Das deutsche „Jobwunder“ und seine Kelleretagen: „Arbeit auf Abruf“ auf dem Vormarsch. Den möglichen Endpunkt – „Null-Stunden-Verträge“ – kann man schon auf der Insel besichtigen

Das Spielzeug mag bei dem einen oder anderen Kind für glückliche Augen sorgen, aber bei denen, die das an die Frau oder den Mann bringen müssen, geht es weniger strahlend zu. Toys’R’Us-Mitarbeitern reicht Gehalt nicht zum Leben, so hat Anette Dowideit ihren Artikel überschrieben. In den Läden von Toys“R“Us sind neun von zehn Mitarbeiter Teilzeitbeschäftigte mit flexibler Arbeitszeit. Oft ist das Gehalt so gering, dass die Beschäftigten aufstockende Leistungen vom Jobcenter aus dem Grundsicherungssystem beziehen müssen. »90 Prozent aller Angestellten dort haben nach Informationen der „Welt am Sonntag“ flexible Teilzeit-Verträge. Diese garantieren den Angestellten lediglich eine Mindeststundenzahl. Erst über zusätzliche Mehrstunden, mit denen die Betroffenen jedoch nicht verlässlich planen können, kommen sie auf ein volles Gehalt … Nach Angaben der Gewerkschaft Ver.di führe die flexible Teilzeit dazu, dass es unter den rund 1.700 Angestellten in den 65 Toys“R“Us-Filialen eine signifikante Zahl an Aufstockern gebe. Diese müssen ihr Gehalt mit staatlichen Sozialleistungen aufbessern«, so Dowideit in ihrem Artikel.  Und sie benennt auch die, von denen man schon eher glückliche Augen erwarten darf: »Für Arbeitgeber sind solche kapazitätsorientierten Verträge attraktiv, da sie – gerade im hart umkämpften Einzelhandel – helfen, die Personalkosten gering zu halten. Sie verhindern, dass Mitarbeiter bezahlt werden müssen, wenn die Läden leer sind, während in Spitzenzeiten keine zusätzlichen Kräfte eingestellt werden müssen.«

Arbeitsverträge mit „flexiblen Einsatzzeiten“ seien schon heute in all jenen Branchen ein Thema, die von unplanbaren Nachfrageschwankungen abhängen, wie Gastronomie und Tourismus etwa. Und sie sind auch nicht ein neues Phänomen.

Aber es geht hier um die behauptete Expansion dieser Beschäftigungsform. Bereits im vergangenen Jahr konnte man dazu den Beitrag KAPOVAZ, Arbeit auf Abruf – ein ganz mieses Teilzeitmodell von Markus Krüsemann lesen:

»Über den Anteil der Beschäftigten, die Arbeit auf Abruf leisten, liegen abweichende Angaben vor. Ein WSI-Report vom November 2014 geht davon aus, dass mittlerweile acht Prozent der Betriebe in Deutschland Arbeit auf Abruf nutzen. Von dem Modell wären dann etwa 5,4 Prozent aller abhängig Beschäftigten betroffen. Andere, auf Arbeitgeberbefragungen beruhende Quellen nennen auch höherer Anteilswerte. Abrufarbeit ist insbesondere im verarbeitenden Gewerbe, im Bereich Wasserversorgung, im Handel, Gast- und Baugewerbe sowie im Verkehrsbereich verbreitet.«

Bei der von Krüsemann zitierten WSI-Studie handelt es sich um diese Veröffentlichung: Nadine Absender et al.: Arbeitszeiten in Deutschland. Entwicklungstendenzen und Herausforderungen für eine moderne Arbeitszeitpolitik. WSI-Report 19, Düsseldorf, November 2014. Dort findet man auf der Seite 38 Beispiele aus der betrieblichen Praxis zur „Arbeit auf Abruf“.
Krüsemann schildert in seinem Beitrag Beispiele wie eine Regalauffüllerin im Einzelhandel oder die Nutzung des Instruments bei der Deutschen Post.

