Der gesetzliche Mindestlohn wird in die Mangel genommen – jetzt gibt es sogar angeblich eine „Ohrfeige“ für die Bundesregierung. Zur Kritik des „Normenkontrollrats“ an dem Gesetzentwurf zum Mindestlohn

Er war schon immer ein Aufregerthema und heftig umstritten, nun aber wird es – zumindest semantisch – richtig gewalttätig rund um den geplanten gesetzlichen Mindestlohn: „Eine Ohrfeige für die Bundesregierung„, so ist ein Artikel in der FAZ überschrieben. Es wird darüber berichtet, dass der beim Bundeskanzleramt angesiedelte Normenkontrollrat – ein zehnköpfiges Expertengremium, das 2006 von der damaligen großen Koalition eingesetzt wurde, um „für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“ zu sorgen – den Gesetzentwurf zum Mindestlohn geprüft hat. Das Urteil des Gremiums fällt angeblich vernichtend aus: Die Kosten und Folgen seien mangelhaft kalkuliert. Um welche Kritikpunkte geht es genau und wie sind diese zu bewerten?

Es sind vor allem drei Kritikpunkte, die seitens des Normenkontrollrats vorgetragen werden, folgt man der Berichterstattung von Dietrich Creutzburg und Heike Göbel:

1.) Der Gesetzentwurf der Bundesregierung geht nur auf Bürokratiekosten im engen Sinne ein, die „für die Wirtschaft nur in geringem Maße“ anfallen würde. Der Normenkontrollrat weist darauf hin, dass der geplante Mindestlohn von 8,50 Euro je Stunde die Unternehmen nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in der Anfangsphase mit etwa 16 Milliarden Euro belasten dürfte.

2.) Das Gremium kritisiert außerdem die unvollständige bzw. schlichtweg fehlende Kalkulation und Offenlegung der mit der Einführung des Mindestlohns anfallenden Kontrollkosten. Der Normenkontrollrat moniert, »dass die Regierung den Verwaltungsaufwand durch die geplanten Mindestlohn-Kontrollen nicht beziffert habe, sondern nur allgemein auf „höhere Personal- und Sachkosten“ bei der Zollverwaltung hinweist. Das zuständige Ressort – das Finanzministerium – sei aber verpflichtet, den damit einhergehenden Erfüllungsaufwand darzustellen.«

3.) Schlussendlich bemängelt der Rat eine „unvollständige“ Darstellung möglicher Alternativen zum vorliegenden Mindestlohngesetz. »So hätte die Bundesregierung zumindest erläutern müssen, warum das Anfangsniveau des Mindestlohns mit 8,50 Euro zum 1. Januar 2015 gesetzlich festgelegt werden solle.« Der Rat vermisst den Hinweis auf die aus ihrer Sicht „relevante Alternative“, einen (zunächst geringeren) Mindestlohn auf Vorschlag einer unabhängigen Kommission festzulegen.

Zur Bewertung der drei Kritikpunkte:

Hinsichtlich der im Punkt 3.) genannten darzustellenden „relevanten Alternative“: Das ist grundsätzlich richtig ist und praktisch selbst von einigen Mindestlohnbefürwortern im Vorfeld der Debatte, die nun zu dem vorliegenden Gesetzentwurf geführt hat, ausdrücklich gefordert worden – vor allem von denjenigen, die der Bundesregierung ein Vorgehen nach dem Modell der in Großbritannien agierenden „Low Pay Commission“ empfohlen haben. Allerdings erscheint doch die Art und Weise der Präsentation dieser Alternative seitens des Normenkontrollrats selbst mehr als einseitig, denn offensichtlich kann sich der Rat nur einen „zunächst geringeren“ Mindestlohn vorstellen – was jetzt irgendwie halbiert rüberkommt, denn möglicherweise wäre eine unabhängige Kommission ja auch zu einem anderen Ergebnis gekommen, was das Anfangsniveau angeht.

