in ihrem Artikel Definiere Existenz und Minimum aus dem Januar 2015. Bis in die 1980er Jahre wurde das Existenzminimum nach der „Warenkorb“-Methode ermittelt. Der Warenkorb geriet in Verruf – auch weil er zwischen 1976 und 1986 einfach mal zehn Jahre nicht aktualisiert wurde. Aber die neue, heute gängige Methode hat offensichtlich auch ihre Tücken.

Gewissermaßen an der alten Methode setzen Fundamental-Kritiker der gegenwärtigen Bestimmung der Regelleistungen im Hartz IV-System an – und sie bilden damit das obere Ende des Antwortspektrums ab, wie hoch denn der Regelsatz sein müsste/sollte. Diese Frage wird sicher unweigerlich von vielen aufgerufen werden. So wird derzeit beispielsweise aus den Reihen der Wohlfahrtsverbände statt der 399 Euro pro Monat ein Regelsatz von 485 Euro gefordert. Aus der Perspektive der Fundamental-Kritiker ist auch das noch viel zu wenig.
Erst 730 Euro Hartz-IV-Satz decken das soziokulturelle Existenzminimum, so ist ein Interview mit einem ausgewiesenen Vertreter dieser Richtung überschrieben: Lutz Hausstein.
Der versucht schon seit Jahren eine ganz eigene Art der Ermittlung dessen, was die Menschen bräuchten. Die neuste Ausgabe seiner Berechnungen:

Lutz Haustein: Was der Mensch braucht. Empirische Analyse zur Höhe einer sozialen Mindestsicherung auf der Basis regionalstatistischer Preisdaten. Stand: Mai 2015

Was kritisiert Hausstein?

»Viele Menschen können sich unter den Bedingungen von Hartz IV auch einfachste Selbstverständlichkeiten nicht mehr leisten, weil sie zu wenig Geld zur Verfügung haben.
350.000 Haushalten wurde 2013 etwa der Strom abgeschaltet, weil sie die Rechnung nicht mehr bezahlen konnten. Und 1,5 Millionen Menschen müssen jede Woche den für sie demütigenden Weg zu einer Lebensmitteltafel antreten, weil ihr Geld nicht fürs Essen reicht.«

Ihn bewegen die vielen demütigenden Umstände, viele zwangsweise Verzichte auf einfache Dinge, die für jeden anderen in unserer Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit sind. Und dann geht es gegen die amtliche Berechnungsmethodik. Sein zentraler Ansatzpunkt dagegen:

»Immer wieder wird durch Politiker gegenüber der Öffentlichkeit gebetsmühlenartig wiederholt, dass damit der Bedarf ermittelt würde. Doch eben dies ist überhaupt nicht Inhalt der Statistik-Methode auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), … Mithilfe der … Statistikmethode wird nur das Ausgabeverhalten eines ebenfalls armen Bevölkerungsteils ermittelt, der aufgrund seines eigenen, sehr niedrigen Einkommens auch nur wenig Geld zur Verfügung hat. Mit einer Bedarfs- Ermittlung hat dies jedoch nichts zu tun.«

Und er bringt seine Kritik an diesem methodischen Ansatz mit einem Bild auf den Punkt:

»Ich vergleiche das gern mit der absurden Situation, wenn sich jemand mit einem Digitalthermometer an die Autobahn stellen würde, um damit die Geschwindigkeit der vorbeifahrenden Autos zu messen. Das Thermometer liefert absolut exakte Daten, sogar bis auf die zweite Kommastelle genau. Wenn man diese Zahlen nun allerdings öffentlich als gemessene Geschwindigkeiten bezeichnen würde, wäre das Gelächter riesengroß. Zurecht. Wenn allerdings die Ausgaben eines ebenfalls armen Bevölkerungsteils, der selbst bereits Mangel leidet, als „Bedarf“ einer immer größer werdenden Bevölkerungsgruppe dargestellt werden, herrscht andächtige Stille.«

Hausstein outet sich als Anhänger der Warenkorb-Methode: »Die benutzte Aufstellung eines Warenkorbs ist ja nun keineswegs eine Erfindung von mir. Denn von 1955 bis 1990 wurden schon mithilfe des Warenkorbmodels soziale Sicherungsleistungen berechnet.«