Doch mittlerweile gehen die Zahlen der Inanspruchnahme der Arbeit auf Abruf offensichtlich nach oben, wie Anette Dowideit in einem weiteren Artikel berichtet: Die bittere Wahrheit über das deutsche Jobwunder:

»Bundesweit sind bereits etwas über anderthalb Millionen Menschen betroffen von den „kapazitätsorientierten variablen Arbeitszeiten“, kurz Kapovaz. Dies hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin auf Anfrage der „Welt“ berechnet.«

Und zahlreiche Unternehmen (nicht nur) aus dem Handel bedienen sich dieser Arbeitszeitgestaltung:

»Neben Toys“R“Us nutzen auch andere Handelsketten das Instrument, das dem Unternehmen Flexibilität verschafft und den Angestellten häufig an den Rand des Existenzminimums drängt. Kik zum Beispiel – ein entsprechender Arbeitsvertrag liegt der Redaktion vor. Auch Esprit, H&M und die süddeutsche Bekleidungskette Breuninger arbeiteten bereits mit ähnlichen Konstruktionen.«

Ein Aspekt, der bei der Bewertung dieser Gestaltung der Arbeitsbedingungen nicht vergessen werden sollte, bezieht sich auf die (potenziellen) Auswirkungen hinsichtlich der betrieblichen Mitbestimmung, denn man kann sich vorstellen, welches Druckmittel die Arbeitgeber gegen ihre derart beschäftigten Mitarbeiter haben, wenn diese beispielsweise einen Betriebsrat gründen wollen. Man könnte dann schlichtweg das Vorenthalten der „Mehrarbeit“, die normalerweise aber vorausgesetzt und seitens der betroffenen Arbeitnehmerinnen aus eingeplant ist, einsetzen, um die Betroffenen von solchen Aktivitäten „abzuhalten“. Und das wäre faktisch nicht illegal, denn der eigentliche Arbeitsvertrag enthält ja eine deutlich niedrigere Stundenzahl, die man erfüllen muss seitens des Arbeitgebers, aber auch nicht mehr.

Da ist noch Luft drin aus Arbeitgebersicht: »Tatsächlich ruft die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) bereits nach einer Lockerung der derzeitigen gesetzlichen Vorgaben für solche Verträge: Die Ankündigungsfrist von zurzeit vier Tagen, wann ein Mitarbeiter zum Dienst eingeteilt werde, müsse verkürzt werden, sagte ein BDA-Sprecher auf Anfrage«, berichtet Anette Dowideit in ihrem Artikel Toys’R’Us-Mitarbeitern reicht Gehalt nicht zum Leben.

Gleichsam der Endpunkt dieser Entwicklung wären dann (aus Arbeitgebersicht) konsequenterweise „Null-Stunden-Verträge“, also die totale Flexibilisierung der Inanspruchnahme und zugleich Zugriffsmöglichkeit auf die betroffenen Arbeitnehmer. Die gib es bereits, in Großbritannien. Und dort werden sie intensiv genutzt und sind zugleich Gegenstand einer sehr kritischen Debatte. Die sogenannten „zero-hours contracts“ wurden auch hier schon thematisiert, beispielsweise am 14. März 2014 in dem Blog-Beitrag Schon mal was von „Nullstundenverträgen“ gehört? sowie durchaus passend am 1. Mai 2014 auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“: Ein „Arbeitgeber-Traum“ und ein Albtraum für Arbeitnehmer am Tag der Arbeit – ein Blick in das Land der „Null-Stunden-Arbeitsverträge“.

