Von abstrakten „Armutsgefährdungsquoten“, bekannten Mustern der ungleichen Armutsverteilung und bedenklichen Entwicklungen

Bereits am 16. September meldete sich Florian Diekmann auf Spiegel Online zu Wort mit dieser Meldung: Armutsrisiko steigt auf höchsten Stand seit Wiedervereinigung. 15,7 Prozent der Menschen in Deutschland waren 2015 von monetärer Armut bedroht, 0,3 Prozentpunkte mehr als 2014 und so viel wie nie seit der Wiedervereinigung. Die zu diesem Zeitpunkt dem Verfasser des Artikels offensichtlich bereits vorliegenden Zahlen sind nun vom Statistischen Bundesamt offiziell veröffentlicht worden: Armutsgefährdung in Westdeutschland im 10-Jahres-Vergleich gestiegen, so haben die Bundesstatistiker ihre Pressemitteilung überschrieben. Die „Armutsgefährdungsquote“ ist ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut und wird – entsprechend dem EU-Standard – definiert als der Anteil der Personen, deren Äquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung (in Privathaushalten) beträgt. Der Median ist das mittlere Einkommen, die eine Hälfte der Menschen hat weniger, die andere Hälfte hat ein höheres Einkommen. Das Äquivalenzeinkommen ist ein auf der Basis des Haushaltsnettoeinkommens berechnetes bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen je Haushaltsmitglied. Geht das auch konkreter, wird der eine oder andere fragen. Wann ist denn nun ein konkreter Mensch von Einkommensarmut „gefährdet“?

Dazu muss man die sogenannte „Armutsgefährdungschwelle“ in Euro pro Monat kennen. Und die lag im vergangenen Jahr für den „einfachsten“ Fall einer alleinstehenden Person, also einem Einpersonenhaushalt, bei 942 Euro, von denen sich dann die zitierten 15,7 Prozent Armutsgefährdete ableiten. Wenn also jemand weniger als diesen Betrag zur Verfügung hat, dann taucht er oder sie in der Quote mit auf.

Die 942 Euro als Schwellenwert gelten nun für ganz Deutschland – also für diejenigen, die in Mecklenburg-Vorpommern leben genau so wie für die, denen die Aufgabe gestellt ist, in München über die Runden zu kommen. Nur sind die Lebenshaltungskosten in den beiden Beispielsfällen, die stellvertretend für die regionalen Disparitäten in unserem Land stehen, sicher recht unterschiedlich, wenn man an die jeweiligen Preisniveaus denkt. Das spiegelt sich ja auch in unterschiedlichen Einkommensniveaus  zwischen den Regionen, die Menschen verdienen im Süden des Landes im Schnitt mehr als im Nordosten. Die Abbildung zu den Armutsgefährdungsschwellen verdeutlicht denn auch die praktische Umsetzung des folgenden Gedankengangs:

Man könnte durchaus plausibel auf die Idee kommen, dass es vielleicht sinnvoller wäre, regionale Armutsschwellen auszuweisen, die in München höher liegen müssen als in Mecklenburg-Vorpommern, denn dort ist das Einkommensniveau insgesamt deutlich niedriger als in Bayern. Und die ausgewiesenen Werte – 799 Euro im Nordosten und 1.025 Euro in Bayern für einen Einpersonenhaushalt – zeigen das dann auch. Die Armutsgefährdungsschwelle in Bayern liegt um 30 Prozent höher als in Mecklenburg-Vorpommern.

Es ergeben sich handfeste Unterschiede bei den als „Armutsquoten“ gehandelten Anteilwerten auf der Ebene der Bundesländer je nachdem, ob man den einen Bundes-Median oder aber die jeweiligen mittleren Einkommen in den einzelnen Bundesländern als Schwellenwerte heranzieht.
Nimmt man die 15,7 Prozent Armutsgefährdete in Deutschland, die mit dem Schwellenwert von 942 Euro pro Monat (und relativ gesehen weniger für Mehrpersonenhaushalte, 2015 für eine vierköpfige Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren lagt dieser Wert bei 1.978 Euro im Monat) über alle Menschen in Deutschland ermittelt wurde, dann zeigt sich mit Blick auf die Bundesländer ein erwartetes Muster: Hohe Betroffenheit von Armutsgefährdung in Ostdeutschland und ein geringeres Niveau in den alten Bundesländern.
Das Armutsrisiko wäre demnach in den ostdeutschen Bundesländern um mehr als ein Drittel höher als in Westdeutschland.
Allerdings zeigt die ebenfalls in der Abbildung ausgewiesene Anwendung der jeweiligen Bundesländer-Mediane ein abweichendes Bild. Jetzt liegen die so berechneten Einkommensarmutsquoten im Westen anteilig über denen im Osten des Landes.

Das und mehr wurde bereits im März dieses Jahres von Florian Diekmann in seinem Artikel Das Armutszeugnis. Trügerische Statistik zum Einkommen diskutiert. Auch er weist auf die Unterschiede der jeweiligen Armutsquoten je nach zugrundeliegenden mittleren Einkommen hin: »In vielerlei Hinsicht erscheint die Darstellung nach Bundesland-Maßstab also als realistischer. So bilden die regionalen Einkommenshöhen die Lebenshaltungskosten am Wohnort besser ab als im gesamtdeutschen Maßstab.«

»Und dennoch: Auch die Armutsquote nach Bundesland-Maßstab ist eben nicht wahrer als die herkömmliche. Sie ermöglicht lediglich einen weiteren, anderen Blick auf das Phänomen Armut.
Denn in mancher Hinsicht passt der Bundesland-Maßstab nicht zur deutschen Lebenswirklichkeit. So kostet die Milch bei Aldi das Gleiche, ob sie nun in Schwedt oder Stuttgart im Regal steht – gerade ärmere Haushalte geben einen großen Teil ihres Geldes für Lebensmittel aus. Und Eltern im mecklenburgischen Gallin nutzt es wenig, dass die Preise zu Hause niedrig sind, wenn sie ihre Kinder finanzieren müssen, die im 60 Kilometer entfernten Hamburg eine Berufsausbildung machen oder studieren.«

Man kann das mit den regionalen Durchschnittswerten natürlich noch kleinteiliger machen als auf der Ebene der Bundesländer, aber dann hat man irgendwann den Effekt: In einem Armenhaus gibt es keine Armut, weil der Schwellenwert immer weiter absinkt.

