Einkommensarmut von Kindern und Jugendlichen steigt durch Zuwanderung. Am Ende geht es wieder einmal um den Arbeitsmarkt

Die Zahl armer Kinder steigt neuen Zahlen zufolge – in erster Linie, weil Kinder von Flüchtlingen in prekären Verhältnissen leben. Aber auch unter einheimischen Kindern gibt es besonders gefährdete Gruppen. So beginnt Florian Diekmann seinen Artikel Zuwanderung lässt Kinderarmut steigen, in dem er über eine neue Untersuchung des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) berichtet.

»Im Jahr 2015 lebten demnach im Schnitt 2,55 Millionen Mädchen und Jungen in Deutschland in Familien mit so wenig Geld, dass sie als arm oder armutsgefährdet gelten. Das entspricht einem Anteil von 19,7 Prozent aller Minderjähriger – im Jahr zuvor waren es noch 19,0 Prozent und damit 77.000 Kinder weniger.« Ein genauerer Blick auf die Daten ergibt hinsichtlich der Frage, woher dieser Anstieg kommt, einen interessanten Befund: »Demnach lässt sich der gesamte Anstieg der relativen Kinderarmut in den vergangenen Jahren mit der Zuwanderung von Flüchtlingen erklären, die ab 2012 deutlich anstieg, im Jahr 2015 einen Höhepunkt erreichte und seitdem stark rückläufig ist.« Der WSI-Kinderarmutsbericht ist Teil des WSI-Verteilungsmonitors.

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EU-Kommission blickt kritisch auf die Armuts- und Ungleichheitsentwicklung in Deutschland

Die Europäische Kommission hält der Bundesregierung schwere Versäumnisse bei der Bekämpfung der sozialen Not in Deutschland vor. So Markus Sievers in seinem Artikel EU prangert Armut in Deutschland an. Er bezieht sich dabei auf einen in der hiesigen Debatte nur wenig rezipierten Bericht der EU-Kommission:

Europäische Kommission (2017): Länderbericht Deutschland 2017 mit eingehender Überprüfung der Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, Brüssel, 22.02.2017

Wörtlich schreibt die Brüsseler Behörde in ihrem aktuellen Länderbericht: „Im Zeitraum 2008 bis 2014 hat die deutsche Politik im hohem Maße zur Vergrößerung der Armut beigetragen.“ Wie kann das sein? Markus Sievers fasst die Argumentation der Kommission dahingehend zusammen, »dass bedarfsabhängige Leistungen „real und im Verhältnis zur Einkommensentwicklung gesunken sind“. Damit sind zwei Fehlleistungen angesprochen, die sich die Bundesregierung nach dem Befund der Kommission vorwerfen lassen muss. Erstens erhöhte sie die Unterstützung etwa für Hartz IV-Bezieher, Wohngeld-Empfänger oder BaföG-Berechtigte nicht einmal in dem Maß, um für die Betroffenen die Kaufkraftverluste durch die Preissteigerung auszugleichen. Zweitens ignorierte sie den  Wohlstandsanstieg in weiten Teilen der Bevölkerung, von dem die Menschen am unteren Ende der Einkommensskala abgekoppelt wurden.«

Im Länderbericht Deutschland 2017 der Kommission findet man diese Ausführungen:

»Trotz der insgesamt positiven Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklungen der vergangenen Jahre haben die Einkommensunterschiede zugenommen und schwächen sich erst seit Kurzem wieder ab, während die Vermögensungleichverteilung nach wie vor eine der größten im Euroraum ist.« (S. 7)

Woran macht die Kommission das fest?

»Bedingt durch ungünstige Entwicklungen am Arbeitsmarkt und das zunehmende Gewicht von Kapitaleinkünften im Vergleich zu Arbeitseinkommen wuchs die anhand des S80 /S20-Indikators* bestimmte Einkommensungleichverteilung bis 2007 auf 4,8 an. 2012 ging sie auf 4,3 zurück und stieg 2014 erneut auf 5,1. Wenngleich sie nach wie vor knapp unter dem EU-Durchschnitt liegt, war dies doch der höchste jemals erfasste Wert. Das gleiche Muster gilt auch für den GINI-Index.« (S. 7)
* Der S80/S20-Indikator – oder Einkommensquintilverhältnis – misst das verfügbare Äquivalenzeinkommen der reichsten 20 % der Haushalte im Verhältnis zu den ärmsten 20 %. 2015 lag der EU- Durchschnitt bei 5,2, d. h. das Einkommen des reichsten Fünftels der Haushalte lag 5,2-fach über dem Einkommen des ärmsten Fünftels.

