Was für ein Jahresanfangsdurcheinander: Die Rente mit 70 (plus?), ein Nicht-Problem und die Realität des (Nicht-)Möglichen

Neben den Themen Flüchtlingspolitik und den Auswirkungen des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns nach seiner Einführung zum 1. Januar 2015 wird – das ist sicher – in dem nun neuen Jahr das Thema Alterssicherung und damit die Rentenfrage ganz oben auf der sozialpolitischen Agenda stehen. Und kaum war das Silvester-Feuerwerk verklungen, hat der Chef der Bundesagentur für Arbeit scheinbar eine neue Rakete in der rentenpolitischen Debatte gezündet: Arbeitsagentur fordert freiwillige Rente mit 70, so ist der Bericht dazu überschrieben worden. Unabhängig von dem durch die Überschrift suggerierten Eindruck, dass offensichtlich die Bundesagentur für Arbeit jetzt persönliches Eigentum des Herrn Weise geworden ist, was meines Wissens noch nicht der Fall ist – sein Vorschlag löste eine einerseits erwartbare, zugleich aber auch etwas überraschende Reaktionsmechanik aus. Freiheit statt Zwangsverrentung, jubelt beispielsweise Hennig Krumrey in der WirtschaftsWoche und moniert zugleich: »Nur die politische Unterstützung für diese gute Idee fehlt noch.« Auch nicht überraschend die Reaktionen auf der anderen Seite: „Abenteuerlich und völlig verfehlt“, poltert der Parteichef der Linken, Bernd Riesiger, und die zweite Vorsitzende Katja Kipping wird mit den Worten zitiert, die Vorschläge „gehen in die völlig falsche Richtung“. Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand wird ebenfalls kritisierend zitiert mit den Worten: „In den Ohren derjenigen, die es nicht bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter schafften, müsse es „wie Hohn klingen, wenn wieder einmal über die Freiheit des längeren Arbeitens philosophiert wird“. Etwas irritierend ist dann vielleicht schon so ein Ausreißer aus der gewohnten Lager-Bildung: Laut Ramelow sei Rente mit 70 „kein Quatsch“: »Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) hat sich offen für die Idee einer Rente mit 70 auf freiwilliger Basis gezeigt – und stellt sich damit gegen die Bundesparteispitze.« Was ist hier los?

Schauen wir uns in einem ersten Schritt erst einmal an, was denn der Herr Weise von der Bundesagentur für Arbeit eigentlich genau gesagt hat:

»Angesichts des Fachkräftebedarfs in Deutschland plädiert der Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, für zusätzliche Anreize, um Ältere bis zum Alter von 70 Jahren im Berufsleben zu halten. „Flexible Ausstiege aus dem Erwerbsleben in Rente sind grundsätzlich ein gutes Modell“ …  „Man sollte nun auch Anreize dafür setzen, dass Arbeitnehmer, die fit sind, freiwillig bis 70 arbeiten können“, forderte Weise. Für den Arbeitsmarkt wäre das gut, betonte der BA-Vorstand.«

Man achte auf die Formulierung: Es geht um zusätzliche Anreize, die gewährt werden sollen, wenn Arbeitnehmern jenseits des gesetzlichen Renteneintrittsalters weiterarbeiten. Einerseits entschärft das auf den ersten Blick die Debatte, denn es geht offensichtlich (noch) nicht darum, die beschlossene und derzeit ablaufende schrittweisen Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67, das für die Jahrgang 1964 erreicht sein wird, auf 70 anzuheben. Auch die derzeit unter bestimmten Bedingungen mögliche „Rente mit 63“, die ja nur für wenige Jahrgänge möglich ist und die parallel zur Einführung der Rente mit 67 auf 65 Jahre angehoben wird, ändert nichts an der grundsätzlichen Erhöhung des Renteneintrittsalters, von der vor allem die geburtenstarken Jahrgänge betroffen sein werden. »Die „Rente  mit 70“ steht also für die Möglichkeit freiwillig länger zu arbeiten – und zwar unter günstigeren Bedingungen als bisher«, darauf weist auch Stefan Sauer in seinem Beitrag Ein Vorstoß ohne Zwang hin.

Nun wird der eine oder die andere an dieser Stelle berechtigterweise die Frage stellen: Wo ist eigentlich das Problem? Ist das nicht heute schon möglich?

Ja, so muss die einfache Antwort in einem ersten Schritt lauten. Beschäftigte können – im Prinzip – den Renteneintritt auf einen späteren Zeitpunkt verschieben und erhalten dafür eine höhere Rente. Das heißt aber eben auch, dass es sich bereits heute lohnen kann, länger zu arbeiten, wenn man denn will und kann und – das wird allerdings in den meisten Artikeln gerne unterschlagen, wenn der Arbeitgeber auch mitmacht, denn es gibt nicht wenige Unternehmen, die aus welchen Gründen auch immer gar kein Interesse haben an der Weiterbeschäftigung älterer Arbeitnehmer und dann gerne auf das gesetzliche Renteneintrittsalter als Austrittsgrund verweisen, um den Mitarbeiter loswerden zu können.