Zu 1.) lässt sich sagen, dass – wenn die Berichterstattung über die bislang öffentlich nicht zugängliche, aber der FAZ vorliegenden sechsseitigen Stellungnahme des Normenkontrollrats zum Mindestlohn-Gesetzentwurf die Position des Gremiums richtig wiedergibt – hier unterschiedliche Kosten vermengt werden. Zum einen ist von „Bürokratiekosten“ die Rede, die man – soweit vorhanden – auch für die Wirtschaft ausweisen müsste, zum anderen aber werden DIW-Zahlen zitiert, nach denen der Mindestlohn die Unternehmen »in der Anfangsphase mit etwa 16 Milliarden Euro belasten dürfte«. Das nun sind aber die Kosten durch die Lohnerhöhung, die da kalkuliert werden und auch nur – ohne das hier vertiefen zu wollen – die Bruttokosten, denen u.a. an anderer Stelle entsprechende Einsparungen gegenüberstehen können (vgl. hierzu den Blog-Beitrag „Immer diese Studien. Eine sagt angeblich, der Mindestlohn verfehlt sein Ziel. Wirklich?„).

Relevant sind die Hinweise beim Punkt 2.), denn hier wird tatsächlich eine offensichtliche Leerstelle im bislang vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung adressiert – die unvollständige bzw. schlichtweg fehlende Kalkulation und Offenlegung der mit der Einführung des Mindestlohns anfallenden Kontrollkosten. Dies muss auch vor dem Hintergrund einer bereits seit längerem vorgetragenen Kritik an der fehlenden Konkretisierung des zusätzlich erforderlichen Personalbedarfs für die Kontrolle des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns gesehen und bewertet werden. Vgl. hierzu stellvertretend den Anfang April veröffentlichten Artikel „Opposition fordert mehr Fahnder“ von Karl Doemens: Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim Zoll soll die Einhaltung des gesetzlichen Mindestlohns überprüfen. Doch dort sind schon gegenwärtig bis zu 500 der 6.700 Planstellen nicht besetzt. Also eine bestehende Unterbesetzung für die gegebenen Aufgaben, die nun ja noch angereichert werden um ein richtig großes Paragrafenwerk. Da ist es schon mehr als vorsätzlich, wenn man zu dem damit verbundenen Mehrbedarf an Personal im Gesetzentwurf außer heißer Luft – es wird einen „höheren Bedarf“ geben – nichts genaueres finden kann.
In dem Artikel von Doemens wird auch das mögliche Spektrum des mit der Mindestlohn-Kontrolle verbundenen personellen Mehrbedarfs skizziert:

»Die Deutsche Zoll- und Finanzgewerkschaft hatte 2.000 bis 2.500 weitere Stellen gefordert. Die IG Bau hält 3.500 zusätzliche Kontrolleure für nötig. Linken-Parteichefin Katja Kipping fordert gar 5.000 neue Stellen.«

Dazu kommen dann natürlich noch Sachkosten usw. Das muss man schon a) überhaupt und b) genauer ausweisen. An dieser Stelle ist der Kritik des Normenkontrollrats uneingeschränkt zuzustimmen.

Immer diese Studien. Eine sagt angeblich, der Mindestlohn verfehlt sein Ziel. Wirklich?