Was kann man denn ansonsten noch mitnehmen aus den Daten? In dem Artikel von Florian Diekmann wurde der Verfasser zitiert:

»Der Koblenzer Sozialwissenschaftler Stefan Sell macht seit Langem auf derlei Tücken der Statistik aufmerksam – hält aber zwei Erkenntnisse ganz unabhängig vom gewählten Maßstab für nicht wegdiskutierbar: „Alleinerziehende, Kinder und Langzeitarbeitslose – diese Gruppen sind überdurchschnittlich stark von Armut betroffen.“ Und das habe in den vergangenen Jahren noch zugenommen. Zudem beobachtet er „auch eine regionale Konzentration und Zunahme der Armutsproblematik. Dabei gelten alte Gewissheiten wie ‚armer Osten‘ versus ‚reicher Westen‘ nicht mehr.“ Ein Befund, den eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung kürzlich untermauert hat

Das kann man auch an den aktuellen Daten illustrieren: Die allgemeine Armutsgefährdungsquote lag 2015 bei 15,7 Prozent: Bei den Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren waren es 19,7 Prozent, bei den Alleinerziehenden 43,8 Prozent und bei den Erwerbslosen werden sogar 59 Prozent ausgewiesen.

Interessant sind zwei weitere Aspekte. Die Medien berichteten zwar über den Anstieg der Armutsgefährdungsquote, haben diesen aber sogleich relativiert mit Blick auf die einheimische Bevölkerung. Dazu als ein Beispiel dieser Artikel: Flüchtlinge machen Deutsche nicht ärmer: »Die Armutsquote ist in Deutschland im vergangenen Jahr durch die Migration leicht gestiegen. Einheimische sind allerdings nicht stärker betroffen als in den Jahren zuvor.« Und weiter erfahren wir: »Die Folgen der Flüchtlingskrise erreichen jetzt die Statistiken. Ein genauerer Blick auf die Daten zeigt …, dass der Anstieg ausschließlich auf eine gestiegene Armutsquote unter Migranten zurückzuführen ist. In diese Gruppe werden auch die Flüchtlinge gezählt. Bei der einheimischen Bevölkerung stagniert der Anteil dagegen seit 2011 bei 12,5 Prozent.«

Die Abbildung verdeutlicht zum einen den erheblichen Niveauunterschied zwischen den Menschen ohne und mit Migrationshintergrund sowie die Tatsache, dass tatsächlich der für 2015 gegenüber 2014 ausgewiesene Anstieg der Quote auf die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund zurückzuführen ist, deren Lage sich (weiter) verschlechtert hat. Das WSI hat sich ausführlicher mit der Frage „Wie wirkt sich Zuwanderung auf Armut aus?“ beschäftigt.

Allerdings sollte auch dieser Hinweis in dem bereits zitierten Artikel Flüchtlinge machen Deutsche nicht ärmer nicht untergehen: Bei der einheimischen Bevölkerung stagniert der Anteil der Einkommensarmen seit 2011 bei 12,5 Prozent. Man kann also nicht sagen, dass die Einwanderung (derzeit) auf das Armutsrisiko durchschlägt, aber der Finger wird angesichts des wirtschaftlichen Umfelds der vergangenen Jahre auf eine andere Wunde gelegt:

»Auf der anderen Seite zeigen sie, dass die aktuell sehr gute wirtschaftliche Lage und die geringe Arbeitslosigkeit sich offenbar nicht auf das Armutsrisiko auswirken. Ein Grund dafür könnte sein, dass viele Menschen im Niedriglohnsektor beschäftigt sind und deswegen unterhalb der Schwellenwerte bleiben.«

Die Abbildung soll aber auch noch für einen weiteren, vor allem mit Blick auf die Zukunft höchst relevanten Aspekt der Armutsrisikoentwicklung sensibilisieren. In den vergangenen Jahren wurde und wird zu Recht darauf hingewiesen, dass vor allem Kinder und Jugendliche überdurchschnittlich von Einkommensarmut (ihrer Eltern) betroffen sind, während es „den“ älteren Menschen doch sehr gut gehen würde, auf alle Fälle wären sie von Einkommensarmut nur unterdurchschnittlich betroffen. Aber der Blick auf die Entwicklung der Armutsgefährdungsquote für die Menschen ab 65 Jahre verdeutlicht auch, dass wir hier mit einem erheblichen Anstieg der Anteilwerte konfrontiert sind, während die Werte bei den unter 18-Jährigen stagnieren.

Und ein etwas genauerer Blick lohnt:
Die allgemeine Quote liegt bei 15,7 Prozent, die der älteren Menschen ab 65 Jahre bei unterdurchschnittlichen 14,6 Prozent. Aber das wird nur dadurch erreicht, dass der Anteilswert bei den Männern ab 65 Jahren bei 12,6 Prozent liegt, hingegen erreicht der Armutsrisikowert bei den Frauen bereits 2015 überdurchschnittliche 16,3 Prozent. Die von den Statistikern gemessene Armutsgefährdungsquote der älteren Frauen hat sich von 2006 bis 2015 um 36 Prozent erhöht, während sich der Anstieg bei den unter 18-Jährigen auf nur 6 Prozent begrenzt. Man kann also in diesen trockenen Zahlen die bereits an Fahrt aufnehmende Ausweitung der Altersarmut erkennen – und die ist eine, die vor allem die Frauen betrifft. Zu berücksichtigen ist, dass erst in den kommenden Jahren aufgrund der immer brüchiger gewordenen Erwerbsbiografien, der Niedriglohnentwicklung seit den 1990er Jahren und den Folgen des Leistungsabbaus in der gesetzlichen Rentenversicherung viele Menschen in die Altersgruppe ab 65 Jahren aufsteigen, die dann in der Gruppe der relativ Einkommensarmen zu finden sein werden.