Was bedeutet es vor dem Hintergrund der bestehenden Rentenformel konkret, wenn ein älterer Arbeitnehmer länger an Bord bleibt? Dazu Stefan Sauer in seinem Artikel:

»Für jeden Monat, um den sie den Rentenbezug hinauszögern, erhalten sie einen Zuschlag von 0,5 Prozent. Sofern sie unterdessen sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, sammeln sie zusätzliche Rentenpunkte an, die ihre Anwartschaften zusätzlich erhöhen. Beispiel: Wer den Renteneintritt um ein Jahr aufschiebt, erhält lebenslang eine um 12 mal 0,5 Prozent – also sechs Prozent – erhöhte Monatsrente. Zahlt er in dieser Zeit durchschnittliche Rentenbeiträge ein, erhält er zusätzlich einen Rentenpunkt, der derzeit knapp 30 Euro pro Monat wert ist. Beide Faktoren gemeinsam lassen eine Monatsrente von 1.300 Euro auf mehr als 1.400 ansteigen. Bei noch späterem Rentenbezug erhöht sich die Rente entsprechend.«

Man muss sich in aller Deutlichkeit klar machen, dass es bereits heute im bestehenden System aufgrund der Entgeltpunkt- und Zuschlagssystematik der Rentenformel durchaus „lohnend“ ist, weiterzuarbeiten und man keineswegs „bestraft“ wird, wenn man sich dafür entscheidet. Wer mit dem Erreichen des Renteneintrittsalters seine Rente in Anspruch nimmt, kann weiterhin arbeiten gehen und ganz wichtig: Dabei entfallen die Zuverdienst-Grenzen von 6.300 Euro pro Jahr, die für Frührentner gelten. Jenseits der Regelaltersgrenze können Rentner also so viel dazu verdienen wie sie wollen beziehungsweise können, ohne dass dies Einfluss auf die Höhe der Rente hätte. Aber damit noch nicht genug: »Zugleich sind die arbeitenden Rentner von Beitragszahlungen an die Arbeitslosen- und Rentenversicherung befreit. Die Arbeitgeber müssen allerdings weiterhin ihren Rentenbeitragsanteil abführen«, so Sauer.

Und ganz wichtig ist auch der Hinweis, dass die immer wieder geforderten vereinfachten Rahmenbedingungen zugunsten der Unternehmen für eine Weiterbeschäftigung älterer Arbeitnehmer von der Großen Koalition im Windschatten der Rente mit 63 und der Mütterrente bereits hergestellt worden sind: In der Vergangenheit waren unbefristete Arbeitsverhältnisse bei einer Weiterbeschäftigung nach Erreichen des Renteneintrittsalters automatisch als unbefristet fortgeführt worden, was den Arbeitgebern ein Dorn im Auge war, denn solche Arbeitsverhältnisse sind seitens vieler Unternehmens kaum kündbar, ihre Beendigung ist oft mit Abfindungszahlungen verbunden. Das empfanden die Arbeitgeber als ein besonderes Risiko und ihre Forderung war es denn auch, so gestellt zu werden, dass sie die möglichen Vorteile einer Weiterbeschäftigung älterer Arbeitnehmer in Anspruch nehmen können und gleichzeitig aber diese schnell loswerden können, wenn „ihre Zeit gekommen“ ist. Und da ist ihnen die Bundesregierung ganz erheblich entgegengekommen: Die von den Arbeitgebern geforderten vereinfachten Rahmenbedingungen hat die Regierungskoalition »bereits im Juli 2014 gleichzeitig mit der Mütterrente und der Rente mit 63 in Kraft gesetzt: Seither können Arbeitnehmer und Arbeitgeber eine befristete Weiterbeschäftigung nach Erreichen des Renteneintrittsalters vereinbaren und solche Befristungen auch mehrfach verlängern.« Dass manchen Arbeitgeber die Befristungsregelung „natürlich“ immer noch nicht reicht und sie sich am liebsten jederzeit und ohne Widerspruchsmöglichkeiten von den älteren Arbeitnehmern trennen möchten, wenn die nicht mehr so funktionieren sollten, wie man das erwartet, sei an dieser Stelle nur nachrichtlich erwähnt.

Bleibt also an dieser Stelle die Frage, was den nun neu oder weiterführend sein soll an den aktuellen Vorschlägen. Es wurde bereits erwähnt, dass die Arbeitgeber ihren Teil des Rentenversicherungsbeitrags für die jenseits des Renteneintrittsalters beschäftigten Arbeitnehmer weiter zahlen müssen. Und hier setzt ein seit längerem in die Debatte geworfener Vorschlag der Arbeitgeber an: Unter dem sympathisch daherkommenden Begriff der „Flexi-Rente“ sollen diese Arbeitgeberbeiträge an die Arbeitnehmer ausgeschüttet werden, um einen zusätzlichen Anreiz zu setzen. Ein Schelm, wer böses denkt und rechnen kann, denn die Arbeitgeber wollen den Arbeitnehmer beglücken mit mehr Geld, das sie nicht etwa zusätzlich aufbringen müssten – das wäre ja auch eine Möglichkeit, wenn das Wissen und die Arbeitskraft der älteren Arbeitnehmer wirklich so dringend erforderlich sind, wie man uns in der Diskussion über einen Fachkräftemangel unterschieben möchte -, sondern das man der Sozialversicherung entwendet, um es dem Einzelnen dann auszuzahlen. Das nun ist aus Arbeitgebersicht verständlich und attraktiv, aber aus Sicht der Sozialversicherung fragwürdig, denn wie wir gesehen haben, profitieren die länger arbeitenden Menschen ja auch aufgrund der Mechanik der Rentenformel von ihrem längeren Arbeiten durch eine höhere Rente.