Das tut manchem sicher gut, eine solche Überschrift frei Haus geliefert zu bekommen: „Der Mindestlohn verfehlt sein Ziel„, so Sven Astheimer. Da muss man natürlich zuerst einmal klären, was denn bitte schön das Ziel des Mindestlohns ist. Dazu erfahren wir: »Manche Menschen arbeiten und müssen trotzdem mit Hartz IV aufstocken. Dagegen sollte der Mindestlohn helfen. Ausgerechnet Forscher der Bundesagentur für Arbeit sagen jetzt: Das funktioniert nicht.« Astheimer bezieht sich hier auf die Studie „Die meisten Aufstocker bleiben trotz Mindestlohn bedürftig“ von Kerstin Bruckmeier und Jürgen Wiemers vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Die Forscher des IAB haben berechnet, »dass lediglich zwischen 43.000 und 64.000 berufstätige Hartz-IV-Bezieher durch die staatliche verordnete Lohnerhöhung den Sprung aus der Grundsicherung schaffen können. Das sind nicht einmal 5 Prozent aller rund 1,3 Millionen „Aufstocker“, die neben einem Arbeitseinkommen auch noch auf Arbeitslosengeld II (Hartz IV) angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.« Das kommt doch mehr als ernüchternd rüber. Haben nicht wichtige Apologeten eines gesetzlichen Mindestlohns immer wieder versprochen, dass mit diesem Instrumentarium der anzustrebende Zustand (wieder)hergestellt werden kann, dass man von seiner Hände Arbeit auch leben können muss, ohne auf aufstockende Leistungen aus dem Grundsicherungssystem angewiesen zu sein? Und dann das?

Schauen wir also genauer hin, was uns die Wissenschaftler da präsentieren. Dass die Bilanz des vor der Einführung stehenden Mindestlohnes hinsichtlich der Erwartung, damit die Transferabhängigkeit im Grundsicherungssystems deutlich reduzieren zu können, so schlecht ausfällt, überrascht nicht wirklich vor dem Hintergrund der Zusammensetzung der Gruppe der „Aufstocker“. Denn hier wirken zwei grundlegende Faktoren, die auch bei einem höheren Mindestlohn als den nunmehr vorgesehenen 8,50 Euro pro Stunde eine weiter fortbestehende Abhängigkeit von aufstockenden Leistungen aus dem Hartz IV-System bedingen würden: Zum einen eine nur teilzeitige Beschäftigung, häufig im Gehäuse der „Minijobs“ und zum anderen eine über das Einkommen mitzuversorgende Zahl von Haushaltsmitgliedern, die ein hohes Einkommen notwendig machen.
In den Worten von Bruckmeier und Wiemers:

»77 Prozent der abhängig beschäftigten Leistungsbezieher arbeiten weniger als 32 Stunden in der Woche, 60 Prozent weniger als 22 Stunden und ein Drittel weniger als 11 Stunden … Weitere Ursachen für Einkommen, die zur Existenzsicherung nicht reichen, sind niedrige Stundenlöhne und die Haushaltsgröße bei häufig nur einem Erwerbstätigen im Haushalt. Die durchschnittlichen Stundenlöhne von Aufstockern betragen etwa 6,20 Euro. Die niedrigsten Stundenlöhne von durchschnittlich unter 5 Euro erzielen Alleinstehende in Ostdeutschland. Aufstocker aus Paarhaushalten in Westdeutschland erreichen hingegen bereits jetzt zu über einem Fünftel Stundenlöhne von über 10 Euro. Hier reicht der Verdienst wegen der Haushaltsgröße nicht zur Existenzsicherung aller Haushaltsmitglieder.«

Auf der Basis einer Simulationsstudie kommen die Wissenschaftler mit Blick auf die Aufstocker zu dem Ergebnis, dass 57.000 bis 64.000 von ihnen nach Einführung des Mindestlohnes keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosengeld II hätten. Ein Teil dieser Personen würde stattdessen Wohngeld und Kinderzuschlag erhalten.

Interessant ist aber ein weiterer Befund, den uns Bruckmeier und Wiemers präsentieren. In ihrer Zusammenfassung schreiben sie:

»Unter der Annahme, dass kurzfristig Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage konstant bleiben, senkt der Mindestlohn die Ausgaben für Arbeitslosengeld II um jährlich 700 Mio. bis 900 Mio. Euro. Mehrausgaben bei Wohngeld und Kinderzuschlag reduzieren die Einsparungen, sodass die Transferausgaben im Saldo um 500 Mio. bis 650 Mio. Euro zurückgehen. Insgesamt ergibt sich eine Entlastung der öffentlichen Haushalte zwischen knapp 2,2 Mrd. und gut 3 Mrd. Euro jährlich.«