Zugegeben – das war eine Menge trocken daherkommender Zahlen-Stoff, aus dem man allerdings so einiges an sozialpolitischen Baustellen ableiten kann. Wer sich an dieser Stelle nach einer gewissen „Erdung“ des behandelten Themas Armut sehnt, dem sei an dieser Stelle der Artikel Wenn Flüchtlinge auf die Armut Deutschlands treffen von Julian Staib empfohlen: »Überschuldete Haushalte, soziale Verwerfungen: Viele Kommunen kämpfen ohnehin darum, für ihre Bewohner gute Lebensbedingungen zu schaffen. Jetzt kommen noch Flüchtlinge hinzu. Das Beispiel Essen.« Der Beitrag versucht, kein Ausspielen der Menschen unten gegeneinander zu befördern, zugleich legt er aber den Finger auf die Wunde, dass Armutslagen nicht nur mit Durchschnittswerten betrachtet werden dürfen, die zuweilen mehr zuschütten, als sie uns an weiterführenden Informationen ermöglichen. Und es wird der Hinweis gegeben, auf eine fatale Konzentration der Probleme auf der Ebene vor Ort, denn zu den vielen bereits vorhandenen sozialen Problemen in der Stadt Essen ist in den zurückliegenden Jahren und vor allem Monaten eine überdurchschnittliche Zuwanderung von Flüchtlingen gekommen – mit allen Verstärkungsproblemen in der Stadtgesellschaft. Und die Konzentration von Armutslagen löst Handlungsbedarfe aus, deren Bedienung zugleich restringiert wird durch die katastrophale Haushaltslage einer Kommune wie der im Ruhrgebiet. Wir sind konfrontiert mit höchst engagierten Akteuren vor Ort, die sehen und wissen, wie derzeit die Mega-Probleme von morgen produziert werden, die eine Vorstellung davon haben, was man machen müsste, wenn man denn könnte, was aber in der Praxis vor Ort eben oftmals nicht der Fall ist aufgrund der fehlenden Mittel.

In dem Artikel wird am Ende Martin Schlauch zitiert, Mitglied des Stadtrats von Essen, der mit Blick auf sein Viertel Altenessen-Süd ausführt:

»Aus der Sicht Schlauchs hat Essen kein Flüchtlings- und auch kein Ausländerproblem, sondern ein soziales Problem. „Wir haben einen ganz großen Block an Leuten, die resigniert haben.“ Schuld daran sei die Politik: Fehlender sozialer Wohnungsbau, fehlende Durchmischung. Kommen nun viele Flüchtlinge hinzu, sorgt er sich, dass sein Viertel wegkippt. „Nichts ist fataler, als dass die Menschen herumsitzen und nichts zu tun haben.“ Schlauch fordert, massiv in die betroffenen Viertel zu investieren, in Schulen und Sozialwohnungen, in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. „Aber nicht nur für Flüchtlinge.“ Dann, sagt er, gebe es sogar die Chance, durch das „Vehikel Flüchtlinge“ alte Fehler zu korrigieren.«

Es wäre zu hoffen, dass das „Vehikel Flüchtlinge“ nicht nur dazu führt, dass rechtspopulistische Parteien und Stimmungsmacher immer mehr Oberwasser gewinnen und ihren Profit eintreiben aus den unvermeidlichen Spannungen, die sich in der Gesellschaft aufgebaut haben bzw. die von der Berichterstattung zuweilen erst geschaffen werden, sondern dass tatsächlich die von vielen Praktikern seit langem angemahnten „sozialen Investitionen“ endlich ermöglicht werden, damit uns das nicht um die Ohren fliegt.

Auf schwarz-weiße Reflexe ist Verlass – am Beispiel minijobbender Rentner und einem nicht-kinderarmutsreduzierenden Mindestlohn

Es ist ein nicht auflösbares Dilemma in der Sozialpolitik – immer wieder wird man mit völlig entgegengesetzten Bewertungen eines scheinbar eindeutigen Sachverhalts konfrontiert. In diesen Tagen muss man das ein zwei Beispielen erneut zur Kenntnis nehmen.

Da wäre beispielsweise diese Meldung: »Sie räumen Supermarktregale ein, jobben als Briefträger oder arbeiten in Gaststätten: Immer mehr Rentner in Deutschland bessern ihr Einkommen mit einem Minijob auf. Ende 2015 übten bereits 943.000 Senioren ab 65 Jahre einen Minijob aus – ihre Zahl stieg damit seit 2010 um 22 Prozent, im Vergleich zu 2005 sogar um 35 Prozent. Vor zehn Jahren arbeiteten nur 698.000 Senioren in einem Minijob … Besonders drastisch ist der Zuwachs bei den Rentnern ab 75 Jahre: Ende vergangenen Jahres waren knapp 176.000 Senioren dieser Altersgruppe mit einem Monatsverdienst von maximal 450 Euro geringfügig beschäftigt – mehr als doppelt so viele wie noch im Jahr 2005«, kann man dem Artikel Immer mehr ältere Menschen gehen arbeiten – trotz Rente entnehmen.