Das ist in Großbritannien wirklich kein Nischenproblem mehr: So kann man dem Guardian am 9. März 2016 diesen Artikel entnehmen: UK workers on zero-hours contracts rise above 800,000. Ganz offensichtlich expandiert diese Beschäftigungsform auf der Insel enorm: »The number of workers on zero-hours contracts has increased by more than 100,000 over the past 12 months to exceed 800,000 for the first time, official figures show.«

Auch in Großbritannien kann man erkennen, dass diese besonders ungleichgewichtige Beschäftigungsform dort praktiziert wird, wo „schwache“ Beschäftigtengruppen entsprechend genötigt werden können, also in bestimmten Branchen und bei einem sehr hohen Frauenanteil und bei einem schwachen bis nicht vorhandenen gewerkschaftlichen Organisationsgrad:

»Zero-hours contracts are disproportionately offered to more vulnerable workers with weak bargaining power in sectors such as hotels and food services, health and social work.«

Auch Krüsemann hatte in seinem Beitrag auf die Entwicklung in Großbritannien hingewiesen und das Problem auf den Punkt gebracht:

»Da vertraglich nicht einmal eine Mindestbeschäftigungszeit festgelegt wird, ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, Arbeit anzubieten, gearbeitet wird nur dann, wenn Arbeit anfällt. Und natürlich wird auch nur für die Arbeit gezahlt, die auch geleistet worden ist. Wenn gar keine Arbeit anfällt, gehen die Beschäftigten auch beim Lohn leer aus.«

Ralf Wurzbacher greift das Thema ebenfalls auf in seinem Artikel Kapovaz für Arme:

»Ganz soweit ist man hierzulande (noch) nicht. Bei fehlender Vereinbarung zum Arbeitsumfang gelten grundsätzlich mindestens zehn Stunden bezahlte Wochenarbeitszeit als gesetzlich verpflichtend. Außerdem müssen laut Teilzeit- und Befristungsgesetz Einsatzzeiten vier Tage im voraus festgelegt werden.«

Allerdings, so Wurzbacher, gibt es immer wieder Hinweise, dass diese Vorschrift in der Praxis nicht eingehalten wird. Besonders schwer treffe es dabei die sogenannten Minijobber, deren Lage doppelt prekär sei. Zur fehlenden sozialen Absicherung und dem geringen Verdienst käme bei Kapovaz im Minijob noch die Ungewissheit über Einsatzzeiten und die am Monatsende bezahlte Gesamtstundenzahl.

Die Flexibilisierung zugunsten der Arbeitgeber schreitet offensichtlich voran. Das geht über die skizzierte „Arbeit auf Abruf“ hinaus, Anette Dowideit spricht in ihrem Artikel Die bittere Wahrheit über das deutsche Jobwunder einen weiteren Punkt an, der ebenfalls dem gleichen Mechanismus folgt: Externalisierung von Arbeitgeberrisiken auf die Beschäftigten.

Das kann man auch über bestimmte Tochtergesellschaftskonstruktionen erreichen. Dazu schreibt sie:

»Die Möbelhauskette XXXL etwa, die überall in Deutschland riesige Läden betreibt, stellt ihre Verkäufer bei Tochtergesellschaften des Möbelkonzerns an. Die bekommen dann von der Betreiberfirma des jeweiligen Möbelhauses einen Auftrag.
Wird dieser Auftrag gekündigt, ist die Beschäftigungsgesellschaft insolvent – und die Mitarbeiter können auf einen Schlag betriebsbedingt gekündigt werden.«

Das wurde ebenfalls hier schon mit einem eigenen Beitrag „gewürdigt“: Arbeitnehmer entsorgen: Multi-Outsourcing der Beschäftigten in Zombie-Gesellschaften. Ein Beispiel aus der Welt der Möbelhäuser vom 20. März 2016.

Nun könnte man meinen, dass solche Entwicklung die sozialdemokratische Arbeitsministerin Andrea Nahles nicht ruhen lässt und das bereits eifrig gegrübelt wird, ob und wie man was dagegen machen kann. Da muss man aber enttäuscht werden, wenn es stimmt, was Dowideit berichtet:

»Ministerin Nahles will jedoch weder Kapovaz-Verträgen noch Tochtergesellschaftskonstruktionen etwas entgegensetzen. Man sehe keinen Handlungsbedarf, teilt das Ministerium zum Thema Arbeit auf Abruf mit.«

Man sieht nichts. Ministerielle Dunkelheit hat sich ausgebreitet. Das irgendwie kennt man derzeit auch aus so einigen anderen sozialpolitisch relevanten Feldern.