Aber der Arbeitsmarkt brummt doch, die Beschäftigung erreicht immer neue Höchststände? Immer wieder hören und lesen wir vom „Jobwunder“ in Deutschland. Ja, aber … Mit dem „der“ Arbeitsmarkt ist das so eine Sache:

»Im relativ großen Niedriglohnsektor wurden neue Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen, was die Einkommensungleichverteilung und die Armut trotz Erwerbstätigkeit aber eher verschärft. Auch die durch die relativ starke Korrelation zwischen sozioökonomischem Hintergrund und Bildungsabschluss bedingten geringen Aufstiegschancen tragen weiter zu dieser Ungleichverteilung bei.«

Und die (mögliche) Umverteilungspolitik in Deutschland bekommt keine guten Noten:

»Auch haben die Umverteilungsmaßnahmen, die Ungleichverteilung und Armut entgegenwirken sollen, an Wirksamkeit eingebüßt. Im Zeitraum 2008-2014 hat die deutsche Politik in hohem Maße zur Vergrößerung der Armut beigetragen, was auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass die bedarfsabhängigen Leistungen real und im Verhältnis zur Einkommensentwicklung gesunken sind … Eine Reihe früherer Änderungen bei Steuern und Sozialabgaben könnten ebenfalls zu einem Teil für die nachlassende Wirksamkeit der Umverteilungsmaßnahmen verantwortlich sein. Die Abschaffung der Vermögenssteuer im Jahr 1997, die Absenkung des Einkommensteuerspitzensatzes von 53 % im Jahr 2000 auf 42% im Jahr 2004, die pauschale Besteuerung von Kapitalerträgen seit 2009 und die Anhebungen der Sozialversicherungsbeiträge seit Anfang der 1990er Jahre haben dazu beigetragen, den progressiven Charakter des Steuersystems zu verringern, und die Einkommensunterschiede möglicherweise zu erhöhen.« (S. 7)

Die Ausführungen der EU-Kommission in ihrem Länderbericht Deutschland 2017 sind eine wichtige Ergänzung zu dem, was uns in den kommenden Woche (wieder) droht, wenn die Bundesregierung ihren neuen, den „5. Armut- und Reichtumsbericht“ veröffentlichen wird, der sich derzeit in der finalen Ressortabstimmung befindet – vgl. den Entwurf des 5. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung (Stand: 13.12.2016). Die Debatte ist schon in vollem Gange, vgl. beispielsweise die Positionierung des DGB: Armut stagniert auf hohem Niveau. Armutsbericht der Regierung belegt dringenden Handlungsbedarf. Nun handelt es sich um einen Bericht der Bundesregierung und deshalb auch die Abstimmung unter den Ministerien, was da in der finalen Fassung drin stehen darf und soll. Auch das wird immer wieder kritisiert – eine Alternative dazu wäre die Umsetzung dieses Vorschlags: Armuts- und Reichtumsbericht: Paritätischer Wohlfahrtsverband fordert unabhängige Sachverständigenkommission:

»Bereits seit Oktober vergangenen Jahres ziehe sich das „Feilschen um wohlfeile Passagen“ innerhalb der Koalition und das „Spiel mit den Medien“ hin, kritisiert der Verband. „Es wird Zeit, dass der offizielle Armutsbericht endlich von einer unabhängigen Sachverständigenkommission verfasst wird und nicht mehr von einer eigeninteressierten Bundesregierung … Der Verband schlägt vor, den Armuts- und Reichtumsbericht künftig von einer unabhängigen Sachverständigenkommission erstellen zu lassen. Zu dem Bericht sei dann die Bundesregierung aufgefordert, Stellung zu nehmen. Bericht und Stellungnahme können sodann im Bundestag debattiert werden. Die Berufung der Sachverständigen soll durch den Bundespräsidenten erfolgen.«

Die amerikanische weiße Arbeiterklasse kollabiert in einem „Meer der Verzweiflung“. Semantische Zuspitzung und empirisch fundierte Sozialkritik