Das sind doch ganz erhebliche Summen. Während die unmittelbare Entlastung von im Saldo 500 bis 650 Mio. Euro noch überschaubar daherkommt, kommen die Autoren zu einer Gesamtentlastung der öffentlichen Haushalte in Höhe von 2,2 bis 3 Mrd. Euro pro Jahr. Dies wird durch zusätzliche Steuer- und Sozialversicherungsbeitragseinnahmen generiert:

»Schätzungen zeigen, dass im Falle der Einführung des Mindestlohnes kurzfristig mit einem Anstieg der Einkommenssteuereinnahmen von 1,16 Mrd. Euro … bis knapp 1,67 Mrd. Euro … zu rechnen wäre … Die entsprechenden Mehreinnahmen in der Sozialversicherung betragen ca. 2,9 Mrd. bis 4,5 Mrd. Euro.«

Der niedrigere Wert der Gesamtentlastung ergibt sich annahmegemäß bei den Autoren dadurch, dass parallel die Steuerzahlungen der Unternehmen sinken aufgrund der höheren Aufwendungen, die sie haben.

Und hier sind wir bei einem entscheidenden Punkt angekommen. Auch wenn wir akzeptieren, dass sich die individuelle Situation der Betroffenen kaum verändert, kann der Mindestlohn das Ausmaß der individuellen Transferabhängigkeit bei Sozialleistungsbeziehern reduzieren und damit unauflösbar verbunden natürlich auch die Kostenkompensation, die der Staat im bisherigen System leistet zugunsten der Arbeitgeber, die niedrige oder niedrigste Löhne zahlen.

Ist das eine Zielverfehlung? Kommt immer darauf an, was man als Ziel definiert.

Wenn man in der Reduktion der aufstockenden Leistungen, die ja aus Steuermitteln finanziert werden müssen, einen Wert an sich sieht, weil die bislang im Bereich de Aufstocker ablaufende „Sozialisierung eigentlich betrieblich zu tragender Kosten“ als problematisch angesehen wird, dann sind die Zahlen des IAB durchaus keine Misserfolgsmeldung. Ganz im Gegenteil. Zugleich wäre das eine Maßnahme, ein Stück weit die gegebene Wettbewerbsverzerrung zugunsten der Unternehmen zu verringern, die ihre Leute ordentlich bezahlen, abzubauen.

An dieser Stelle kann man nur noch den Einwand vortragen, dass die auch vom IAB ausgewiesenen Entlastungseffekte dann nicht realisiert werden (können), wenn ein Teil der Beschäftigung aufgrund der Mindestlohneinführung und der damit verbundenen Erhöhung der Lohnkosten entlassen wird. Hierzu schreibt Sven Astheimer in seinem Artikel zutreffend:
»Einige Wissenschaftler haben Beschäftigungsrückgänge im sechsstelligen Bereich berechnet, andere erwarten kaum Änderungen.«

Wie „gewöhnliche“ Arbeitnehmer in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen? Von der Sonnenseite berufsständischer Versorgungswerke in das Schattenreich der „Staatsrente“? Aufruhr (nicht nur) bei den Anwälten

Rund 40.000 Anwälte sollen wie gewöhnliche Arbeitnehmer in die Rentenversicherung einzahlen. Was die einen als einen überfälligen Schritt bezeichnen, ist für die anderen eine Fehlentscheidung, die  Freiberufler in die „Staatsrente“ zwingt. Viele ahnen richtig – es geht mal wieder um die Entscheidung eines hohen Gerichts, in diesem Fall des Bundessozialgerichts. Wurde anfangs noch unter Überschriften wie „Wegfall des Versorgungswerks droht“ berichtet, steigert sich die Tonlage in Panikzonen: „Das Ende der Super-Renten„.