Man kann sich sogleich vorstellen, was nach der Präsentation dieser erst einmal nackten Zahlen passiert: „Wir sind gegen die Maloche bis zum Tode“, so wird der Rentenexperte der Bundestagsfraktion der Linken, Matthias W. Wirkwald, in dem Artikel zitiert. Der dramatische Anstieg der minijobbenden Rentner in den vergangenen zehn Jahren zeige: Immer mehr Rentner müssten sich die Rente aufbessern. „Diese arbeiten nicht aus Spaß, sondern weil die Rente nicht zum Leben reicht.“

Und Birkwald  steht nicht alleine mit seiner Bewertung. Auch die Sozialverbände sehen in der steigenden Zahl von Rentnern mit Minijobs einen Hinweis auf wachsende Altersarmut. „Die Entwicklung ist zweifellos dramatisch“, wird Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbands Deutschland, zitiert. „Denn sie belegt die wachsende Altersarmut in Deutschland.“

Eine solche Interpretation scheint ja auch naheliegend. Dennoch wird von der anderen Seite zurückgeschossen. Auch das von den Arbeitgebern finanzierte Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat sich sofort zu Wort gemeldet in Gestalt von Holger Schäfer, dem Arbeitsmarktexperten des Instituts: „Sicherlich sind manche Rentner auf ihren Minijob angewiesen“, sog wird er in dem Artikel zitiert. „Doch aus Studien wissen wir: Vielen Senioren macht ihr Minijob Spaß.“ Andere würden mehr Kontakt zu anderen Menschen wollen und würden deshalb ein paar Stunden in der Woche arbeiten gehen. Nach seiner Wahrnehmung machen viele Rentner einen Minijob, „weil sie mehr konsumieren wollen“ und führt als Beleg an, dass es die meisten älteren Minijobber nicht im Osten, sondern in Süddeutschland gibt – also in einer Region, in dem viele Menschen eine gute Rente bezögen.

Hinsichtlich des Arbeitsmarktverhaltens von Menschen gibt es keine einfache „wenn, dann“-Gleichung. Das gilt gerade in diesem Beispielfall. Anders formuliert: Beide Seiten können sicher empirische Evidenz für sich beanspruchen, wenn man wirklich mit den Leuten sprechen würde. Dass es Minijobs gibt, die von Älteren gemacht werden, um über die Runden kommen zu können, steht außer Frage, denn es gibt einfach zu viele Tätigkeiten darunter, die man nicht guten Gewissens unter die IW-Kategorie „Spaß an der Altersarbeit“ subsumieren kann.

Auf der anderen Seite ist es aber eben auch so, dass man nicht einfach die fast eine Million Rentner, die minijobbend einen Teil ihrer Zeit verbringen müssen/wollen, unter die Kategorie „Altersarmut“ subsumieren kann und und darf. Denn natürlich gibt es auch die Fälle, in denen die Menschen diese Entscheidung aus anderen als rein materiellen Gründen im engeren Sinne, also um existenzielle Bedürfnisse abdecken zu können, getroffen haben. Das gilt dann aber auch für das Argument der Arbeitgeberinstitutsseite , weil in Süddeutschland mehr minijobbende Rentner gibt als im ärmeren Osten, könne man gar nicht davon sprechen, dass Altersarmut das Hintergrundproblem sei. Denn gerade unter dem großen Durchschnittsdach „wohlhabend“ verbergen sich im Süden eben auch individuell viele Haushalte bzw. Einzelpersonen, die es schwer haben, über die Runden zu kommen. Außerdem sind sie hier auch mit einem deutlich höheren Preisniveau, man denke nur an die Wohnkosten, konfrontiert. Eine Zwangslage, die zu der Arbeit geführt hat, kann sich gerade hier auch knapp oberhalb der Inanspruchnahme der Grundsicherung entfalten.

Fazit: Beide Interpretationen haben etwas für sich, aber nicht in ihrer Eindimensionalität. Und für beide gibt es nach den wenigen bisher vorliegenden Untersuchungen Hinweise. Vielleicht sollte man hier schlichtweg wesentlich genauer hinschauen.

Das zweite Beispiel bezieht sich auf diese, frustrierend daherkommende Überschrift: Mindestlohn hilft nicht gegen Kinderarmut. Dem Artikel kann man folgende Daten entnehmen:

»Die Einführung des Mindestlohns hat die Kinderarmut in Deutschland nicht erkennbar vermindert. Das lässt sich aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen ablesen … Demnach lebten bei Einführung des Mindestlohns im Januar 2015 noch 861.022 Kinder unter 18 Jahren in einer Aufstocker-Familie mit mindestens einem Erwerbstätigen, der zusätzlich zu seinem geringen Gehalt noch Hartz-IV-Leistungen beantragen musste. Im Januar 2016 waren es 861.539 und damit sogar geringfügig mehr.«

Es geht also a) um Aufstocker und b) um die, bei denen ein oder mehrere Kinder im Haushalt leben.

Und weiter kann man dem Artikel entnehmen, dass im Januar 2015 insgesamt 1,244 Millionen Erwerbstätige gezählt wurden, die neben ihrem Job zur Bestreitung des Lebensunterhalts Hartz IV beantragen mussten. Im Januar 2016 waren es 1,191 Millionen. Dies entspricht einem Rückgang um 4,3 Prozent. Die Zahl der Aufstocker, in deren Haushalt mindestens ein Kind lebt, ging nur um 2,1 Prozent auf 556.000 zurück.

Und die Bewertung dieses Zahlen? Die stammen aus einer Anfrage, die von der Bundestagsfraktion der Grünen an die Bundesregierung gestellt worden ist. „Es ist ein Skandal, wenn fast 900.000 Kinder, obwohl ihre Eltern arbeiten, von Hartz-IV-Leistungen abhängig und damit massiv von Armut bedroht sind“, wird Wolfgang Strengmann-Kuhn, der sozialpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, in dem Artikel zitiert. „Der Mindestlohn geht an den Familien vorbei“, argumentiert der Abgeordnete.

Auch hier werden wir wieder mit einer Instrumentalisierung von Zahlen und daraus abgeleiteten scheinbar plausiblen Schlussfolgerungen konfrontiert. Hängen bleibt beim unbefangenen Leser, „der“ Mindestlohn sei gescheitert, weil die Kinderarmut, genauer: die Zahl der in Hartz IV-empfangenden Bedarfsgemeinschaften lebenden Kinder, bei dessen Eltern es sich um „Aufstocker“ handelt, nicht zurückgegangen ist. Das wiederum ist eine gewagte These. Aus zwei Gründen.