Viele werden sich erinnern – nach dem beeindruckenden Durchmarsch durch die Vorwahlen und dem dann folgenden und für viele überraschenden Wahlsieg von Donald Trump im vergangenen Jahr wurde immer wieder über die Lage der abgehängten weißen Arbeiter in den USA berichtet und diskutiert, die sich mit der Wahl von Trump ein Ventil verschafft hätten. Unabhängig davon, dass auch noch eine Menge anderer Leute für ihn gestimmt haben müssen, um Trump dahin zu spülen, wo er jetzt ist – ohne Zweifel ist das alles auch eine Folge der verheerenden ökonomischen Entwicklung im mittleren Westen der USA und inmitten der weißen Arbeitnehmerschaft des Landes. Nicht, dass darüber erst seit Trump berichtet wird, vgl. aus der Vielzahl des Materials beispielsweise Die ungleichen Staaten von Amerika von Anfang 2016. Und wenn gerade in diesen Tagen eine angebliche „Vollbeschäftigung“ in den USA suggeriert wird in den Medien, sollte man nicht vergessen, wie viele arbeitslose Menschen gar nicht (mehr) erfasst werden. Vgl. dazu beispielsweise den Artikel Wo Amerika seine Arbeitslosen versteckt von Heike Buchter: »Die Invalidenrente ist einer der letzten Teile des sozialen Netzes in den USA. Vor allem gering qualifizierte Arbeitslose beantragen sie – und Ärzte haben Verständnis.« Und wie desaströs für viele Menschen aus der ehemaligen Mitte des Landes ist, konnte man auch solchen Berichten entnehmen: Nichts mehr zu verlieren: »Nirgendwo sind die Menschen in Ohio so arm wie im Athens County.

Lebensmittelausgaben versuchen, die Menschen zu versorgen. Doch beim Essen fangen die Probleme erst an.« Ohio – eine Gegend, die abgehängt worden ist und in der vor allem viele Weiße auf der Strecke geblieben sind. Von denen einige als Protestwähler für einen kurzen Moment in das Licht der öffentlichen Wahrnehmung gekommen sind. Der amerikanische Fotograf Matt Eich zeigt in seiner Reportage auf verstörende aber auch wundervolle Weise die verlorenen Menschen aus dem amerikanischen Bundesstaat Ohio. Wo einst der industrielle Motor Amerikas lief, herrschen heute Heroin, Gewalt und Zukunftslosigkeit: Last Exit to Ohio, so hat er seine Reportage überschrieben.

Es geht hier um die fatalen Folgen einer immer größer werdenden Ungleichheit und da sind uns die USA in Teilen und für viele Menschen beispielsweise in Deutschland unvorstellbar weit voraus – man denke nur an die „Selbstverständlichkeit“ einer Krankenversicherung für die allermeisten Menschen in unserem Land, auch wenn man wenig oder gar kein eigenes Einkommen hat. Die Härte des (Über-)Lebens in den USA für die Menschen mit mittleren und unteren Einkommen hat (noch) keine Entsprechung in den westeuropäischen Staaten.

Und dazu sollte es auch niemals kommen – wenn man sich allein vor Augen führt, was für einen Preis die Menschen für die Ungleichheit zu zahlen haben. Sie zahlen im wahrsten Sinne des Wortes mit ihrem Leben.

Joel Achenbach und Dan Keating berichten in der Washington Post unter der nur auf den ersten Blick reißerischen Überschrift New research identifies a ‘sea of despair’ among white, working-class Americans. Sie beziehen sich auf eine neue Arbeit von Anne Case und Angus Deaton von der Princeton University: Mortality and morbidity in the 21st century, so ist die neue Veröffentlichung überschrieben.