Das Bundesarbeitsgericht und die Nachtarbeiter. Mindestens 25 Prozent Nachtarbeitszuschlag auch da, wo keine tarifvertraglichen Regelungen bestehen

Immer öfter wird abends oder nachts gearbeitet, so das Statistische Bundesamt in einem Beitrag über Abend- und Nachtarbeit. Der Anteil der Erwerbstätigen, die abends (= zwischen 18 und 23 Uhr) arbeiten, ist zwischen 1992 (15 Prozent) und 2014 (26 Prozent) um zehn Prozentpunkte gestiegen. Der Anteil derjenigen, die regelmäßig nachts (= zwischen 23 und 6 Uhr) arbeiten, hat von 7 Prozent auf 9 Prozent zugenommen. Männer arbeiteten dabei fast doppelt so häufig nachts (11 Prozent) wie Frauen (6 Prozent). Über die gravierenden Folgen regelmäßiger Nachtarbeit wird seit langem berichtet, vgl. beispielsweise den Artikel Irgendwann macht der Körper schlapp oder die von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung publizierte Übersichtsarbeit Schichtarbeit. Rechtslage, gesundheitliche Risiken und Präventionsmöglichkeiten. Da sollte man meinen, dass wenigstens eine monetäre Zusatzvergütung oder eine angemessene Anzahl bezahlter freier Tage für die Arbeitnehmer selbstverständlich ist, wenn sie zu diesen Zeiten arbeiten müssen. Dem ist aber offensichtlich nicht durchgängig so, was das Bundesarbeitsgericht in einer neuen Entscheidung aufgegriffen hat.

Mit welchem Sachverhalt wurde das Bundesarbeitsgericht konfrontiert? Der Pressemitteilung Angemessenheit eines Nachtarbeitszuschlags – Dauerhafte Nachtarbeit vom 09.12.2015 kann man dazu entnehmen:

»Der Kläger ist bei der Beklagten als Lkw-Fahrer im Paketlinientransportdienst tätig. Die Arbeitszeit beginnt in der Regel um 20.00 Uhr und endet unter Einschluss von Pausenzeiten um 6.00 Uhr. Die Beklagte ist nicht tarifgebunden. Sie zahlte an den Kläger für die Zeit zwischen 21.00 Uhr und 6.00 Uhr einen Nachtzuschlag auf seinen Stundenlohn iHv. zunächst etwa 11%. Später hob sie diesen Zuschlag schrittweise auf zuletzt 20% an. Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm einen Nachtarbeitszuschlag iHv. 30% vom Stundenlohn zu zahlen oder einen Freizeitausgleich von zwei Arbeitstagen für 90 geleistete Nachtarbeitsstunden zu gewähren.«

Während das Arbeitsgericht der Klage stattgeben hat, wurde seitens des Landesarbeitsgerichts Hamburg hingegen nur ein Anspruch in Höhe von 25% festgestellt. Die gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts gerichtete Revision des Klägers fiel beim 10. Senat des Bundesarbeitsgerichts auf fruchtbaren Boden. Die Entscheidung kann man so zusammenfassen:

»Bestehen keine tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen, haben Nachtarbeitnehmer nach § 6 Abs. 5 ArbZG einen gesetzlichen Anspruch auf einen angemessenen Nachtarbeitszuschlag oder auf eine angemessene Anzahl bezahlter freier Tage. Regelmäßig ist dabei ein Zuschlag iHv. 25% auf den Bruttostundenlohn bzw. die entsprechende Anzahl freier Tage für die zwischen 23.00 Uhr und 6.00 Uhr geleisteten Nachtarbeitsstunden angemessen. Bei Dauernachtarbeit erhöht sich dieser Anspruch regelmäßig auf 30%.«

Der Regelfall ist also für alle ein Zuschlag von 25 Prozent. Davon kann nach unten wie auch nach oben abgewichen werden, wobei letzteres die 30 Prozent erklären.
Zur möglichen Abweichung des Zuschlags nach unten führt das höchste Arbeitsgericht aus:

»Eine Reduzierung der Höhe des Nachtarbeitsausgleichs kommt in Betracht, wenn während der Nachtzeit beispielweise durch Arbeitsbereitschaft oder Bereitschaftsdienst eine spürbar geringere Arbeitsbelastung besteht.«

Und zu den Abweichungen nach oben im Sinne eines höheren Zuschlags schreiben die Richter:

»Besondere Belastungen können zu einem höheren Ausgleichsanspruch führen. Eine erhöhte Belastung liegt nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen bei Dauernachtarbeit vor. In einem solchen Fall erhöht sich der Anspruch regelmäßig auf einen Nachtarbeitszuschlag iHv. 30% bzw. eine entsprechende Anzahl freier Tage.«

Der Tatbestand einer Dauernachtarbeit wurde im konkreten Fall seitens der Bundesarbeitsrichter gesehen und entsprechend zugunsten des klagenden Nachtarbeiters in Rechnung gestellt.

Die Bedeutung der neuen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ist darin zu sehen, dass mit der Entscheidung die unbestimmte Formulierung des § 6 Abs. 5 ArbZG konkretisiert wird. Der genannte Paragraph lautet: »Soweit keine tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen bestehen, hat der Arbeitgeber dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren.« Hinsichtlich des „angemessenen“ Zuschlags haben die Arbeitgeber jetzt eine klare Orientierung.

Der Acht-Stunden-Tag ist nicht mehr zeitgemäß. Und wer will schon von gestern sein? Aber so einfach darf man es sich nicht machen

Die Infragestellung der bestehenden Regelungen zur täglichen Höchstarbeitszeit im Arbeitszeitgesetz durch die Arbeitgeberverbände wurde schon in einem früheren Beitrag in diesem Blog kritisch unter die Lupe genommen: Arbeitszeit: Schneller und vor allem immer mehr, wenn es denn der einen Seite passt. Zur Arbeitgeber-Forderung nach einer „Flexibilisierung“ des Arbeitszeitgesetzes. Aber man muss anscheinend noch mal was nachlegen, wenn man beispielsweise mit solchen Kommentierungen konfrontiert wird: Der Acht-Stunden-Tag ist nicht mehr zeitgemäß, meint Werner van Bebber schon in der Überschrift zu seinem Artikel. Das reizt natürlich, denn wer will schon altbacken und vormodern, eben nicht (mehr) auf der Höhe der Zeit erscheinen? Deshalb auch das Plakat aus der mittlerweile 125 Jahre umfassenden Geschichte der Kundgebungen zum 1. Mai zur Illustration dieses Beitrags (Quelle: DGB, 125 Jahre 1. Mai: Unsere Erfolge im Spiegel der Maiplakate). Und Hand aufs Herz – der auf dem Plakat abgebildete Malocher ist doch nun wirklich irgendwie aus der Opa-Zeit. Geschichte halt. So auch die Argumentation von Bebber: »Die Arbeitswelt hat sich radikal verändert … Die Malocherjobs werden weniger. Wer eine geistig anspruchsvolle Arbeit macht, der arbeitet selbstständiger denn je, eher an Projekten orientiert und eher in einem Team. Da lässt man nach acht Stunden nicht einfach den Bleistift fallen.« Ja genau, so ist das vielerorts und bei vielen Jobs.

Aber einen Moment lang nachgedacht – was folgt denn daraus? Das Arbeitszeitgesetz abzuschaffen oder zumindest erheblich zu schleifen? An diesem Punkt könnte man dann auch aus weit verbreiteter Steuerhinterziehung gesetzgeberischen Handlungsbedarf ableiten. Auch Webber hebt sofort die durchaus diskussionswürdigen, aber zuweilen eben auch nur scheinbaren Gewinne an Lebensqualität jenseits der Fabrikhölle, in der der auf dem Plakat abgebildete Ideal-Arbeiter sicher schuften musste und für den das richtige Leben jenseits der Werktore begann. »Ingenieure oder Softwareentwickler können ihren Arbeitsplatz nach Hause verlegen, Fahrzeiten zum Büro und nach Hause einsparen und sich die Zeit selbst einteilen … Und wer als Angestellter diese neue Freiheit nutzt, wird sie schätzen«, schreibt er. Das mag so sein und dies es sicher auch für nicht wenige Betroffene. Aber für viele andere, erweisen sich die neuen Freiheiten sogleich als Quelle für neue Fesseln, die in ihnen angelegt werden, nur das die nicht so sichtbar und körperlich fühlbar sind wie die der klassischen Fabrikarbeiter es waren. Wenn Arbeitszeit und Freizeit und Familienzeit sich immer stärker vermischen und aufzulösen beginnen, wird aus der anfänglichen Freude nicht selten neues Leid.