In diese Richtung argumentiert auch Carsten Linnemann, seit 2013 Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung der CDU, der zum einen erkennt, dass man – wenn schon – an der richtigen Stelle bei den Sozialversicherungsabgaben ansetzen muss, ansonsten unterstützt er den Vorstoße der Arbeitgeberseite. Er argumentiert in seinem Anfang Dezember 2014 erschienenen Artikel Länger arbeiten muss sich lohnen so:

»Im Kern muss es also um mehr Flexibilität im Rentenalter gehen. Um die zu erreichen, müssen die bestehenden „Strafabgaben“ für Beschäftigte im Rentenalter beseitigt werden. Denn es ergibt keinen Sinn, dass Arbeitgeber für Arbeitnehmer, die eine Altersrente beziehen, aber weiter arbeiten, Arbeitslosen- und Rentenversicherungsbeiträge zahlen, obwohl die Betroffenen überhaupt nicht mehr arbeitslos werden können und damit auch kein Arbeitslosengeld mehr beanspruchen können. Kurzum: Die Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung gehören schlicht abgeschafft … In der Rentenversicherung sollte es für diejenigen, die über das Rentenalter hinaus arbeiten, einen Flexi-Bonus in Gestalt eines Rentenzuschlags geben.«

Trotz der etwas differenzierteren Herleitung – auch Linnemann schiebt den schwarzen Peter der Finanzierung der „Anreize“ für die älteren Arbeitnehmer an die Sozialversicherung. Es ist schon beeindruckend bzw. es spricht für sich, dass keiner auf die erste marktwirtschaftlich naheliegende Lösung kommt: Wenn den Arbeitgebern das Humankapital der älteren Fachkräfte angeblich so wichtig ist, dann müsste das in die Lohnbildung internalisiert werden, bevor man wieder Geschäfte zu Lasten Dritter macht.

Und was schlägt Bodo Ramelow von den Linken, der für viele überraschende Sympathisant einer freiwilligen „Rente mit 70″, vor? Man darf jetzt doch etwas überrascht sein, aber vielleicht liegt es einfach nur daran, dass er auch in die Medien wollte und deshalb schnell sprechen musste: „Arbeitnehmern, die das Rentenalter erreicht haben, aber weiter arbeiten wollen, kann beispielsweise die Einkommensteuer erlassen werden“, so wird der neue Ministerpräsident zitiert. Das wäre dann einer Art Arbeitgeber-Forderung 2.0. Ob er jetzt auch eingeladen wird zum Arbeitgeber-Tag?

Fazit: Bereits heute gibt es die grundsätzliche Möglichkeit, dass die, die wollen und können, über das Renteneintrittsalter hinaus arbeiten gehen. Hierfür hat die Große Koalition bereits seit Juli 2014 die arbeitsrechtlichen Voraussetzungen im Interesse der Arbeitgeber flexibilisiert. Vielleicht sollte man einmal genauer hinschauen, warum es so vielen Arbeitgebern offensichtlich schwer fällt, von den bestehenden Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit waren Mitte 2014 in der Altersgruppe von 65 bis 69 lediglich 130.000 Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Möglicherweise ist ein großer Teil der Arbeitgeber das Nadelöhr, das den Zugang zu mehr Beschäftigung für Menschen oberhalb des gesetzlichen Renteneintrittsalters verengt.Hinzu kommt natürlich, dass auch wenn es nicht mehr Anreize geben würde, länger zu arbeiten: Für viele Arbeitnehmer kann das gar kein Thema sein oder werden. Dazu Stefan Sauer in seinem Artikel:

»Das Institut für Arbeit und Qualifikation der Uni Duisburg Essen stellte Anfang 2014 in einer Studie fest, dass Beschäftigte im Hoch- und Tiefbau im Schnitt bereits mit 57,6 Jahren ihren Beruf aufgeben müssen. Starken Belastungen, die zu einem frühzeitigen Aus ihrer Berufsausübung führen, sind der Untersuchung zufolge unter anderem Arbeitnehmer in Holz und Kunststoffverarbeitung, in der Logistik und in Ernährungsberufen sowie branchenübergreifend Hilfsarbeiter ausgesetzt. Auch im Dienstleistungsbereich, etwa in der Altenpflege, gibt es körperlich und psychisch stark beanspruchende Tätigkeiten. Für Millionen Beschäftigte ist die Rente mit 70 also kein Thema.«