Zum einen – das wurde im Vorfeld der Diskussion immer wieder gesagt – ist eine „armutsvermeidende“ Wirkung (hier im Sinne einer nicht mehr gegebenen Hartz IV-Bedürftigkeit) nur bei alleinstehenden Arbeitnehmern gegeben, wenn sie Vollzeit arbeiten (und unter Berücksichtigung der realen Kaufkraft selbst dann nicht, wenn man sich in „teuren“ Regionen befindet). Aber der gesetzliche Mindestlohn reicht selbst bei Vollzeit nicht aus für eine Existenzsicherung, wenn es Angehörige zu versorgen gibt. Das nun aber ist nicht (nur) ein Problem der Höhe des Mindestlohnes, sondern (auch) des defizitären Familienlastenausgleichs.

Zum anderen wird der unbefangene Leser des zitierten Artikels ob bewusst oder unbewusst den Eindruck bekommen haben, es geht um Leute, die als Aufstocker voll arbeiten und zu wenig verdienen. Wenn man sich nicht auskennt, liegt diese Interpretation auch nahe. Aber „die“ Aufstocker gibt es nicht. Es gibt tatsächlich Vollzeitbeschäftigte, die so wenig verdienen, dass sie noch aufstocken müssen. Aber das ist nur eine kleine Gruppe. Die große Zahle der Aufstocker sind Hartz IV-Empfänger, die sich im Minijob-Bereich Geld hinzuverdienen, also in einer geringfügigen Beschäftigung. Hier könnte der Stundenlohn auch bei 20 Euro und mehr liegen, man würde dennoch nicht aus der Hilfebedürftigkeit herauskommen.

Ich kann ja nichts dafür, die sozialpolitische Welt ist einfach sehr kompliziert und sie verträgt auch keine zu einfachen Antworten.

880 Euro für die Lebensleistung bei den einen, 20 Euro mehr bei den anderen? Die „Lebensleistungsrente“, eine „Garantierente“ in einem grünen Rentenkonzept und CDU-Fachleute machen auch mit

Wenn man die zurückliegenden Wochen und Monate Revue passieren lässt und in Rechnung stellt, dass im Herbst des kommenden Jahres Bundestagswahlen anstehen, dann werden wir einen Wahlkampf erleben, bei dem vieles um das Thema Rente kreisen wird. Da kann es aus parteipolitischer Sicht durchaus Sinn machen, so schnell wie möglich ein eigenes Konzept in den öffentlichen Raum zu stellen und dazu noch ein oder zwei marktgängige Begriffe zu besetzen. Das können wir gerade am Fallbeispiel der Grünen besichtigen, die am 3. Juni 2016 sichtlich zufrieden unter der Überschrift Grüne Rente mit Zukunft mitgeteilt haben: »Viele Menschen machen sich große Sorgen um ihre Altersvorsorge. Der grüne Bundesvorstand hatte deshalb vor zwei Jahren eine Rentenkommission damit beauftragt, Konzepte auszuarbeiten, wie die Alterssicherung in Deutschland weiterentwickelt werden kann.« Und nun liegt das Ergebnis vor: Abschlussbericht der Grünen Rentenkommission, so trocken ist das Dokument überschrieben. Und es enthält unter anderem auch einen eingängig daherkommenden Begriff, der schon seit einigen Jahren immer wieder im grünen Sprachgebrauch auftaucht: Eine „Garantierente“. Also eine grüne Garantierente.
Wenn etwas garantiert wird, dann hat das gerade in den heutigen Zeiten einen ganz eigenen Wert, wie viele gebeutelte Bürger wissen, wenn sie beispielsweise an „Garantiezinsen“ bei Lebensversicherungen denken, deren garantierte Höhe in den vergangenen Jahren geschmolzen ist wie die Butter in der Sonne.

Man habe ein Konzept für eine steuerfinanzierte Garantierente erarbeitet, die allen Menschen, die mindestens 30 rentenversicherungspflichtige Jahre vorweisen können, eine Rente ermöglicht, die oberhalb der Grundsicherung liegt. Viele werden sich natürlich für die Höhe interessieren. 900 Euro könnten es werden. Denn die Garantierente soll sich auf 30 Entgeltpunkte belaufen (ein Punkt entspricht im Westen vom 1. Juli an einem Rentenwert von 30,45 Euro). Dann kommt man auf die genannten 900 Euro.

Nun könnte der eine oder andere an dieser Stelle einwerfen, dass sich das aber sehr nach der „Lebensleistungsrente“ anhört, die bei der Großen Koalition auf der Liste noch zu erledigender Punkte steht – wobei nicht nur die Sprachwissenschaftler ihre Freude an der Begrifflichkeit haben werden, wenn man bedenkt, dass es ganz korrekt „solidarische Lebensleistungsrente“ heißen muss, folgt man dem Koalitionsvertrag, denn die Union hatte vor der Regierungsbildung für eine „Lebensleistungsrente“ geworben, während die SPD mit einer „Solidarrente“ hausieren gegangen ist. Bei der Koalitionsbildung hat man dann die beiden Begriffe vereinigt zu eben einer „solidarischen Lebensleistungsrente“, damit sich jeder wiederfinden kann (vgl. dazu den Beitrag Mehr als ein rentenpolitischer Sturm im Wasserglas? Die „Lebensleistungsrente“ erhitzt die Gemüter vom 1. April 2016).

Und wie soll die „Lebensleistungsrente“ nun aussehen?

Wer lange Jahre Vollzeit gearbeitet, für sich vorgesorgt hat und dennoch keine Rente bezieht, die die Sozialhilfe übersteigt, soll die Lebensleistungsrente erhalten. Sie soll mit rund 880 Euro im Monat knapp oberhalb der Grundsicherung liegen und den Betroffenen den Gang zum Sozialamt ersparen, so das Konzept dieses Ansatzes, der immerhin im Koalitionsvertrag steht.

Dieses Ansinnen ist bei vielen aus ganz unterschiedlichen Gründen auf Kritik gestoßen. Für eine besonders heftige Ablehnung reicht es bei Franz Ruland. Er war von 1992 bis 2005 Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger sowie von 2009 bis 2013 Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung. Seine Meinung dazu hat er in einen Artikel mit dieser mehr als deutlichen Überschrift gepackt: Stoppt den Unfug!