Case und Deaton setzen damit eine Arbeit fort, die Ende 2015 mit dieser bahnbrechenden Studie begonnen hat: Rising morbidity and mortality in midlife among white non-Hispanic Americans in the 21st century: »This paper documents a marked increase in the all-cause mortality of middle-aged white non-Hispanic men and women in the United States between 1999 and 2013. This change reversed decades of progress in mortality and was unique to the United States; no other rich country saw a similar turnaround. The midlife mortality reversal was confined to white non-Hispanics; black non-Hispanics and Hispanics at midlife, and those aged 65 and above in every racial and ethnic group, continued to see mortality rates fall. This increase for whites was largely accounted for by increasing death rates from drug and alcohol poisonings, suicide, and chronic liver diseases and cirrhosis. Although all education groups saw increases in mortality from suicide and poisonings, and an overall increase in external cause mortality, those with less education saw the most marked increases. Rising midlife mortality rates of white non-Hispanics were paralleled by increases in midlife morbidity. Self-reported declines in health, mental health, and ability to conduct activities of daily living, and increases in chronic pain and inability to work, as well as clinically measured deteriorations in liver function, all point to growing distress in this population.«

Wienand von Petersdorff hat die Berichterstattung und die neue Studie von Case und Deaton in der FAZ aufgegriffen: Brisante Studie: Amerikas Arbeiterklasse kollabiert. Die Lebenserwartung der Weißen in den Vereinigten Staaten, die höchstens einen Schulabschluss haben, ist dramatisch gesunken. Das Phänomen hat einen Namen: „Tod aus Hoffnungslosigkeit.“

»Die Weißen sterben demzufolge überproportional häufig an Ursachen, die Experten unter der Rubrik „Tod aus Hoffnungslosigkeit“ zusammenfassen. Zu dieser Kategorie gehören Selbstmord, Drogentod nach Überdosis oder an Krankheiten, die Alkoholmissbrauch folgen. Case und Deaton zufolge sinkt die Lebenserwartung der Gruppe seit dem Jahr 1999. Das ist eine dramatische Entwicklung angesichts der Tatsache, dass in nahezu allen Industrieländern über fast alle Bevölkerungsgruppen hinweg die Lebenserwartung stetig steigt … Für die Altersgruppe zwischen 50 und 55 Jahren haben sich die Selbstmordraten seit dem Jahr 2000 verdoppelt.«

Case und Deaton kommen zu der Schlussfolgerung, dass vor allem die mangelnde Perspektive auf ein stetiges Einkommen Menschen resignieren lasse, die höchstens einen Schulabschluss vorweisen können. »Die Wissenschaftler sehen die geringen Arbeitsmarktchancen für diese Gruppe als Ausgangspunkt für ein Bündel an Problemen, die schließlich die Menschen in die Verzweiflung stürzen.«

Und wieder werden wir Zeuge einer „Medikalisierung“ sozialer Probleme:

»In ihren Untersuchungen haben Deaton und Case auch herausgefunden, dass seit Mitte der neunziger Jahre immer mehr Leute über Schmerzen im Rücken, im Halsbereich oder in der Hüfte klagen.
Parallel dazu stieg der Absatz an Schmerzmitteln stark. Eines davon heißt Oxycontin, das den Ruf hatte, wenige Nebenwirkungen zu haben. Offenkundig aber sind sehr viele Amerikaner süchtig geworden. Deaton sagt, Oxycontin sei praktisch Heroin in Pillenform mit einem Siegel der Gesundheitsbehörde.«

Der Blick auf die nackten Daten lässt eine Menge gewichtige Fragen offen. Warum beispielsweise beschränkt sich die dramatisch negative Entwicklung auf die weißen Amerikaner – während die Afroamerikaner und der Lateinamerikaner davon nicht betroffen sind? Und die Entwicklung seit der Jahrtausendwende ist wirklich dramatisch:

»Konkret war im Jahr 1999 die Sterberate der Weißen zwischen 50 und 54 Jahren um 30 Prozent niedriger als die der Schwarzen. Im Jahr 2015 haben sich die Verhältnisse umgekehrt.«

Hinzu kommt: »Das Phänomen einer schrumpfenden Lebenserwartung beschränkt sich nach Angaben der Forscher nicht mehr auf den ländlichen Raum und Bundesstaaten, die von Deindustrialisierung besonders betroffen sind. Auch Großstädte erreicht die Entwicklung.«

Und zum Abschluss sei hier allen Kritikern am europäischen Sozialstaatsmodell das folgende Zitat ins Stammbuch geschrieben:
»Deaton weist darauf hin, dass Europa mit seinen Sozialstaaten von der Entwicklung nicht nur verschont sei: Dort wachse die Lebenserwartung der Leute ohne Hochschulabschluss sogar schneller als die der Akademiker.«

