Von einer möglichen zu einer tatsächlichen Umwälzung des deutschen Arbeitszeitrechts? Das „Stechuhr-Urteil“ des Bundesarbeitsgerichts

Am 10. August 2022 wurde hier der Beitrag Kommt sie oder kommt sie nicht? Über eine mögliche Umwälzung des deutschen Arbeitszeitrechts veröffentlicht. Im ersten Teil des Beitrags wurde eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Mai dieses Jahres behandelt, die auf Unternehmensseite für Erleichterung gesorgt hat. Um diese Entscheidung zu verstehen, muss man erinnern an den Mai 2019. Damals hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine wegweisende und heftig diskutierte Entscheidung verkündet: EU-Staaten müssen Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung verpflichten, so das Urteil des EuGH vom 14. Mai 2019 (C-55/18). Und zwar alle Mitgliedstaaten der EU. Sofort ging eine heftige, teilweise hyperventilierende Debatte in Deutschland los, was das nun bei uns bedeutet und wann das Arbeitsrecht seitens der Bundesregierung geändert wird, um die EuGH-Vorgaben umzusetzen. Nun haben wir September 2022 und nichts ist bislang dahingehend passiert. Die Bundesregierung arbeitet angeblich noch daran, die EuGH-Vorgaben von 2019 zur Einführung einer objektiven, verlässlichen und zugänglichen Arbeitszeiterfassung in deutsches Recht umzusetzen.

Das Arbeitsrecht ist in weiten Teilen Richterrecht, vor allem durch die Auslegung der „unbestimmten Rechtsbegriffe“ für die praktische Rechtsanwendung im Einzelfall. Auch das EuGH-Urteil selbst ist gespickt mit „unbestimmten“ Formulierungen, wenn es um die Aufträge an die nationalen Gesetzgeber in der EUgeht: »Es obliegt den Mitgliedstaaten, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems, insbesondere der von ihm anzunehmenden Form, zu bestimmen und dabei gegebenenfalls den Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs oder Eigenheiten, sogar der Größe, bestimmter Unternehmen Rechnung zu tragen.«

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Kommt sie oder kommt sie nicht? Über eine mögliche Umwälzung des deutschen Arbeitszeitrechts

Wer erinnert sich noch an den Mai 2019? Damals erschienen Artikel mit solchen Überschriften: Kommt die Stechuhr für alle? Dort ging es um das Plädoyer von Giovanni Pitruzzella, Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof (EuGH), in einem Verfahren, in dem die Frage nach der Dokumentation von Arbeitszeiten im Mittelpunkt stand: »Was Pitruzzella in Bezug auf einen Streit zwischen einer spanischen Gewerkschaft und der Deutschen Bank SAE vorlegt, wird in Expertenkreisen schon als „arbeitszeitrechtliches Manifest“ tituliert. Es könnte der Anfang vom Ende der Entgrenzung der Arbeit sein.«

Nun mag der eine oder andere vielleicht einwenden, was denn wir mit dem spanischen Arbeitszeitrecht zu tun haben. Neben der Tatsache, dass das spanische Recht der Arbeitszeiterfassung große Ähnlichkeiten mit dem deutschen aufweist (so muss bis auf wenige Ausnahmen die Arbeitszeit nur dann festgehalten werden, wenn sie über acht Stunden täglich hinausgeht), war es vor allem das dann vom EuGH verkündete Urteil: EU-Staaten müssen Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung verpflichten, so das Urteil des EuGH vom 14. Mai 2019 (C-55/18). Und zwar alle Mitgliedstaaten der EU. Vgl. dazu auch den Beitrag Wieder einmal ein Paukenschlag aus dem EuGH: Arbeitgeber müssen verpflichtet werden, ein System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann, der am 14.05.2019 in diesem Blog veröffentlicht wurde.

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Pralinen und (angeblich) die weltbesten Fritten. Nun liefert Belgien auch noch (scheinbar) die Blaupause für eine Vier-Tage-Woche, die viele auf den ersten Blick gerne hätten

»In Belgien können Arbeitnehmer künftig zwischen Vier- und Fünf-Tage-Woche wählen. Ihre Arbeitszeit bleibt bei beiden Optionen gleich. Auch in Deutschland spricht sich eine Mehrheit dafür aus. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag von RTL und ntv würden es 71 Prozent der Befragten begrüßen, wenn Deutschland dieses Modell übernehmen würde«, kann man beispielsweise dieser Meldung entnehmen: Mehrheit der Deutschen für Einführung der Vier-Tage-Woche. Interessant auch dieser differenzierender Hinweis: »Auf Zustimmung stoße das „Belgische Modell“ vor allem bei den 30- bis 44-Jährigen (81 Prozent) und den Befragten mit höherem Bildungsabschluss (Abitur, Studium: 75 Prozent).«

Was ist der Hintergrund für solche Begeisterungsstürme? Um was geht es überhaupt bei diesem „belgischen Modell“?