Seine Einwände sehen zusammengefasst so aus und zeigen, dass wir es hier mit einem klassischen Vertreter des Sozialversicherungssystems zu tun haben:

»Schon der Name „Lebensleistungsrente“ ist eine Irreführung. Für diejenigen, deren Lebensleistung nicht zu einer ausreichenden Rente gereicht hat, soll es eine „Sozialhilfe de luxe“ geben, die die Rentenversicherung auszahlt. Die Leistung wäre keine Rente. Sie setzt die zu prüfende Bedürftigkeit voraus, notwendigerweise auch die des Ehegatten. Auch der Effekt der Beitragszahlung ist ganz anders. Bei der Rente steigern die Beiträge den Anspruch, bei der Lebensleistungsrente mindern sie ihn. Wer für diese Leistung den Begriff „Rente“ verwendet, hat den grundlegenden Zusammenhang von Beitrag und Rente nicht verstanden oder – noch schlimmer – will ihn verwischen.

Die Begründung für die geplante Leistung ist ärgerlich. Der Gang zum Sozialamt sei diesen Personen unzumutbar. Wieso ist er es dann für die anderen, die auf Sozialhilfe angewiesen bleiben, etwa für eine Frau, die, weil sie Kinder erzieht und deswegen nicht arbeiten kann, auf Sozialhilfe angewiesen ist?«

Ruland weist zudem darauf hin, dass nur relativ wenige Personen überhaupt für diese neue Leistung in Frage kommen würden:

»2014 wären es laut Bundesregierung 66.000 Personen gewesen, die nach 35 Beitragsjahren weniger als 880 Euro Rente erhalten. Ab 2023 sollen 40 Beitragsjahre vorausgesetzt werden, die Zahl der Berechtigten würde auf 40.000 absinken, danach aber ansteigen. Doch müssen diese Personen auch noch hinreichend lange privat vorgesorgt haben. Die meisten Rentner mit niedrigen Renten bekämen sie also nicht.«

Zur Erinnerung: Wir haben heute schon über 20 Millionen Rentner. Die für die „solidarische Lebensleistungsrente“ vorgesehenen Zugangshürden seien so hoch, dass Arbeitsministerin Andrea Nahles „jeden einzelnen Lebensleistungsrentner mit Handschlag begrüßen kann“, so wird der rentenpolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, Markus Kurth, in einem Artikel von Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Juni 2016 zitiert. Eine Rosstäuscherei also?

Die nicht nur sehr niedrig erscheinenden Zahlen für die Gruppe der potenziell Inanspruchberechtigten lässt sich natürlich zurückführen auf die sehr restriktive Ausgestaltung der Zugangsvoraussetzung für den Leistungsbezug, also vor allem die notwendigen Beitragsjahre und dann auch noch eine nachgewiesene private Vorsorge. Das muss auch vor diesem Zusammenhang gesehen werden:

»Niedrige Renten sind meist Folge einer zu kurzen Versicherungsdauer. Wer nicht auf die 35 beziehungsweise 40 Jahre mit Pflichtbeiträgen kommt, bleibt bei der Sozialhilfe. Das betrifft insbesondere Langzeitarbeitslose, Personen, die abwechselnd selbständig tätig und abhängig beschäftigt waren, Frauen, die viele Kinder erzogen haben, oder Geringverdiener, die nicht zusätzlich privat vorgesorgt haben.«

Dem verantwortungsvollen Sozialpolitiker, der immer auch auf die Auswirkungen in den bürokratischen Systemen schauen wird, mag es angesichts der möglichen und wahrscheinlichen Fallkonstellationen und der dadurch ausgelösten Zuständigkeitsfragen die Nackenhaare sträuben. Ein Beispiel: Was machen wir, wenn bei einer hinsichtlich der Lebensleistungsrente leistungsberechtigten Person in deren Haushalt andere Personen leben, »die trotz ihrer Bedürftigkeit keinen Anspruch auf die Lebensleistungsrente haben, etwa die Ehefrau. Dies würde dazu führen, dass bei diesen Personen zweimal die Bedürftigkeit geprüft werden muss, bei der Rentenversicherung und beim Sozialamt.« So der Hinweis bei Ruland, der damit einhergehend zugleich darauf verweist, dass  in der Verwaltung neue und teure Doppelstrukturen aufgebaut werden müssten.

Aber das können die (derzeit noch) oppositionellen Grünen doch nicht wirklich auch wollen? Doch, im Grunde wollen sie das auch, nur mit einem für die (potenziell) Betroffenen ganz wichtigen Unterschied: Die Zugangshürden sollen bei weitem nicht so hoch sein wie bei den „solidarischen Lebensleitsungsrenten“-Befürworter. Schauen wir in den Abschlussbericht der Grünen Rentenkommission. Da findet man diese Erläuterung:

Es geht den Grünen bei ihrer Garantierente »um Maßnahmen zur Bekämpfung von Altersarmut für langjährig Versicherte. Denn niedrige Löhne, Zeiten der Arbeitslosigkeit, der Pflege von Angehörigen oder der Erziehung von Kindern können dazu führen, dass Versicherte trotz langjähriger Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht auf 30 Entgeltpunkte kommen und somit auf Leistungen der Grundsicherung im Alter angewiesen wären. Für diese Versicherten wollen wir eine steuerfinanzierte Garantierente innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung schaffen, die eine Rente oberhalb des Grundsicherungsniveaus verspricht.«

 Und an anderer Stelle erfährt man diesen wichtigen Punkt:

»Die Garantierente soll ohne Bedürftigkeitsprüfung ausgezahlt werden, das heißt betriebliche und private Altersvorsorge werden nicht angerechnet.«

Das hätte natürlich eine andere Qualität als die „Lebensleistungsrente“ und man mag eigentlich gar nicht sofort die zahlreichen sich anschließenden Fragen hinsichtlich einer Garantierente auflisten, die einem in den Sinn kommen hinsichtlich der Fallkonstellationen in der Wirklichkeit.

