Armutsforschung mit dem Thermometer sei eine spinnerte Idee? Nicht so in Großbritannien. Dort liebt man empirische Vorgehensweisen und dazu gehört eben auch immer das Messen. Also hat man für „Energiearmut“ eine Messdefinition entwickelt – und die geht so: Ein Haushalt gilt als energiearm, wenn er mehr als zehn Prozent seines Einkommens für den Kauf von Energie aufwenden muss, um im Hauptwohnraum 21 Grad Celsius und in den übrigen Räumen 18 Grad Celsius zu gewährleisten.
„Energiearmut“ bezeichnet vor allem keinen oder nur einen beschränkten Zugang zu Energieressourcen wie Strom. Bereits im Oktober 2012 wurde auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ in einem Beitrag über die relativ neue Wortschöpfung „Energiearmut“ berichtet – damals im Zusammenhang mit dem durch die EEG-Umlage bedingten Anstieg der Stromkosten. Und am 16. Februar 2015 wurde hier der Beitrag Hartz IV: Teurer Strom, Energiearmut und das ewige Pauschalierungsdilemma veröffentlicht. Die Stromkosten, die in einem Hartz IV-Haushalt anfallen, sind aus dem Regelsatz zu decken. Nun beläuft sich der Regelsatz derzeit auf 404 Euro pro Monat – und darin enthalten sind 33,76 Euro insgesamt für „Wohnen, Energie und Wohninstandhaltung“. In dem Beitrag vom 16. Februar 2015 wurde darauf hingewiesen, dass dieser Posten für 2015 mit 33,36 Euro pro Monat ausgewiesen wurde. Wir können also eine sensationelle Steigerung von 40 Cent pro Monat verbuchen.
Und schon damals wurde auf der Grundlage einer CHECK24-Analyse gezeigt, dass die Strompreise, aufs Jahr gerechnet, durchschnittlich 29 Prozent teurer sind als das, was in dem Regelsatz eingerechnet ist. Das bedeutet für Hartz-IV-Empfänger Mehrkosten von etwa 116 Euro im Jahr, die aus anderen Bestandteilen des Hartz IV-Regelsatzes gedeckt werden müssen.
Nun wissen wir alle, dass die wahren Steigerungsbeträge bei den Stromkosten irgendwie höher sind. Und das kann natürlich für den einen oder anderen – übrigens nicht nur für Hartz IV-Empfänger – zu einem massiven Problem werden, vor allem, wenn größere Nachzahlungen fällig werden.
Das Thema Energiearmut wird derzeit erneut aufgerufen: »Die Energieversorger in Deutschland klemmen immer häufiger wegen ausstehender Zahlungen den Strom ab. Die Stromsperre trifft vor allem arme Haushalte – und führen zu exorbitanten Folgekosten. Was hinter dieser Entwicklung steckt, haben Forscher der Universität Siegen untersucht«, so der Deutschlandfunk-Beitrag Von der Stromsperre in den Ruin. Energie-Armut als neues soziales Risiko.
Wohn- und Kinderzimmer bleiben dunkel, die Küche kalt. 2011 waren davon 312.000 Haushalte betroffen, 2014 schon 352.000 – Tendenz weiter steigend.
Sozialwissenschaftler der Universität Siegen haben in einem Forschungsprojekt die Frage untersucht, wer eigentlich von diesem Problem betroffen ist. Der Abschlussbericht zu dieser Studie wurde im Februar 2016 veröffentlicht:
➔ Christoph Strünck, Frank Luschen, Lisa Bleckmann, Nadine Schreiner: Energiearmut als neues soziales Risiko? Eine empirische Analyse als Basis für existenzsichernde Sozialpolitik, Siegen, 18.02.2016
Wen trifft die Energiearmut? Dazu können wir dem Deutschlandfunk-Beitrag entnehmen, dass arme Haushalte betroffen seien, zu denen aber keinesfalls nur Bezieher von Hartz IV zählten. Dazu Frank Luschei, Mitautor der Studie:
»Das haben wir relativ dezidiert untersucht und wir konnten … zeigen, dass es im Grunde genommen einen ganz großen Übergangsbereich von Beschäftigten gibt, die … ebenso von der Energiearmut betroffen sind.«