Die ritualisierte (Nicht-)Debatte über Armut und Armutsgefährdung, weitere Armutsberichte und ein wissenschaftlicher Ordnungsruf

Anfang März hat der Paritätische Wohlfahrtsverband gemeinsam mit einigen anderen Organisationen seinen Armutsbericht 2017 veröffentlicht (vgl. dazu auch den Beitrag Der neue Armutsbericht als Thema? Das machen alle. Deshalb ein Ausflug in den Keller des Arbeitsmarktes mit richtig harter Armut vom 2. März 2017 sowie die Aufarbeitung von Joachim Bischoff und Bernhard Müller: Marktschreier der Armut? Die Polemik und die Fakten) – und erneut mussten wir Zeugen werden einer fast schon ritualisierten Form der (Nicht-)Auseinandersetzung mit dem Armutsthema. Während Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband bei der Präsentation des neuen Berichts (mit Zahlen, die sich auf 2015 beziehen) bekannt deutliche Worte fand („Die Armut in Deutschland ist auf einen neuen Höchststand von 15,7 Prozent angestiegen“), setzte gleichzeitig das Gegenfeuer der Kritiker an dieser Form der Armutsberichterstattung ein. Hier nur einige Beispiele: Armutsbericht ist politische Marktschreierei, kommentiert Dagmar Pepping vom NDR, nicht nur semantisch der abfälligen Einordnung von Heike Göbel in der FAZ folgend, die ihren Kommentar unter die Überschrift Marktschreier der Armut gestellt hat. Von einer Stunde der Lobbyisten spricht der Merkur-Chefredakteur Georg Anastasiadis und meint damit nicht etwa Lobbyisten der Waffenindustrie oder der Versicherungswirtschaft, die ihre Produkte verticken wollen, sondern er beklagt „die gelungene Lobbyarbeit der Sozialindustrie“. Und selbst das sozialdemokratisch geführte Bundesarbeitsministerium meldet sich so zu Wort: Nahles-Ministerium zweifelt Armutsbericht an. „Die Fokussierung auf die Armutsrisikoquote ist verkürzt“, verkündet das Ministerium. „Andere Indikatoren, wie zum Beispiel die Anzahl der Langzeitarbeitslosen oder die Quote der erheblichen materiellen Deprivation, weisen eine andere Richtung auf.“ Ein Merkmal durchzieht so gut wie alle Texte der Kritiker – die Messung von „Armut“ entsprechend dem relativen Armutsbegriff an einem Schwellenwert von 60 Prozent des Medianeinkommens sei „Humbug“ oder „einfach nur skurril„, wie beispielsweise Daniel Eckert behauptet. Dass das keineswegs so ist, wird gleich noch zu besprechen sein.  

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Der neue Armutsbericht als Thema? Das machen alle. Deshalb ein Ausflug in den Keller des Arbeitsmarktes mit richtig harter Armut

Eigentlich müsste man heute über den der Öffentlichkeit präsentierten „Armutsbericht 2017“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und andere Organisationen berichten, der eigentlich aber ein Bericht für das Jahr 2015 ist, denn auf dieses Jahr beziehen sich die Zahlen, die man in diesem Report finden kann. Diese allerdings sind nun keine Neuigkeit oder gar eine eigene Erhebung des Wohlfahrtsverbandes, sondern man kann die seit Jahren in aller Ausführlichkeit und Differenzierung auf der Seite www.amtliche-sozialberichterstattung.de einsehen, die von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder bestückt wird. Der Paritätische Wohlfahrtsverband veröffentlichte den neuen Armutsbericht mit einer begleitenden Pressemitteilung, die man unter diese Überschrift gestellt hat: Armutsbericht 2017: Anstieg der Armut in Deutschland auf neuen Höchststand. Verbände beklagen skandalöse Zunahme der Armut bei allen Risikogruppen und fordern armutspolitische Offensive: »Die Armut in Deutschland ist auf einen neuen Höchststand von 15,7 Prozent angestiegen … Als besondere Problemregionen identifiziert der Bericht im Zehn-Jahres-Vergleich die Länder Berlin und Nordrhein-Westfalen. Unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahl, der Bevölkerungsdichte und der längerfristigen Trends müssten das Ruhrgebiet und Berlin als die armutspolitischen Problemregionen Deutschlands angesehen werden. Bei allen bekannten Risikogruppen habe die Armut im Vergleich zum Vorjahr noch einmal zugenommen: Bei Erwerbslosen auf 59 Prozent, bei Alleinerziehenden auf 44 Prozent, bei kinderreichen Familien auf 25 Prozent, bei Menschen mit niedrigem Qualifikationsniveau auf 32 Prozent und bei Ausländern auf 34 Prozent. Alarmierend sei im Zehn-Jahres-Vergleich insbesondere die Armutsentwicklung bei Rentnerinnen und Rentnern. Ihre Armutsquote stieg zwischen 2005 und 2015 von 10,7 auf 15,9 Prozent und damit um 49 Prozent.«