Was man allerdings grundsätzlich ansprechen muss ist die Frage nach dem Referenzsystem für die Garantierente. Bei der Lebensleistungsrente in ihrer seit dem Vorstoß der damaligen Bundesarbeitsministerin Ursula von der Lesern (CDU) im politischen Raum zirkulierenden Form ist es nur auf den ersten Blick die einzelne Person mit einer zu niedrigen Rente, denn für die Leistung soll ja  die Bedürftigkeit geprüft werden und die ergibt sich eben immer aus dem Haushaltskontext. Wenn also eine auf den ersten Blick „bedürftige“ Person aufgrund einer zu niedrigen Rente mit einer anderen Person in einem gemeinsamen Haushalt zusammenlebt  dann würde keine Bedürftigkeit vorliegen, da der Haushalt – wie im SGB II auch – als Bedarfsgemeinschaft betrachtet und bewertet wird.

Das wäre übrigens auch in anderen Alternativentwürfen aus den Reihen der Opposition der Fall, man denke hier nur an die Forderung der Linken, „eine steuerfinanzierte, einkommens- und vermögensgeprüfte Solidarische Mindestrente“ einzuführen (vgl. dazu bereits das rentenpolitische Papier Eine Rente zum Leben vom 10.09.2012).

Die entscheidende Frage ist also die nach dem Individualisierungsgrad der Garantie-, Mindest- oder wie sie immer auch heißen soll.

Hier bewegen wir uns im Zentrum eines grundsätzlichen und nicht aufhebbaren Unterschieds zwischen den Sozialversicherungen und einem bedürftigkeitsabhängigen Transferleitungssystems. Denn die Zahlungen in einer klassischen Sozialversicherung sind in Reimform individualisiert, da sie personenbezogene, mit einem grundsätzlichen Rechtsanspruch versehene Versicherungsleistungen darstellen. Anders formuliert: Die Rente in Höhe von x Euro bekommt die Person A auch dann, wenn sie mit Person B, die beispielsweise über eine ordentliche Beamtenpension verfügt, zusammenlebt. Bei einer bedürftigkeitsabhängigen Transferleistung wäre das nicht der Fall, denn die ist nicht nur Einkommens-, sondern auch vermögensabhängig und das bezogen auf den Haushaltskontext.
Dazu findet sich in dem zitierten Abschlussbericht der Grünen Rentenkommission (noch) nichts.

Die besprochene Garantierente, soweit man deren Umrisse einordnen kann, stehen aber nicht singulär im politischen Raum herum, sondern sie ist eingebettet in ein „grünes Rentenkonzept“, das noch andere Bausteine enthält und dann natürlich auch in dem größeren Zusammenhang bewertet werden muss. So kann man dem Abschlussbericht der Grünen Rentenkommission folgende Punkte entnehmen (vgl. dazu die Zusammenfassung Grüne Rente mit Zukunft):

»Das Rentenniveau muss stabilisiert werden, so dass … Durchschnittsverdiener mit 45 Beitragsjahren auch über das Jahr 2025 hinaus mindestens eine Rente erhalten, die 50% oberhalb der Grundsicherung liegt.« Hier wird also der von der damaligen rot-grünen Bundesregierung 2001 verabschiedete Sinkflug des Rentenniveaus angesprochen.
Auch der „alte“ Gedanke einer „Bürgerversicherung“ ist nicht verloren gegangen: »Wir wollen die Rentenversicherung mittelfristig zu einer Bürgerversicherung umbauen, in die alle Bürgerinnen und Bürger einzahlen, d.h. auch Beamte, Freiberuflerinnen und Freiberufler, Selbstständige und Abgeordnete. Das stabilisiert unsere Rentenversicherung und schützt vor Altersarmut. Als erster Schritt sollen alle nicht anderweitig abgesicherten Selbstständigen in die bestehende Rentenversicherung einbezogen werden.«
Die ebenfalls von Rot-Grün implementierte Riester-Rente wird mittlerweile als Fehlentwicklung identifiziert und anstehende Veränderungen werden mit der im derzeit schwarz-grün regierten Hessen entwickelten „Deutschland-Rente“ (vgl. dazu den Blog-Beitrag Riester in Rente und endlich eine „faire private Altersvorsorge“? Die „Deutschland-Rente“ schafft es immerhin schon in den Bundestag vom 29. Januar 2016) verknüpft: »Wir wollen die Riester-Rente grundlegend reformieren und ein neues Basisprodukt einführen, das einfach, kostengünstig und sicher ist.«

Und auch die Geschlechterfrage wird angesprochen: »Um eine gleichberechtigte Rente für Frauen und Männer zu fördern, wollen wir außerdem ein obligatorisches Rentensplitting einführen: Paare sollen ihre gesetzlichen Rentenansprüche zukünftig mitenander teilen, unabhängig davon, wer wie viel gearbeitet hat.« Und das schrittweise auf 67 ansteigende Renteneintrittsalter wird nicht grundsätzlich zur Disposition gestellt, sondern:  Das Renteneintrittsalter sollte … keine starre Grenze mehr darstellen. Altersteilzeit soll bereits ab dem 60. Lebensjahr möglich sein. Da man damit aber auf einen Teil seines Gehalts verzichtet, sollten gleichzeitig die Hinzuverdienstregelungen vereinfacht werden.« Das ist passungsfähig zur derzeitigen Diskussion über eine „Flexi-Rente“.

Natürlich kann man die Hypothese aufstellen, dass solche Skizzierungen von Grundlinien der rentenpolitischen Gestaltung nicht im luftleeren Raum stattfinden, sondern immer auch eingebettet sind in die Frage, ob und mit wem man diese Vorstellungen oder einen Teil davon in einem möglichen Regierungsbündnis umsetzen kann. Und bei den Grünen, vor allem aber in der medialen Diskussion über sie taucht immer wieder die These auf, dass im kommenden Jahr ein schwarz-grünes Regierungsbündnis auf Bundesebene eine Option sein könnte.