»Arbeitnehmer in Belgien sollen ihre Arbeit künftig flexibel an vier statt fünf Tagen verrichten können. Die belgische Regierung einigte sich auf eine entsprechende Arbeitsmarktreform, wie Premierminister Alexander De Croo … mitteilte. „Der erste Pfeiler ist, den Arbeitern mehr Flexibilität, mehr Freiheit zu geben“, sagte De Croo. Vollzeit-Arbeitnehmer sollen am Tag länger arbeiten dürfen, damit alle erforderlichen Stunden in vier Tagen geleistet werden können. Das solle etwa der Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben zugutekommen, so De Croo. Zu der Arbeitsmarktreform gehöre auch ein gesetzlich geregelter Zugang zu Weiterbildungen für Arbeitnehmer, sagte De Croo. Außerdem werde es mehr Flexibilität bei den Nachtdienstregeln geben, um vor allem den Onlinehandel anzukurbeln«, so dieser Beitrag: Belgien will Viertagewoche bei gleicher Arbeitszeit einführen.

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Auch jenseits der Minijobs: Im Kleingedruckten der geplanten Anhebung der Geringfügigkeitsgrenze ist für manche Arbeitgeber eine harte Nuss eingebaut worden: Die tägliche digitale Arbeitszeiterfassung

Bereits im November 2021 wurde hier im Lichte des damals vereinbarten Koalitionsvertrages der neuen Ampel-Koalition in dem Beitrag Ein klassisches Tauschgeschäft: Der eine bekommt einen höheren Mindestlohn, der andere eine Verfestigung und Ausweitung der Minijobs. Trotz vieler Gegenargumente darauf hingewiesen, dass entsprechend der Gesetzmäßigkeiten der politischen Tauschökonomie für die Umsetzung der Forderung nach einer einmaligen Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde der anderen Seite ein Preis gezahlt werden muss – in diesem Fall die Anhebung der seit Jahren gedeckelten Geringfügigkeitsgrenze, die dazu geführt hat, dass man umgangssprachlich den konkreten Betrag aufgenommen hat und von den „450-Euro-Jobs“ spricht. Da die gesetzliche Lohnuntergrenze selbstverständlich auf für die Minijobs gilt, werden die bei einer festen Geringfügigkeitsgrenze immer unattraktiver und wenn man sie denn nicht abschaffen oder auf einen Kernbereich begrenzen will (der zweite Teil des zu zahlenden Preises für die Mindestlohnerhöhung ist der Verzicht auf eine von vielen seit Jahren geforderte Abschaffung oder starken Begrenzung der Minijobs an sich), dann muss man systematisch bedingt an die Einkommensgrenze ran. Genau das hat man vereinbart, in einem ersten Schritt die Anhebung dieser Grenze auf 520 Euro mit der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro und dann eine automatische Dynamisierung im Gefolge zukünftiger Anpassungen des Mindestlohns.

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Ein Schlaglicht auf die Frustration: Probleme der Intensivstationen aus Sicht des Personals. Und in Niedersachsen tritt man den Pflegekräften in den Hintern

Beginnen wir mit Nachrichten aus Niedersachsen, die wie eine Faust auf das Auge (und zur Sicherheit auch noch unterhalb der Gürtellinie) der Pflegekräfte daherkommen: »Im Kampf gegen die zweite Welle der Coronakrise hat Niedersachsen die Höchstarbeitszeit für Beschäftigte in Kliniken und Pflegeheimen erneut auf bis zu 60 Stunden pro Woche erhöht. Die Maßnahme, die eine tägliche Arbeitszeit von bis zu 12 Stunden vorsieht, gilt befristet bis Ende Mai kommenden Jahres, teilte das Sozial­ministerium in Hannover mit.« Und die Präsidentin der Pflegekammer Niedersachsen, Nadya Klar­mann, wird mit den Worten zitiert: »Die Regierung sollte sich schämen, auf den Rücken der Menschen, die das System am Lau­fen halten, ihre eigenen jahrelangen Fehler in der Pflegepolitik auszubügeln.« Die Allgemeinverfügung des Sozialministeriums ist seit dem 1. November 2020 in Kraft. »Die Verfügung enthalte weder Regelungen zu Ausgleichstunden noch zu einer finanziellen Entschädigung für die Mehrarbeit. Lediglich ein Ersatzruhetag innerhalb eines Zeitraums von 8 Wochen sei für die im Rahmen der Ausnahmebewilligung geleistete Sonn- und Feiertagsarbeit zu gewähren«, so Nadine Millich in ihrem Artikel Nicht zulasten von Pflegenden entscheiden. Schon jetzt bedeuteten Acht-Stunden-Schichten in voller Schutzausrüstung eine extreme Belastung für Beschäftigte in der Pflege. Und wenn man schon dabei ist, dann legt man noch eine Schippe rauf: »Die Verfügung enthalte weder Regelungen zu Ausgleichstunden noch zu einer finanziellen Entschädigung für die Mehrarbeit. Lediglich ein Ersatzruhetag innerhalb eines Zeitraums von 8 Wochen sei für die im Rahmen der Ausnahmebewilligung geleistete Sonn- und Feiertagsarbeit zu gewähren.«

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