Darüber wird natürlich landauf und landab berichtet – und es überrascht nicht, dass sofort auch wieder gegen die „skandalisierende“ und „instrumentalisierende“ Armutsberichterstattung des Wohlfahrtsverbands gewettert wird – um nur zwei Beispiele zu zitieren: Diese Armuts-Rechnung ist einfach nur skurril meint Daniel Eckert. Heike Göbel überschlägt sich schon in der Überschrift ihrer Kommentierung mit Marktschreier der Armut.

Wie bereits gesagt, die reinen Zahlen das „Einkommensarmutsrisiko“ betreffend, so die ganz korrekte Bezeichnung dessen, was da übrigens nach seit Jahrzehnten bestehender internationaler Konvention am Median der Einkommensverteilung eines Landes gemessen wird, sind auf den amtlichen Seiten verfügbar. Interessant an dem mittlerweile ja alljährlich vorgelegten Armutsbericht sind die einzelnen Kapitel zu besonderen Personengruppen und Problemlagen, von den Alleinerziehenden, Jugendlichen, der Armut im Alter, den psychisch Kranken, den Menschen mit Behinderungen oder den Flüchtlingen. Oder auch Armut und Gesundheit. Zu den Ausführungen in diesem Kapitel beispielsweise der Bericht Reiche leben bis zu zehn Jahre länger: »Der Untersuchung zufolge haben arme Männer eine Lebenserwartung von 70,1 Jahren, wohlhabende Männer von 80,9 Jahren. Bei Frauen liegen die Zahlen bei 76,9 Jahren und 85,3 Jahren.« Doch warum ist das so? Als Gründe für die immensen Unterschiede wird oft ein riskanteres Gesundheitsverhalten in Bezug auf Ernährung, Bewegung, Rauchen und Alkohol vorgetragen. Dies erkläre jedoch nur die Hälfte des Unterschieds. Das hat natürlich neben der individuellen Dimension auch sozialpolitische Konsequenzen. Und über diesen erheblichen Unterschied bei der Lebenserwartung unten und oben sowie den möglichen Konsequenzen beispielsweise in der Rentenpolitik wurde bereits in dem Beitrag Rente mit 70(+)? Warum die scheinbar logische Kopplung des Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung unsinnig ist und soziale Schieflagen potenziert vom 22. April 2016 berichtet.

Wer sich das alles im Original anschauen möchte, der kann den neuen Armutsbericht hier downloaden: Der Paritätische Gesamtverband (Hrsg.) (2017): Menschenwürde ist Menschenrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2017, Berlin, März 2017.

Alles wird erneut einmünden in einen Streit über die Zahlen – und beide Seite beteiligen sich offensichtlich mit größter Freude an diesem Spiel, die einen proklamieren eine skandalöse Entwicklung, die anderen negieren den Tatbestand der Armut oder wollen Armut offensichtlich reduzieren auf die Untergruppe derjenigen, die von „multiplen Einschränkungen“ betroffen sind, was natürlich die Zahl deutlich schrumpfen lässt.

Zugleich wird oftmals – ob unbewusst in den Köpfen vieler Menschen oder bewusst als politische Strategie –  das Bild hochgehalten, dass die „wirklich“ armen Menschen wenn, dann eher bei Obdachlosen oder anderen Randgruppen der Gesellschaft anzutreffen sind und das Arbeit der beste Schutzfaktor vor Armut sei. Dann muss es natürlich „weh tun“, wenn es hart arbeitende Menschen gibt, die mit richtig harter Armut trotz der Arbeit konfrontiert sind.