Um seine eigene, subjektive Wahrnehmung zu reduzieren, wurde jede einzelne Bedarfsposition in seiner Studie zudem von mehreren, unabhängigen Personen auf Plausibilität überprüft, um somit am Ende zu größtmöglicher Objektivität zu gelangen.
Das Ergebnis seiner Berechnungen:

»Um unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Voraussetzungen mit einem Minimum an Lebensstandard leben zu können, werden rund 730 Euro monatlich benötigt. Zuzüglich der regional erheblich differierenden Wohnkosten.
Der aktuell gültige Betrag von 399 Euro hingegen reicht gerade einmal knapp dafür aus, die grundlegenden, physischen Lebensbedürfnisse abzudecken. Eine soziokulturelle Teilhabe ist damit jedoch keinesfalls möglich oder muss durch einen Verzicht physischer Notwendigkeiten schmerzhaft „gegenfinanziert“ werden.«

Nun haben wir also – ausgehend von en derzeit 399 Euro Regelsatz – das Spektrum dessen aufgemacht, dass von den Kritikern als erstrebenswert ausweisen wird: Es bewegt sich zwischen 485 Euro und 790 Euro, wohlgemerkt: Zuzüglich der zu übernehmenden angemessenen Wohnkosten.

Womit wir übrigens bei einer weiteren Problembaustelle des Grundsicherungssystem angekommen wären, die hier zumindest erwähnt werden soll: Die („angemessenen“) Kosten der Unterkunft, die übernommen werden müssen. Die Frage der „Angemessenheit“ der Unterkunftskosten ist ein leidiges Streitthema und Gegenstand vieler sozialgerichtlicher Verfahren. Denn viele Jobcenter weigern sich, bestimmte Miethöhen voll zu übernehmen und verweisen auf die Nicht-Angemessenheit. Mit gravierenden Folgen: Hartz-IV-Empfänger zahlen bei Miete mit, so hat Stefan Vetter seinen Artikel in der Saarbrücker Zeitung überschrieben. Das Problem: »399 Euro bekommt ein Hartz-IV-Empfänger, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch oft müssen sie davon auch einen Anteil an ihren Mietkosten zahlen.« Damit verschärft sich natürlich das bereits verhandelte Grundproblem, dass die 399 Euro an sich schon zu niedrig angesetzt sind. Jetzt wird davon also noch was abgezogen für einen anderen Bereich. Und es handelt sich hier nicht um Peanuts: »Nach einer Datenübersicht der Bundesagentur für Arbeit … mussten die Bedarfsgemeinschaften im vergangenen Jahr rund 620 Millionen Euro aus ihren Regelleistungen für die Unterbringung beisteuern … Den Daten zufolge fehlen einem Hartz-IV-Haushalt damit im Schnitt rund 16,50 Euro im Monat beziehungsweise 197 Euro im Jahr für anderweitige Ausgaben.«

Durch  zu niedrige Angemessenheitsgrenzen spart der Staat auf Kosten der Betroffenen, die sich zum Beispiel beim Essen oder ihrer Mobilität einschränken müssen, um das gegenfinanzieren zu können.
Und auch in einem anderen Bereich haben die Grundsicherungsempfänger echte Probleme – bei den Stromkosten von Hartz-IV-Haushalten, die, anders als Miete und Heizkosten, nicht als sogenannte Kosten der Unterkunft gesondert gezahlt werden. »Bislang ist der Stromverbrauch Teil des Regelsatzes, aus dem auch Essen und Kleidung bezahlt werden muss. Aufgrund der gestiegenen Preise gilt als sicher, dass der im Hartz-IV-Satz eingerechnete Anteil für Strom längst nicht mehr ausreicht und die Stromrechnung zulasten anderer Ausgabenpositionen geht«, so Axel Fick in seinem Artikel Neue Hartz-IV-Sätze erst Ende 2016.

Bleibt natürlich die Frage, warum der Gesetzgeber so einen Widerstand und so eine Verzögerungstaktik an den Tag legt, wenn es um eine systematisch eigentlich gebotene Anpassung der Regelleistungen nach oben geht. Die nicht wirklich überraschende Antwort lautet natürlich: wegen der Kosten, die damit verbunden sind. Und das in mehrfacher Hinsicht.