Die angesprochene Studie des IAQ ist als „Altersübergangsreport 2014-01“ erschienen: Martin Brussig und Mirko Ribbat: Entwicklung des Erwerbsaustrittsalters: Anstieg und Differenzierung. Hier bekommt man ein sehr differenziertes Bild der Entwicklung beim Ausstieg aus dem Erwerbsleben. Nur zwei Beispiele: »Hinsichtlich des mittleren beruflichen Austrittsalters gibt es große Unterschiede zwischen Berufen. Die Altersspanne zwischen Berufen mit einem sehr hohen und einem sehr niedrigen mittleren beruflichen Austrittsalter liegt bei über fünf Jahren.« Hinzu kommt: »Berufe mit einem hohen mittleren beruflichen Austrittsalter erlauben nicht notwendigerweise lange Erwerbsphasen, sondern können auch durch Personen geprägt sein, die erst am Ende ihres Erwerbslebens vorübergehend in einen Beruf hineinströmen, nachdem sie ihren langjährig ausgeübten Beruf aufgegeben haben.« Die Wirklichkeit ist eben immer schwieriger, als es oftmals erscheint.

Im Jahr 2013 waren – nach einem kontinuierlichen Anstieg des Anteils in den vergangenen Jahren – von den 60- bis 64-Jährigen 32,4% sozialversicherungspflichtig beschäftigt, also gerade einmal jeder Dritte in dieser Altersgruppe (immer wieder wird von interessierter Seite die wesentlich höhere Erwerbstätigenquote genannt, die 2013 bei 49,9% lag, zu denen gehören aber alle, die irgendwie und sei es nur ein wenig arbeiten, egal ob als Arbeitnehmer. Minijobber oder Selbständiger).
Es gibt also noch eine Menge zu tun bei denen, die unter 65 sind. Vielleicht sollte man vernünftigerweise darauf die Prioritäten legen und ansonsten die Arbeitgeber motivieren, von den bestehenden Regelungen für eine freiwillige Weiterarbeit a) Gebrauch zu machen und b) wenn ihnen das so wichtig ist, mit dem marktwirtschaftlichen Instrument der Verbesserung der Arbeitsbedingungen, zu denen auch die Löhne gehören, zu reagieren, bevor man nach Dritten ruft, die einem das bezahlen, so wie früher die Frühverrentungen auf die Sozialversicherungen externalisiert worden sind.

Was Amazon, die Deutsche Post und Daimler gemeinsam haben

Seit dem 15. Dezember hat die Gewerkschaft Verdi Versandzentren von Amazon bestreikt – bis zum Heiligabend. Damit geht die bisher längste Arbeitsniederlegung im aktuellen Tarifstreit zu Ende. »Pro Tag hätten zeitweise bis zu 2.700 Beschäftigte ihre Arbeit in den Versandzentren niedergelegt, teilte die Gewerkschaft … mit. Zuletzt seien die Standorte Graben, Bad Hersfeld, Rheinberg und Leipzig von rund 2.000 Mitarbeitern bestreikt worden«, kann man der Meldung Streik bei Amazon vorerst beendet entnehmen. »Der Arbeitskampf schwelt bereits seit Ostern 2013. Die Gewerkschaft fordert für die Mitarbeiter in den deutschen Amazon-Versandzentren tarifliche Regelungen, wie sie im Einzel- und Versandhandel üblich sind. Der US-Konzern dagegen nimmt die Vereinbarungen der Logistikbranche als Maßstab, in der weniger bezahlt wird.« Die Gewerkschaft will, dass Amazon nach den Bedingungen des Einzel- und Versandhandels agieren soll, während das Unternehmen sich selbst im Bereich der Logistik sieht. Also in Deutschland. Eben nicht grundsätzlich, darauf weisen David Jamieson und Tobias Fuelbeck in ihrem Beitrag Amazon nutzt Wortspielchen, um die Gehälter zur drücken hin. Sie verweisen auf die USA: »Dort vergleicht sich Amazon nämlich gar nicht gerne mit den Löhnen im Logistik-Sektor. Hier bezieht sich das Unternehmen nämlich auf … den Einzelhandel.« Sie zitieren das Unternehmen Amazon selbst, das 2013 veröffentlicht hat: „Die mittlere Bezahlung in Amazon-Vertriebszentren ist 30 Prozent höher als bei Angestellten in traditionellen Einzelhandelsgeschäften“. Also sind die Mitarbeiter bei Amazon im nicht-traditionellen Einzelhandel, was man aber ihren Kollegen in Deutschland partout verwehren will. Gibt es eine Aufklärung dieses – scheinbaren – Widerspruchs? Aber natürlich und die muss was mit den Löhnen – aus Sicht des Unternehmens: den Kosten – zu tun haben.