Christian Rolf und Jochen Riechwald fassen den Sachverhalt so zusammen: »Das Bundessozialgericht (BSG) hat entschieden, dass sich Syndikus-Anwälte trotz Zulassung als Rechtsanwalt nicht mehr von der gesetzlichen Rentenversicherung befreien lassen können, um sich in einem berufsständischem Versorgungswerk zu versichern. Durch die Entscheidung des BSG droht im schlimmsten Fall auch vielen anderen Angestellten der Wegfall des Versorgungswerks.« Diese Entscheidung des BSG hat es in sich – und sie betrifft konsequent weiter gedacht nicht nur den Teil der Anwälte, die ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis bei einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber haben.

Der 5. Senat des Bundessozialgerichts hat in drei Revisionsverfahren über die Frage entschieden, ob abhängig beschäftigte Rechtsanwälte (sog „Syndikusanwälte“) von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien sind. Das Ergebnis, was nun so einigen Aufruhr zur Folge hat: „Kein Befreiungsanspruch abhängig beschäftigter „Syndikusanwälte“ von der
Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung„. Die Deutsche Rentenversicherung hatte argumentiert, dass die Tätigkeit in einem Arbeitsverhältnis mit einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber generell keine befreiungsfähige Rechtsanwaltstätigkeit sei. Dem hat sich das BSG nun angeschlossen, denn »nach gefestigter verfassungsrechtlicher und berufsrechtlicher Rechtsprechung zum Tätigkeitsbild des Rechtsanwalts … wird derjenige, der als ständiger Rechtsberater in einem festen Dienst- oder Anstellungsverhältnis zu einem bestimmten Arbeitgeber steht (Syndikus), in dieser Eigenschaft nicht als Rechtsanwalt tätig … Unabhängiges Organ der Rechtspflege und damit Rechtsanwalt ist der Syndikus nur in seiner freiberuflichen, versicherungsfreien Tätigkeit außerhalb seines Dienstverhältnisses (sog Doppel- oder Zweiberufe-Theorie).«, so die Richter.

Das schafft jetzt einige Probleme, denn die bisherige Praxis war durchaus attraktiv:
»Bei Anwälten ist die Mitgliedschaft im Versorgungswerk durch die Zulassung als Rechtsanwalt bedingt. Das Versorgungswerk verspricht eine deutlich höhere Rente als die gesetzliche Rentenversicherung und ist daher attraktiv. Unternehmen können damit ihren Syndikus-Anwälten eine gute Altersversorgung anbieten, indem sie die Anwaltszulassung erlauben«, so Christian Rolf und Jochen Riechwald in ihrem Artikel über die Entscheidung des BSG.
Das Tätigkeitsbild eines Rechtsanwalts sei nach Auffassung des BSG mit einem Angestelltenverhältnis grundsätzlich unvereinbar. Das betrifft nicht wenige Juristen: Der Bundesverband der Unternehmensjuristen (BUJ) geht von rund 40.000 Syndikus-Anwälten in Deutschland aus.

Das ist schon keine geringe Zahl. Aber das Urteil kann auch für alle Unternehmensangestellten, die in einem Versorgungswerk versichert sind, gelten. Auch Steuerberater einer Bank oder Apotheker oder Ärzte im Pharmaunternehmen können von der Entscheidung betroffen sein – und darin liegt seine grundsätzliche Brisanz. Offen ist derzeit, ob das Urteil auch für angestellte Anwälte in Anwaltskanzleien oder Ärzte im Krankenhaus gilt.

„Wenn das Bundessozialgericht für Unternehmensjuristen zu Recht ein Befreiungsrecht zugunsten der berufsständischen Versorgung ablehnt, müssen diese Maßstäbe konsequenterweise auch bei anderen Angehörigen freier Berufe, zum Beispiel Ärzten, die als Arbeitnehmer in einem Unternehmen tätig sind, angelegt werden“. Mit diesen Worten wird Winfried Boecken, Professor für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Konstanz, zitiert.