Vor einem solchen Hintergrund ist es natürlich interessant, wenn parallel zu den rentenpolitischen Vorschlägen der Grünen auch aus der Union entsprechende Vorschläge in die Öffentlichkeit getragen werden – bzw. sagen wir es genauer: aus einem Teil der Union, konkret vom Arbeitnehmerflügel der CDU.

Thomas Öchsner hat darüber in der Süddeutschen Zeitung berichtet: CDU-Fachleute legen ein Konzept gegen Altersarmut vor.  Konkret handelt es sich um Vorschläge von Peter Weiß, Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Rentenpolitik, und Eva Welskop-Deffaa, Chefin der Arbeitsgruppe Rente in der CDU. Die haben das unter der Überschrift Die Rente 4.0 – Das Konzept der dynamischen Rente für die Arbeitswelt der Zukunft am 5. Juni 2016 veröffentlicht.
Auch bei den beiden Unionsvertretern geht es um das sinkende Rentenniveau, fasst Öchsner zusammen:

»Die CDU-Rentenexperten fordern …, dass der Staat ein Mindestrentenniveau bis 2070 garantieren soll. Dieses sollte aber höher sein als die gesetzlich angepeilten 43 Prozent. Sonst müssten künftig auch viele langjährig Versicherte als Rentner zum Sozialamt und die staatliche Grundsicherung im Alter beantragen … Das Rentenrecht verstoße „perspektivisch gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Eine Pflichtversicherung ist nur vertretbar, wenn ein ausreichender Mehrwert/Abstand der Standardrente im Vergleich zur vorleistungsfreien Grundsicherung gesichert ist“.«

Natürlich stellt sich sogleich die Finanzierungsfrage. Die beiden Rentenexperten schlagen eine drittelparitätische Finanzierung vor: Künftig sollen Staat, Arbeitgeber und Arbeitnehmer je ein Drittel der Beiträge finanzieren.

»Bei dieser „Drittelparität“ zahlen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Bund jeweils einen gleich hohen Beitrag. Zugleich schlagen Weiß und Welskop-Deffaa eine zweite Beitragsbemessungsgrenze vor. Diese soll bei 50 Prozent über der Regelgrenze (derzeit 6200 Euro im Westen) liegen, das wären etwa 9000 Euro im Monat. Die Beiträge oberhalb der normalen Beitragsgrenze werden aber nicht staatlich ko-finanziert. Gleichzeitig sollen in die Rentenkasse künftig auch Selbständige einzahlen, „sofern sie nicht in einem berufsständischen Versorgungswerk abgesichert sind“.«

Eingedenk der Ausführungen über das grüne Rentenkonzept gibt es an einer weiteren Stelle Anknüpfungspunkte – dem Splittingmodell:

»In der Regel werden bei Scheidungen die in der Ehe erworbenen Rentenansprüche geteilt. Die CDU-Experten sprechen sich nun dafür aus, mit Beginn der Ehe die Rentenansprüche gleich zu splitten – jeder sieht so, woran sie oder er ist. Zugleich soll es die Chance geben, die Beiträge freiwillig aufzustocken, um für eine Scheidung besser abgesichert zu sein. Die, sagt Welkskop-Deffaa, „ist eines der größten Risiken für Altersarmut“.«

In der Großen Koalition versucht man derzeit, die dort ausgebrochene rentenpolitische Unruhe wieder etwas einzufangen. So wird im neuen SPIEGEL (Heft 24/2016) unter der Überschrift „Aus drei mach zwei“ berichtet:

»Horst See­ho­fer macht ei­nen Rück­zie­her: Die CSU wird im Herbst kein ei­ge­nes Rentenkon­zept prä­sen­tie­ren, son­dern mit der CDU ei­nen ge­mein­sa­men Re­form­vor­schlag vor­le­gen. Das Ni­veau der ge­setz­li­chen Ren­te soll da­bei, an­ders als von See­ho­fer vorgeschla­gen, nicht auf dem heu­ti­gen Ni­veau ein­ge­fro­ren wer­den, heißt es in der Uni­on. Man wol­le sich bei ei­nem so wich­ti­gen The­ma wie der Ren­te nicht schon wie­der un­ei­nig zei­gen. Das Kon­zept soll von der baye­ri­schen So­zi­al­mi­nis­te­rin Emi­lia Mül­ler, CDU-Präsi­di­ums­mit­glied Jens Spahn und dem Staats­se­kre­tär im Ge­sund­heits­mi­nis­te­ri­um, Karl-Josef Lau­mann, er­ar­bei­tet wer­den.

Bun­des­so­zi­al­mi­nis­te­rin An­drea Nah­les setzt bei ih­ren Vor­ar­bei­ten für die ge­plan­te Renten­re­form auf ex­ter­nen Sach­ver­stand. Be­vor sie ein Ge­samt­kon­zept vor­legt, will sie sich mit Wis­sen­schaft­lern, So­zi­al­ex­per­ten und Ver­bän­den in ei­nem „Dia­log zur Alterssiche­rung“ be­ra­ten, wie es im Ein­la­dungs­schrei­ben der SPD-Po­li­ti­ke­rin heißt. Die ers­te Sit­zung der 18 Ex­per­ten soll am 8. Juli im Mi­nis­te­ri­um statt­fin­den, The­ma wird die zu­sätz­li­che Al­ters­vor­sor­ge sein. Aus der Ein­la­dung geht auch her­vor, dass mit ei­nem Reform­kon­zept nicht vor Ende Ok­to­ber zu rech­nen ist. Nah­les hat be­reits an­ge­kün­digt, dass sie nicht al­lein auf das ge­setz­li­che Si­che­rungs­ni­veau ab­stel­len, son­dern vor al­lem die Be­triebs- und Ries­ter­ren­te re­for­mie­ren will.«

Eines ist sicher – die rentenpolitische Diskussion hat Fahrt aufgenommen und wir werden in den vor uns liegenden Monaten mit so einigen weiteren Vorschlägen konfrontiert werden, die angesichts der näher rückenden Bundestagswahlen immer auch von eher oder gar primär parteipolitisch motivierten Verunreinigungen durchsetzt sein werden.