In Zahlen ausgedrückt, die man der Studie entnehmen kann: Von den Hartz IV-Haushalten »gelten 91,3 Prozent als energiearm. Erwerbsarbeit schützt jedoch nicht vor Energiearmut. Unter Haushalten mit Erwerbseinkommen beträgt die Quote der Energiearmen immerhin 14,7 Prozent … Alleinerziehenden-Haushalte (insg. 2,3 Mio.) sind von allen Haushalten am stärksten von Energiearmut betroffen. In diesen liegt der Anteil der Energiearmen – je nach Kinderzahl – bei rund 39 Prozent.« (Strünck et al. 2016: 148)
Und Christoph Strünck, der Leiter der Studie, wird in dem Deutschlandfunk-Beitrag ergänzend zitiert:
„Es gibt durchaus bemerkenswerte Preissteigerungen und Energie ist im internationalen Vergleich in Deutschland relativ teuer, das ist richtig, wir haben in unserem Projekt allerdings auch herausgefunden, dass die Energiekosten der Haushalte, auch der energiearmen Haushalte, nicht exorbitant hoch sind, also, es gibt kein spezifisches Ausgabenproblem. Es ist tatsächlich so, dass es eher ein Einkommensproblem ist. Die meisten Haushalte, die betroffen sind, haben zu wenig Geld für Energie, und Energie kann man auch nicht so einfach beeinflussen, man kann nicht so einfach auf Energie verzichten, wie das vielleicht bei dem einen oder anderen Konsumprodukt ist.“
Das angesprochene Einkommensproblem kann man so verdeutlichen: »Ein Drittel aller bundesdeutschen Haushalte hat keine finanziellen Rücklagen, schlimmer noch, viele seien verschuldet. Eine defekte Waschmaschine reicht, um solche Haushalte in den finanziellen Ruin und damit in die Stromsperre zu treiben.«
Allerdings wird in dem Beitrag des Deutschlandfunks auch darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der im § 19 der „Stromgrundversorgungsverordnung“ (StromGVV) grundsätzlich vorgeschriebenen Stromsperre einige Hürden eingebaut hat:
Ein vergleichsweise langes Mahnverfahren etwa, außerdem darf in Haushalten mit Schwangeren, chronisch Kranken oder Behinderten die Energie gar nicht gekappt werden.
Trotzdem kommt es auch in solchen Haushalten immer wieder zu Stromsperren, was – so die Siegener Studie – als „Versorgungsunfall“ bezeichnet werden kann. Dahinter kann das Problem stehen, dass der Stromversorger gar nicht darüber informiert ist, dass es sich um einen geschützten Haushalt handelt.
Ein wichtiger Punkt der Siegener Studie ist der Hinweis, dass es zu enormen Folgekosten kommt, wenn sich die „normale“ Sanktionsmaschine in Bewegung setzt:
»Energiesperren haben exorbitante Folgekosten. Mahn- und Verwaltungsgebühren fallen an, richtig teuer wird’s, wenn Inkassounternehmen das ausstehende Geld eintreiben, hinzukommt, dass die ohnehin finanziell am Limit operierenden Haushalte in die teure Grundversorgung fallen. Und wegen des negativen Schufa-Eintrags können sie kaum zu einem günstigeren Energieversorger wechseln. Der Kostenberg wächst und wächst! Und noch etwas ist ihnen versperrt: der Kauf energiesparender Elektrogeräte.«
Bleibt natürlich am Ende die Frage: Was tun?
Dazu die Siegener Forscher in ihren Empfehlungen (Strünck et al. 2016: 150 ff.):
Sie finden die These bestätigt, »dass es sich bei der Energiearmut in erster Linie um ein Einkommensproblem handelt. Daher wird eine Politik, die Energiearmut abmildern will, vor allem beim Einkommen energiearmer Haushalte ansetzen.«
Auf Platz 1 der Empfehlungen: Energiesperren stellen eine „existenzielle Bedrohung“ dar, indem sie Haushalte von grundlegenden Gütern der Daseinsvorsorge abschneiden. Insofern sollten sie vermieden werden. Erfahrungen zeigen, dass Stromsperren in den allermeisten Fällen vermeidbar sind – bereits mit dem vorhandenen Instrumentarium.