Ausbeutung und Ausbeutungsstrukturen auf dem Bau sind nicht neu, aber man kann nicht oft genug darauf hinweisen, dass das tagtäglich in unserem Land passiert. Und wenn jeder einmal versucht, mit offenen Augen an den vielen Baustellen in unserem Land vorbeizugehen, dann dürfte nicht verborgen bleiben, wie viele Bauarbeiter aus Osturopa auf den Baustellen unterwegs sind.

Lohnausfälle und unentlohnte Überstunden: Hunderte südosteuropäische Arbeiter werden ausgebeutet, so ist ein Bericht der „Hessenschau“ überschrieben, der sich auf das Rhein-Main-Gebiet rund um Frankfurt bezieht.

Die »Probleme für Arbeiter, gerade aus Rumänien, aber auch Bulgarien oder dem ehemaligen Jugoslawien in der Rhein-Main-Region sind immens. „Lohnausfälle, unentlohnte Überstunden, Löhne weit unter dem Tarif, keine bezahlten Krankheitstage – nur wenn die Leute Glück haben, dürfen sie im Krankheitsfall überhaupt zuhause bleiben – keine Anmeldung bei der Krankenkasse, kein bezahlter Urlaub, kein Urlaubsgeld…“, zählt Letitia Türk auf. Türk berät seit zweieinhalb Jahren Wanderarbeiter aus Südosteuropa für „Faire Mobilität“.«

»Johannes Schader von der IG Bau Rhein-Main sagt: „Die Leute kriegen zum Teil Arbeitsverträge vorgelegt, die mit unseren Bedingungen nichts zu tun haben – ein Stundenlohn von 6,50 Euro zum Beispiel. In anderen Fällen gibt es zwar den Tariflohn von 11,25 Euro, aber dann werden eben nur 80 statt 200 Stunden bezahlt. Und dann ziehen die Auftraggeber noch Kosten ab für das Wohnheim oder für Fahrten, oder sie berechnen Darlehen, die die Leute nicht bekommen.“«

Der Gewerkschafter schätzt, dass „mindestens 2.000 Leute“ in Frankfurt davon betroffen sind.

»Für Offenbach vermutet Matthias Schulze-Böing, Leiter des Amts für Arbeitsförderung, Statistik und Integration, „einige Hundert, die am Rand oder sogar mitten in einer solchen Situation stecken“. Und das führt dann zu Begleiterscheinungen, die nicht mehr nur die Arbeiter selbst betreffen: „Überbelegte Wohnungen, Scheinselbstständigkeit, Arbeitsstrich…“, nennt Schulze-Böing als Beispiele.«

Ausbeutungsstrukturen gibt es auch bei Reinigungen oder – fast schon klassisch – in der Fleischindustrie. „Aber am schlimmsten trifft es meiner Erfahrung nach fast immer die Bauarbeiter“, wird Schulze-Böing zitiert.

Die Betroffenen geraten in einen Teufelskreis: Sie haben kaum oder keine Möglichkeiten, »sich ausreichend zu informieren. Dadurch kennen sie ihre Rechte nicht – und auch nicht ihre Pflichten. „Sie wissen zum Beispiel nicht, dass sie sich ohne Arbeit als arbeitssuchend melden müssen, um weiter Versicherungsschutz zu erhalten, oder dass sie auf Post der Krankenkassen reagieren müssen. Dann müssen sie über Monate ihre Krankenversicherung selbst zahlen, da entstehen schnell mal Schulden von 4.000 Euro oder mehr“, sagt Türk. Das sind Schulden, die zu einem schlechten Schufa-Eintrag führen, wodurch die Betroffenen keine Wohnung finden, wodurch die Abhängigkeit vom Auftraggeber noch größer wird.«

Und natürlich ist das alles auch und vor allem eine Frage der Margen, die man hier machen kann:

»Warum es so schwierig ist, Ausbeutern das Handwerk zu legen, erklärt Schulze-Böing vom Amt für Arbeitsförderung, Statistik und Integration: „Wir verfolgen Schwarzarbeit, aber das ist ein endloser Prozess. Das Grundproblem ist: Die Beträge, die in dem Bereich mit Betrug zu verdienen sind, sind viel zu groß.“«