  • Die Höhe der Regelleistungen im Grundsicherungssystem hat Auswirkungen auf den Grundfreibetrag im Einkommenssteuerrecht, der sich daran orientiert – und jede Anhebung führt zu milliardenschweren Steuerausfällen. Das ist eine der wichtigsten Bremsen innerhalb des gegebenen Systems.
  • Eine Anhebung hätte natürlich entsprechende Auswirkungen in der Grundsicherung für Ältere nach dem SGB XII. Angesichts der stark steigenden Altersarmut würden damit die aufstockenden Leistungen entsprechend ansteigen müssen.
  • Eine mögliche Anhebung hätte natürlich auch Folgen für den „Lohnabstand“ bei den unteren Einkommensgruppen, der entsprechend verkleinert würde mit der unmittelbaren Folge, dass die Zahl der Aufstocker bei den Niedrigeinkommensbeziehern steigen würde.
  • Und insgesamt ist mit der Frage der konkreten Leistungshöhe aus Sicht der verantwortlichen Politiker natürlich auch immer verbunden die Frage der gesellschaftlichen Legitimation – einmal gegenüber denjenigen, die mit ihren Steuern diese Leistungen finanzieren müssen, zugleich aber auch hinsichtlich der Signalfunktion an die Leistungsempfänger, sich nicht in dem Sicherungssystem einzurichten, sondern auch bereit zu sein, schlecht bezahlte Erwerbsarbeit aufzunehmen.

Wenn man diese Aspekte aufaddiert, dann wird verständlich, warum es so massive Widerstände gegen eine an sich gebotenen Anhebung der Leistungen gibt. Das ändert aber gar nichts an der Notwendigkeit einer sachlichen Diskussion über die Angemessenheit der Grundsicherungsleistungen.

Die Tafeln und die Flüchtlinge. Zwischen „erzieherischer Nicht-Hilfe“ im bayerischen Dachau und der anderen Welt der Tafel-Bewegung

Derzeit gibt es mehr als 900 Tafeln in Deutschland. Alle sind gemeinnützige Organisationen. Bundesweit unterstützen sie regelmäßig über 1,5 Millionen bedürftige Personen mit Lebensmitteln – knapp ein Drittel davon Kinder und Jugendliche. Rund 60.000 Menschen in Deutschland engagieren sich ehrenamtlich und spenden ihre Freizeit und ihr Know-how: als Helfer vor Ort, Fahrer, Berater oder Dienstleister. Ein paar Stunden am Tag, in der Woche oder im Monat, so wie es die persönlichen Möglichkeiten zulassen. Soweit die Selbstdarstellung der Tafeln. Es geht hier nicht um die immer wieder geführte Debatte um das Für und Wider dieser Hilfe (vgl. dazu nur beispielsweise die Blog-Beiträge Wird die „Vertafelung“ unserer Gesellschaft durch eine unaufhaltsame Effizienzsteigerung auf Seiten der Lieferanten erledigt? vom 19. April 2015 sowie Von der fortschreitenden „Vertafelung“ der unteren Etagen unserer Gesellschaft und warum die Zahl derjenigen, die nicht in Urlaub fahren können, kein geeigneter Maßstab ist vom 29. Mai 2014). Sondern es geht um einen aktuellen Konflikt, der sich an dem (Nicht-)Umgang mit den Flüchtlingen entzündet hat. Das ging los mit so einer Meldung, die aus Dachau kommt: Kein Zutritt für Asylbewerber. Anna-Sophia Lang berichtete in ihrem Artikel: »Die Tafel gibt keine Lebensmittel an Flüchtlinge aus. Diese sollten lernen, mit ihrem Geld umzugehen, sagt Vorsitzender Bernhard Seidenath.« Der Mann ist einer dieser Mehrfachfunktionäre: Er ist als Kreisvorsitzender des Bayerischen Roten Kreuzes für die Tafel in Dachau zuständig und sitzt zugleich als Abgeordneter für die CSU im bayerischen Landtag. Der Mann hat so seine eigene Sicht auf die Dinge. Er wird beispielsweise mit diesen Worten zitiert: „Wer hier in Deutschland aufgewachsen ist, weiß, wie er sich sein Geld einteilen muss. Menschen, die aus anderen Kulturkreisen zu uns kommen und sich in unserem Land nicht auskennen, wissen das nicht.“ Und die Leiterin der Dachauer Tafel, Edda Drittenpreis, sekundiert dem forschen Rot-Kreuzler: „Das, was wir haben, essen die Asylbewerber ja alles nicht, die wollen Couscous und Kichererbsen.“ Offensichtlich wird es unappetitlich in dieser Geschichte.

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