Darüber hinaus plädieren die Forscher für individualisierte Beratungsangebote. Den Bedarf dafür kann man aus dieser Schilderung ableiten: »Während die einen Haushalte extrem hohe Kosten für Strom und Heizen aufbringen und an anderen – evtl. existenziellen Gütern – sparen, erreichen andere Haushalte niedrige Energiekosten nur durch „Zwangssparen“ und gehen damit Risiken für ihre Gesundheit und die Wohnung durch Feuchtigkeitsschäden ein. Weitere Haushalte, z.B. von jungen Erwachsenen, drohen in eine Verschuldungsspirale zu geraten, wobei nicht nur niedrige Einkommen sondern auch mangelhafte Finanz- und Planungskompetenzen eine Rolle spielen können.« Auch die Energieversorgungsunternehmen werden in die Pflicht genommen: »Spätestens im Falle von wiederholten Zahlungsverzügen sollten die Energieversorger durch persönliche Beratungsangebote eindeutig signalisieren, dass sie zu individuellen Lösungen, z.B. Ratenzahlungen bereit sind und auf welchem Wege dies erreicht werden kann. Schriftliche Hinweise sind hierfür nicht ausreichend.«
Als ein weiterer Ansatzpunkt wird die Unterstützung beim Erwerb energieeffizienter Haushaltsgeräte genannt:
»Tauschmaßnahmen helfen Haushalten, dauerhaft zu sparen. Bestehende Programme zur Unterstützung des Austauschs von Großverbrauchern bieten häufig einen Zuschuss zu den Ausgaben für ein energieeffizientes Gerät. Nicht zuletzt unsere Daten zeigen jedoch, dass einkommensärmere Haushalte in den seltensten Fällen über die Rücklagen zur Anschaffung von effizienten Geräten verfügen. Insofern sind solche Austauschprogramme vorzuziehen, die zunächst ohne eine Eigenfinanzierung des Haushalts auskommen, wie z.B. das erstklassige Kühlschranktauschprogramm der Wuppertaler Stadtwerke … Hier werden die notwendigen Investitionen von den Stadtwerken übernommen und im Sinne eines Mini-Contracting über einen Kredit finanziert, deren Rückzahlungen lediglich in etwa in der Höhe der eingesparten Stromkosten liegen.« (Strünck et al. 2016: 152)
Ein wichtiger Punkt: Unterstützung von Haushalten mit niedrigem Einkommen oberhalb der Mindestsicherungsgrenzen. An dieser Stelle verweist die Studie auf eine Gruppe, die bei der oftmals vorherrschenden Fokussierung auf „die“ Hartz IV-Empfänger versus der Rest durch alle Roste fallen: »Denn während bei den Mindestsicherungsleistungen zumindest die Heizkosten weitgehend übernommen werden, haben einkommensschwache Haushalte mit einem Einkommen knapp oberhalb der Mindestsicherungsgrenze diese Möglichkeit nicht. Jegliche Preissteigerung trifft einen Haushalt oberhalb der Mindestsicherungsgrenze stark und wird nicht durch staatliche Hilfen abgefedert. Gerade diese Haushalte leiden aber besonders häufig unter Energiearmut.«
Eine Politik, die diese Haushalte effektiv unterstützen möchte, kann beim Wohngeld ansetzen, so die Siegener Studie. Allerdings sind hier die formalen Hürden sehr hoch und die Energiekosten müssten stärker in der Wohngeldbemessung berücksichtigt werden.
Unter Anpassung der Mindestsicherungsleistungen ist eine Erhöhung der Regelleistungen im Hartz IV-Bereich gemeint vor dem Hintergrund, dass die tatsächlichen Energiekosten nicht adäquat im Regelsatz abgebildet sind. Aber auch bei der Finanzierung der angemessenen Kosten der Unterkunft kann man durchaus steuern:
»Die Stadt Bielefeld nimmt hier seit 2007 eine Vorreiterposition ein. Bei der Wahl der Wohnungen gilt: Je geringer der Energieverbrauch, desto höher darf die Kaltmiete pro Quadratmeter sein. So können etwas teurere Kaltmieten-Wohnungen angemietet werden, wenn sie einen geringeren Energieverbrauch aufweisen.« Damit adressiert das Bielefelder Modell ein weit verbreitetes Dilemma: »Wohnungseigentümer erhalten so einen Anreiz zur Sanierung ihrer vermieteten Wohnungen. Derzeit besteht in vielen Städten das Problem, dass sich Sanierungen bei gleichbleibendem Mietpreis für die Eigentümer nicht lohnen und bei steigenden Preisen die ärmsten Haushalte nicht von der gesteigerten Effizienz profitieren, da sie sich die teurer gewordenen Kaltmieten nicht mehr leisten können.«
Das Bielefelder Modell könnte leicht auf das ganze Bundesgebiet ausgeweitet werden, indem eine Warmmietgrenze anstelle einer Kaltmietgrenze zu Grunde gelegt wird.
»Technische Hilfen, wie Prepaid-Systeme, Smart-Meter und Leistungsbegrenzungen, können zwar die Ursachen von Energiearmut nicht bekämpfen. Sie können aber wichtige Hilfsmittel sein, um Energiesperren mit ihren Begleit- und Folgekosten abzuwenden. Insofern ist sicherzustellen, dass solche Optionen einkommensschwachen Haushalten bei Bedarf kostengünstig zur Verfügung gestellt werden.«
Interessant auch: »Die flächendeckende Einführung von Sozialtarifen halten wir nicht für zielführend. Neben dem Problem einer genauen Zielgruppendefinition halten wir v.a. die Setzung von Fehlanreizen als besonders problematisch. Vielmehr sollten die Mindestsicherungssysteme so angepasst werden, dass sie stärker an den tatsächlichen Bedarfen orientiert sind.« (Strünck et al. 2016: 156).
Man kann unschwer erkennen, dass es durchaus eine Reihe an konkreten Ansatzpunkten gibt, mit denen man die Folgen der Energiearmut lindern oder gar beseitigen kann.
Man kann es natürlich auch so sehen: Energie sei ein Menschenrecht und dürfe niemandem vorenthalten werden, so der Bund der Energieverbraucher. Aber mit den Menschenrechten in der Praxis ist das dann immer so eine Sache, deshalb sollte man dann doch lieber seine Energie auf praktikable Lösungsansätze fokussieren.