David Jamieson und Tobias Fuelbeck klären uns auf:

»Falls Sie sich jetzt fragen, warum Amazon in den USA seine Mitarbeiter als nicht-traditionelle Einzelhandelsmitarbeiter ansieht, kann Ihnen das Statistikamt des amerikanischen Arbeitsministeriums helfen. Der durchschnittliche Einzelhandelsverkäufer in den USA verdient 9,81 Dollar, während der Logistikmitarbeiter 14,25 Dollar verdient.«

Der aufmerksame Leser wird sofort gerechnet haben: Mit knapp über 12 Dollar verdienen die Amazon-Mitarbeiter also deutlich weniger als der durchschnittliche Logistik-Arbeitnehmer. In Deutschland ist es genau anders herum. Die beiden schlussfolgern also:

»Amazon ist also ein Einzelhändler, der manchmal die Löhne gerne mit dem Handel vergleicht. Amazon ist aber auch ein Logistikunternehmen, das seine Löhne gerne mit denen der Logistikbranche vergleicht.«

Oder ist es nicht vielmehr umgekehrt? Also da kann man schon mal durcheinander kommen und das erklärt vielleicht auch ein wenig, warum sich die Gewerkschaft Verdi offensichtlich die Zähne ausbeißt an diesem Unternehmen. Denn richtig handfeste Ergebnisse kann man noch nicht vorweisen. Was aber tatsächlich an mehreren Gründen liegt, nicht nur an der Tatsache, dass es zahlreiche befristet Beschäftigte bei Amazon gibt, von denen viele wieder ausgespuckt werden, von denen gleichzeitig aber eben auch viele hoffen, dass sie zu den wenigen gehören könnten, für die es weitergehen wird. Da überlegt man sich Streikaktionen mehr als einmal.

Ein ganz zentraler Grund, warum Amazon den harten Hund spielen kann in Deutschland ist natürlich die Tatsache, dass man Alternativen hat zu den aufsässigen deutschen Standorten. Jörg Winterbauer zeigt das in seinem Artikel Warum Polen ein Paradies für Amazon ist: Die Gelassenheit des Online-Händlers angesichts der Arbeitskampfaktionen erklärt sich seiner Meinung nach aus der Tatsache, dass er ja drei Logistikzentren in Polen hat. Dort arbeiten die Mitarbeiter für ein Viertel des deutschen Lohns.

Bereits am 25.11.2013 wurde in diesem Blog im Beitrag Von „Work hard. Have fun. Make history“ bei Amazon zur Proletarisierung der Büroarbeit in geistigen Legebatterien. Streifzüge durch die „moderne“ Arbeitswelt gleich am Anfang formuliert: »Eines ist ganz sicher – die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di nervt Amazon mit ihrer impertinenten Forderung nach einem Tarifvertrag für die Beschäftigten in den deutschen Warenverteilzentren des Weltkonzerns. Deshalb lässt Amazon ja auch schon mal sicherheitshalber neue Logistik-Zentren in der Tschechei und Polen errichten – „natürlich“ auf gar keinen Fall mit der Absicht, die Arbeit dann aus dem für Arbeitgeber „anstrengenden“ Deutschland in die angenehmer daherkommenden Ostländer zu verlagern und die Standorte in Deutschland auszudünnen oder gar aufzugeben. Was natürlich nicht für die Belieferung des deutschen Marktes gilt, denn der ist richtig wichtig für Amazon, hier wird Marge gemacht und dass soll auch so bleiben –  bereits 2012 hat Amazon in Deutschland 6,4 Milliarden Euro umgesetzt und damit seit 2010 um 60 Prozent zugelegt. Und geliefert werden kann auch aus Polen und der Tschechei.«

Jetzt können bzw. müssen wir die ersten Früchte dieser Strategie zur Kenntnis nehmen. Zurück zu dem Artikel von Jörg Winterbauer aus dem Dezember des Jahres 2014:

»Vor dem Amazon-Lager in Posen sitzen zwei junge Männer und rauchen eine Zigarette in einem eigens dafür vorgesehenen Zelt. Sie sehen müde aus. Die Uhr an der Zeltwand zeigt halb fünf. Normalerweise hätten sie schon seit einer halben Stunde Feierabend, aber sehr viele Deutsche, Österreicher und Schweizer warten noch auf ihre Weihnachtsgeschenke. Deshalb müssen die beiden heute länger arbeiten. Zwölf statt normalerweise zehn Stunden.«

Seit September werden aus zwei Zentren in der Nähe von Breslau sowie aus einem in Posen Waren an deutsche Kunden verschickt. Ein geschickter Schachzug von Amazon, denn dadurch kann die Firma Verzögerungen durch Streiks vorbeugen und ist dadurch weniger angreifbar für die Gewerkschaften. Außerdem arbeiten die Menschen in Polen für ein Viertel des Lohns, den Amazon in Deutschland bezahlen muss, so Winterbauer.

»Bei einem Stundenlohn von umgerechnet drei Euro und einer 40-Stunden-Woche kommt ein einfacher Arbeiter auf rund 500 Euro brutto, netto bleiben weniger als 400 Euro pro Monat. Doch damit zahlt Amazon noch mehr als den polnischen Mindestlohn, der bei etwa 420 Euro liegt. Außerdem bietet der Konzern seinen Mitarbeitern eine warme Mahlzeit für 25 Cent an, holt sie kostenlos von zu Hause ab und fährt sie nach der Arbeit auch wieder zurück.«

An dieser Stelle sollten zwei Dinge klar werden. Erstens: Gegen das Lohnniveau im benachbarten Polen oder Tschechien haben die deutschen Arbeitnehmer keine echte Chance. Und zweitens: Eine Verlagerung in die Niedriglohnländer funktioniert letztendlich nur, weil es den meisten Kunden egal ist. Würden viele Kunden, mal rein hypothetisch gedacht, dem Unternehmen signalisieren, entweder Belieferung von deutschen Standorten oder gar keine Bestellung, würde sich schneller was ändern als durch jeden Druckversuch von Verdi. Das tun aber die meisten Kunden (noch) nicht. Und deshalb hat eben auch die Gewerkschaft – neben dem Organisationsgrad – ein echtes Problem und das Unternehmen (noch) eine echte Alternative.