Und nochmal Hand aufs Herz: Wieso müssen die als Schutzvorschriften gegen eine übermäßige Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft eigentlich überhaupt geschliffen werden, wenn man das hier zur Kenntnis nimmt: Arbeitnehmer sind flexibel, Arbeitgeber eher nicht, so Nadine Oberhubers Überschrift: »Forscher warnen: Schon jetzt arbeiten viele Deutsche mehr als das Gesetz erlaubt.« Was man seit geraumer Zeit in Deutschland beobachten kann ist eine „Polarisierung“ dergestalt, dass wir »einerseits eine generelle Arbeitszeitverkürzung, weil die Zahl der Teilzeitverträge stark zugenommen hat«, erleben, »andererseits sehen wir einen großen Teil von Beschäftigten, der Überstunden macht«, so wird der Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch von der Universität Duisburg-Essen in dem Artikel von Oberhuber zitiert.

»Diejenigen, die in Vollzeit beschäftigt sind, arbeiten immer länger und oft mehr, als das Gesetz erlaubt. Das gilt vor allem für die Branche der Unternehmensberatungen, Hotels und Gaststätten, Transport und Verkehr sowie Medien … Je älter Mitarbeiter sind, desto mehr Überstunden machen sie. Je größer das Unternehmen, desto eher tun sie es. Wenn es gar nicht erst eine Arbeitszeiterfassung gibt, wie bei Unternehmensberatungen oder Medien, ackern Angestellte am längsten. Müssen Firmen Überstunden dagegen bezahlen oder in Freizeit abgelten, tun sie auch viel, um sie gar nicht erst anfallen zu lassen. Sonst wird es teuer.«

Die Diagnose von Gerhard Bosch ist eindeutig: „Wir sind in Europa dasjenige Land mit der höchsten Arbeitszeitflexibilität“. Trotz Arbeitszeitgesetz.

Kommen wir wieder zurück zur Kommentierung von Werner van Bebber, der davon ausgeht, das Arbeitszeitgesetz sei nicht mehr zeitgemäß. Er bringt ein weiteres Argument, das auf den ersten Blick plausibel daherkommt:

»Gewiss: Der große theoretische Vorteil des Acht-Stunden-Tags ist seine Kalkulierbarkeit. Wer genau weiß, wann er täglich den Dienst beendet, kann nebenher auch noch eine Fußballmannschaft trainieren. Doch flexible Arbeitszeiten müssen nicht bedeuten, dass Arbeitnehmer das Familienleben oder ihre Interessen aufgeben. So schlau, zu wissen, dass gestresste Angestellte schneller krank werden, sind wohl die meisten Arbeitgeber.«

Die meisten Arbeitgeber? Eine gewagte These. Mindestens genau so plausibel erscheint die Gegenthese, dass die meisten Arbeitgeber das nicht tun – nicht, weil sie schlechte Menschen sind, sondern weil der Druck und die Abläufe in vielen Betrieben heute so ist, dass man bewusst-unbewusst eine maximale Ausnutzungsstrategie realisiert. Und dagegen muss man Arbeitnehmer schützen, so fern das überhaupt möglich ist in einer betrieblichen Realität, die in vielen Branchen dadurch gekennzeichnet ist, dass Arbeitgeber nicht nur Tarifflucht betrieben haben, sondern oftmals auch gar kein Betriebsrat vorhanden ist, der sich die halbwegs ordentliche Einhaltung der Arbeitszeitvorschriften zu eigen machen kann.