Kommen wir zum zweiten Unternehmensbeispiel: Die Deutsche PostLohndrücker-Vorwürfe gegen die Post, so ist beispielsweise ein Artikel überschrieben. Betriebsräte und Gewerkschaftsvertreter werfen dem Konzern Lohndrückerei, Erpressung und eine Spaltung der Belegschaft vor. Worum geht es genau?

»Es geht um die Gründung einer neuen Tochtergesellschaft. „Ziel dieser neuen Firma ist es, dort künftig alle befristeten Mitarbeiter unterzubringen“, heißt es … in einer Betriebsratsinfo: „Das könnte dann mit neuen Arbeitsverträgen, mit verschlechterten Löhnen und Arbeitsbedingungen geschehen.“
Der Betriebsrat drohte Widerstand und Streiks an. „Mit der Gründung der DHL Delivery GmbH schafft die Deutsche Post bereits im Vorfeld der Tarifrunde Fakten und erhöht damit den Druck auf die Gewerkschaften“, sagte Volker Geyer, der Vorsitzende der Kommunikationsgewerkschaft DPV. Die Post beschäftigt nach eigenen Angaben derzeit 14.700 Arbeitskräfte mit zeitlich befristeten Verträgen. Das ist knapp ein Zehntel der Gesamtbelegschaft in der Brief- und Paketsparte.«

Die Deutsche Post verweist dagegen immer wieder auf den hohen Lohnabstand zu ihren Wettbewerbern: Sie zahle doppelt so viel wie andere Brief- und Paketdienste, so das Unternehmen. Das ist nicht falsch, tatsächlich zahlen die Konkurrenten der Post deutlich schlechter und haben dadurch enorme Kostenvorteile. Wenn jetzt also die Gewerkschaften zu Arbeitskampfaktionen aufrufen bei der Post, dann haben sie auf der einen Seite völliges Verständnis verdient, denn offensichtlich soll innerhalb des Unternehmens eine Lohndumping-Strategie gefahren werden (zu den Arbeitsbedingungen am Beispiel der Postboten vgl. beispielsweise den Artikel Kochenjob Postbote). Zugleich muss aber auch darauf hingewiesen werden, dass die Post zugleich mit Konkurrenten konfrontiert ist, die günstiger sein können, weil deren Arbeitskostenbelastung niedriger ist.

Und schon sind wir beim dritten Unternehmensfallbeispiel: Daimler, einem Unternehmen, dass gerade in diesen Tagen wieder eine Erfolgsmeldung nach der anderen absetzt. Bereits Ende Oktober berichtete Daniel Behruzi in dem Artikel Verlagerung und Outsourcing:

»Die Folgen der Renditesteigerung bekommen die Beschäftigten in der Produktion, aber auch die Angestellten in der Entwicklung und Verwaltung zu spüren. Permanente Rationalisierung, Arbeitsverdichtung und eine weitgehende Flexibilisierung der Arbeits- und Betriebszeiten sind Alltag. Zugleich steht die Zukunft einiger Standorte zur Disposition, da Daimler die Produktion »in die Märkte«, also nach China, Indien und in die USA, bringen will.
So droht im Düsseldorfer Werk wegen der soeben beschlossenen Verlagerung von Teilen der »Sprinter«-Produktion in die USA ein drastischer Jobabbau.«

Und in diesen Dezember-Tagen berichtet die Presse: »Nach Arbeitsniederlegung gegen Fremdvergabe im Bremer Pkw-Werk werden Beteiligte zu Personalgesprächen beordert. In Düsseldorf wird jeder zehnte Job gestrichen«, so Daniel Behruzi in seinem Artikel Druck bei Daimler. Die Belegschaft im Bremer-Werk des Daimler-Konzerns »wehrt sich seit Monaten gegen die geplante Vergabe von Aufträgen an Fremdfirmen. Nachdem Beschäftigte der Nachtschicht Ende vergangener Woche erneut die Arbeit niederlegten, macht das Management nun mit Personalgesprächen Druck.« Was bringt die Beschäftigten in dem Bremer Daimler-Werk so auf? Das Unternehmen hält sich bedeckt, klar scheint nur zu sein, »dass die Fertigungstiefe in der Fabrik weiter reduziert werden soll. Sprich: Tätigkeiten, die zuvor von Daimler-Beschäftigten erledigt wurden, werden an Zulieferer oder externe Dienstleister vergeben.«
Zugleich wirft das Beispiel der Vorgänge im Bremer Daimler-Werk das Licht auf eine weitere Problemstelle vieler Betriebe, namentlich der Möglichkeit, leistungsgeminderte Mitarbeiter an anderen als den bisherigen Arbeitsplätzen zu beschäftigen. Dazu Behruzi seinem Artikel:

Die von Outsourcing betroffenen Logistiker lassen sich … nicht durch die Zusicherung beruhigen, ihnen werde ein anderer Arbeitsplatz angeboten. Denn zum einen waren viele von ihnen vor zwei Jahren noch in der Presswerk-Logistik beschäftigt und nach deren Fremdvergabe auf ihren heutigen Arbeitsplatz versetzt worden. Zum anderen handelt es sich vielfach um sogenannte Einsatzeingeschränkte – Arbeiter, deren Gesundheit die anstrengende Fließfertigung nicht mehr mitmacht. Sie fürchten, dass es wegen der fortgesetzten Auslagerung bald keine adäquaten Stellen bei Daimler Bremen mehr für sie gibt.

»Unter den Kollegen in der Logistik sind viele, die durch die harte Arbeit am Band verschlissen wurden«, erläuterte Betriebsrat Herbert Mogck … »Es gibt gar nicht mehr so viele sogenannte Schonarbeitsplätze, so dass die Betroffenen wohl zwangsläufig am Band landen.«

Was nun sind die Gemeinsamkeiten an allen drei Unternehmensfallbeispielen? Auf der einen Seite handelt es sich bei allen drei Unternehmen nicht um Unternehmen, die ihre Beschäftigten am unteren Ende bezahlen. Das gilt selbst für Amazon. Aber sowohl der Online-Händler wie auch Daimler können dem Widerstand ihrer Arbeitnehmer die Androhung bzw. die tatsächliche Realisierung von Abwanderung oder Verlagerung an billigere Dritte entgegensetzen. Die Stammbelegschaft bei Daimler hat hierzu bereits unterschiedliche Erfahrungen sammeln müssen: So beispielsweise durch den zunehmenden Einsatz von Werkverträgen oder die Verringerung der Fertigungstiefe durch eine Verlagerung an Zulieferer. Bei Amazon sind es die neuen Logistik-Zentren, die man in den benachbarten Ländern Polen und Tschechien errichtet hat. Die Deutsche Post befindet sich insofern in einer besonderen Situation, als dass eine einfache Verlagerung beispielsweise in andere Länder so nicht möglich ist. Gleichzeitig steht man unter erheblichem Druck durch die Konkurrenten, die mit niedrigeren Arbeitskosten auf dem Markt agieren können. Die Deutsche Post befindet sich mithin in einer vergleichbaren Situation wie ein weiteres Unternehmen, das an dieser Stelle aufgerufen werden könnte: die Lufthansa. Auch in diesem Unternehmen hat es in den vergangenen Monaten wieder mehrere Arbeitskämpfe der Piloten gegeben. Die wehren sich nicht nur gegen eine Verschlechterung ihrer Renteneintrittsbedingungen, sondern sie sehen auch die Gefahren, die damit verbunden sind, dass das Unternehmen die gesamten Arbeitsbedingungen an die der Billigfluglinien angleichen will bzw. meint zu müssen. Die Lufthansa ist gleichsam eingeklemmt zwischen den Kostenvorteilen, die die Billigflieger  haben, sowie den Marktanteilsgewinnen von Premium-Anbietern, vor allem aus den Golfstaaten. Ein echtes „Sandwich-Dilemma“.

Aus dieser Gemengelage resultiert eine unangenehme Diagnose: Alle Arbeitskampfaktionen in den genannten Unternehmen sind für sich genommen absolut nachvollziehbar und verständlich. Zugleich stoßen sie in einem doppelten Sinne an eine Grenze: Zum einen sind sie aus einer betriebswirtschaftlichen Perspektive durchaus problematisch, da sie dazu beitragen können, die bestehenden Geschäftsmodelle der Unternehmen in eine zunehmende Schieflache zu bringen, zum anderen sind sie absolut nachvollziehbar, da die Beschäftigten sich gegen einen Downgrading wehren. Würden sie das nicht tun, würden sie sich ins eigene Knie schießen.
Eigentlich müssten die Streikaktionen bei den Billiganbietern und Lohndumpern stattfinden. Konkret wären Streiks bei Hermes oder GLS, um den Paketdienstebereich zu nennen, oder der Piloten von Ryanair wichtig bzw. in diesem Gefüge wünschenswert. Dort aber sind wir konfrontiert zum einen mit einem deutlich niedrigeren gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Beschäftigten wie auch mit dem Problem, dass die dort arbeitenden Menschen Angst haben, durch kollektive Aktionen dem Arbeitgeber Paroli zu bieten.