Dabei sind die Befunde für die Sinnhaftigkeit von Arbeitszeitschutzvorschriften evident. Aus diesen Erkenntnissen resultieren dann solche Artikel: MB und Arbeitsmediziner schlagen Alarm: »Psychologen, Werksärzte und Marburger Bund reagieren ablehnend auf Vorschläge von Arbeitgebern, am Arbeitszeitgesetz zu schrauben.«

Dass eine Aufhebung des in Deutschland gültigen Acht-Stunden-Tags weniger zu einer Flexibilisierung als zu einer Entgrenzung führen könnte, fürchtet der Berufsverband Deutscher Psychologen und Psychologinnen (BDP).

»Auch Betriebsärzte sehen die Idee kritisch. „Das bisherige Arbeitszeitgesetz limitiert die tägliche Arbeitszeit auf zehn Stunden, aus Sicht der Arbeitsmedizin ist dies eine sehr sinnvolle Regelung“, sagt Dr. Wolfgang Panter, Präsident des Verbands Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW).«

Im März dieses Jahres hat die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) im Rahmen der öffentlichen Konsultation zur Überarbeitung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie (Richtlinie 2003/88/EG) eine Stellungnahme abgegeben. Darin wird beispielsweise auf den Forschungsstand die weit verbreitete Schichtarbeit betreffend hingewiesen:

»Mit ansteigender Dauer der Arbeitszeit nehmen auch die Unfallzahlen zu. Bereits nach der neunten Arbeitsstunde zeigt sich ein deutlicher Anstieg des Unfallrisikos. Dies hat auch eine Untersuchung aus dem Jahr 1998, bei der 1,2 Millionen Unfälle analysiert wurden, deutlich gemacht … Die Analyse hat ergeben, dass das Unfallrisiko generell nach der neunten Arbeitsstunde exponentiell ansteigt. Darüber hinaus ergab sich eine signifikante Wechselwirkung von aktueller Arbeitsdauer und Tageszeit. Die Unfallhäufigkeit nach unterschiedlichen Arbeitsdauern hing davon ab, zu welcher Tageszeit die Arbeit begann. Bei späterem Schichtbeginn stieg die Unfallrate nach der achten Arbeitsstunde dramatisch an.«

Und weiter:

»Darüber hinaus haben Langzeitanalysen gezeigt, dass lange wöchentliche Arbeitszeiten mit einem höheren Unfall- und Erkrankungsrisiko assoziiert sind. So wurde zum Beispiel von Dembe et al. ermittelt, dass eine wöchentliche Arbeitsdauer von mehr als 60 Stunden – nach Kontrolle von personen- und arbeitsplatzbezogenen Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Branche – mit einem 23 % höheren Verletzungsrisiko einhergeht im Vergleich zu einer geringeren Stundenzahl … Auch Beeinträchtigungen wie Schlafprobleme oder Herzerkrankungen nehmen mit Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit zu.«

 Die Schlussfolgerung ist eindeutig: »Um die Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit zu gewährleisten sind von daher nach Auffassung der gesetzlichen Unfallversicherung Schichtdauern von mehr als acht Stunden pro Tag und Wochenarbeitszeiten von mehr als 40 Stunden im Sinne der Prävention nicht zu empfehlen.«

Bei allen durchaus auch nachvollziehbaren Argumenten für eine zumindest Aufweichung der starren Regelungen in einem Arbeitszeitgesetz und einer Anpassung an die bereits gelebte abweichende Realität sollte und darf das Schutzziel nicht aus den Augen verloren werden. Dafür gibt es – wie die arbeitswissenschaftliche Forschung hat zeigen können, durchaus auch handfeste betriebswirtschaftliche Argumente hinsichtlich der Produktivität der Arbeitnehmer. Und auch hinsichtlich deren Gesundheit.

Foto: DGB, 125 Jahre 1. Mai: Unsere Erfolge im Spiegel der Maiplakate