Aber auch die Nachfrager dürfen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden. Dies gilt nicht nur für das Beispiel Amazon, denn natürlich müsste das Unternehmen anders agieren, wenn ein signifikant großer Anteil der Kunden ihr Kaufverhalten auch davon abhängig machen würde, dass das Unternehmen seine Kunden in Deutschland aus Deutschland beliefert. Und wenn man das Beispiel Daimler zu Ende denkt, dann ist es natürlich so, dass man durch eine Produktion in anderen Ländern mit deutlich niedrigeren Arbeitskosten erheblich billiger werden könnte. Nun ist es aber nicht so, dass die Kosteneinsparung dann eins zu eins an die Verbraucher weitergegeben werden würden, sondern man würde diese Strategie mit dem Preisniveau für die Autos in Deutschland kombinieren wollen. Auch hier müssen sich die Verbraucher fragen, ob sie diese Entwicklung durch ihr konkretes Kaufverhalten unterstützen wollen oder nicht. Langfristig gesehen würde die Rechnung sowieso nicht aufgehen, man kann nicht die gut bezahlten Arbeitsplätze in Deutschland wegrationalisieren und trotzdem auf das hier entwickelte Preisniveau setzen.

So oder so bleibt die Erkenntnis: Wenn dein starker Arm es will, stehen alle Räder still – das hört sich leichter an als es heute überhaupt noch möglich ist. Die Gewerkschaften befinden sich häufig in unauflösbaren Dilemmata. Umso wichtiger ist die Unterstützung ihrer wichtigen Arbeit aus dem politischen Raum, beispielsweise durch einen verstärkten Einsatz der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen. Darüber wird im vor uns liegenden neuen Jahr verstärkt zu reden sein.

3,40 Euro Stundenlohn sind sittenwidrig. Und wer so was macht als Arbeitgeber, handelt „subjektiv verwerflich“. Genau so ist das

Der heutige Tag eignet sich doch hervorragend für eine „frohe“ Botschaft:
3,40 Euro Stundenlohn ist sittenwidrig, melden viele Zeitungen mit Bezug auf ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf. Das ist doch mal eine Ansage.

Das Landesarbeitsgericht hat dazu eine Pressemitteilung herausgegeben – Sittenwidrige Vergütung für Schulbusbegleiterin -, der wir den Sachverhalt entnehmen können, um den es hier geht.

»Die Klägerin war bei der Beklagten vom 10.02.2012 bis zum 31.10.2012 als Busbegleitung beschäftigt. Ihre Aufgabe bestand darin, während einer morgendlichen Tour gemeinsam mit einer Busfahrerin geistig und körperlich behinderte Schüler an verschiedenen Zustiegspunkten abzuholen und zur Schule zu bringen. Nachmittags waren die Schüler nach Beendigung des Unterrichts wieder abzuholen und nach Hause zu fahren. Die Klägerin erhielt hierfür zwei Tourpauschalen pro Arbeitstag in Höhe von jeweils 7,50 Euro. Das Arbeitsentgelt erhielt die Klägerin nur bei erbrachter Arbeitsleistung. Entgeltfortzahlung für Feiertage und Arbeitsunfähigkeit erhielt sie nicht. Bezahlter Erholungsurlaub wurde nicht gewährt.«

Das fand die Klägerin nicht nur nicht in Ordnung, sondern ein sittenwidriges Verhalten des Arbeitgebers: »Die Klägerin verlangt eine Vergütung gemäß dem Tarifstundenlohn für das private Omnibusgewerbe in Nordrhein-Westfalen von 9,76 Euro brutto, weil die ihr gezahlte Vergütung sittenwidrig sei.«

Das Gericht hat sich beraten und ist zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen:

»Der tatsächliche Stundenverdienst der Klägerin an Einsatztagen von 3,40 Euro war sittenwidrig niedrig. Der objektive Wert der Arbeitsleistung betrug 9,76 Euro brutto pro Stunde. Das allgemeine Lohnniveau wird durch den Tarifstundenlohn des privaten Omnibusgewerbes in Nordrhein-Westfalen bestimmt, weil mehr als 50 % der Arbeitgeber kraft Mitgliedschaft im tarifschließenden Arbeitgeberverband organisiert sind. Die subjektive Verwerflichkeit ist gegeben.«

Über die „subjektive Verwerflichkeit“ sollte sich der eine oder andere Anbieter solcher Dienstleistungen Gedanken machen – gerade auch wohlfahrtsverbandliche Anbieter, denn von denen werden hier und da ähnlich niedrige Vergütungen gerade im Bereich der Behindertentransporte berichtet. Also geht in euch und beseitigt die „subjektive Verwerflichkeit“, ansonsten müssen das andere machen.
Für die Klägerin hat das Urteil ganz handfeste Konsequenzen:

»Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf hat der Klägerin weitere 3.982,12 Euro brutto an Vergütung und 369,00 Euro brutto Urlaubsabgeltung zugesprochen. Der der Klägerin gezahlte Lohn von 15,00 Euro pro Arbeitstag (zwei Tourpauschalen), war sittenwidrig niedrig, weil die Klägerin täglich eine Arbeitsleistung von 4 Stunden und 25 Minuten erbrachte.«

Allerdings ist das erst einmal ein Weihnachtsgeschenk unter Vorbehalt, denn der letzte Satz der Pressemitteilung des Landesarbeitsgerichts lautet:
Das Landesarbeitsgericht hat die Revision zugelassen. Dann wollen wir mal hoffen, dass es die Diagnose einer „subjektiven Verwerflichkeit“ auch nach oben schafft, wenn denn das betroffene Unternehmen diesen Weg beschreiten sollte.