Für diejenigen, die bereits von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit und Mitglied eines berufsständischen Versorgungswerks sind, hat die Entscheidung des BSG erst einmal keine unmittelbare Konsequenz. Das BSG sagt selbst, dass »die Inhaber einer begünstigenden Befreiungsentscheidung ein rechtlich geschütztes Vertrauen in den Fortbestand dieser Entscheidungen« haben. Wie so oft im Leben kommt dann das Aber:

»Allerdings ist nach diesem Urteil unklar, ob der Vertrauensschutz in eine bestehende Befreiung einen Arbeitgeberwechsel oder eine wesentliche Änderung der Tätigkeit überlebt. Denn eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht gilt, vereinfacht ausgedrückt, immer nur für eine bestimmte Tätigkeit bei einem bestimmten Unternehmen … Nach dem neuen Maßstab des BSG dürfte die Befreiung (nach einem Arbeitgeberwechsel) nicht mehr erteilt werden, was dem Angestellten praktisch eine goldene Fußfessel anlegt. Bei jedem Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber oder der Tätigkeit müsste er fürchten, in die Rentenversicherung mit geringeren Rentenzuwächsen zurückzukehren.«

Catrin Gesellensetter zitiert in ihrem Artikel Hartmut Kilger, Vorsitzender des Vorstandes der Arbeitsgemeinschaft berufsständischer Versorgungseinrichtungen (ABV), der einen Gang vor das Bundesverfassungsgericht angekündigt hat. Die Erfolgsaussichten einer solchen Klage werden von unabhängigen Beobachtern zurückhaltend eingeschätzt:

»„Dem ersten Eindruck nach ist das Urteil zumindest nicht unvertretbar falsch“, sagt Gregor Thüsing, Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn. „Ein Selbstläufer wird die Verfassungsbeschwerde nicht“, glaubt auch Richard Giesen, Professor für Arbeits- und Sozialrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München.«

Man kann es drehen und wenden wie man will: Die berufsständischen Versorgungswerke werden durch das Urteil künftig deutlich weniger Mitglieder haben. Aus den Besonderheiten dieses separierten Systems speisen sich auch die Widerstände gegen die Auffassung der Deutschen Rentenversicherung wie auch nunmehr des BSG (vgl. dazu beispielsweise die Seite „Syndikusanwälte  versus  Deutsche Rentenversicherung Bund„). Dazu Catrin Gesellensetter:

»Die ersten Versorgungswerke für die freien Berufe gab es in Deutschland vor mehr als 90 Jahren. Nach der Rentenreform von 1957 entstanden weitere solche Einrichtungen. Grund: Man hatte Angehörigen der freien Berufe die Möglichkeit einer freiwilligen Versicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung versagt. Inzwischen gibt es 89 Versorgungswerke mit mehr als 800.000 Mitgliedern.
Was zunächst wie eine Notlösung für jene erschien, die der Gesetzgeber bei der Rente nicht dabei haben wollte, wurde zum Erfolgsmodell. Anders als in der gesetzlichen Rentenversicherung arbeiten die Versorgungswerke nicht nach dem Umlage-, sondern nach dem Versicherungsverfahren. Die eingesammelten Beiträge werden also nicht, wie im staatlichen System, direkt für die Renten anderer Mitglieder verwandt, sondern im Wege des Kapitaldeckungsverfahrens angespart, verzinst und erst dann ausgezahlt, wenn der Versicherte Anspruch auf seine Rente hat.
Dabei gilt der Grundsatz: Wer viel einzahlt, bekommt viel, wer wenig einzahlt, wenig Rente. Die für die gesetzliche Rentenversicherung typischen Elemente des sozialen Ausgleichs gibt es in der berufsständischen Altersversorgung nicht. Auch steuerfinanzierte Zuschüsse sucht man vergebens.
Dennoch stehen Mitglieder der Versorgungswerke im Alter meist deutlich besser da als gesetzlich Versicherte. Das weckt Begehrlichkeiten und erklärt den Unmut all jener, die nun aus der Polster- in die Holzklasse wechseln sollen.«

Womit wir wieder einmal angekommen wären bei der sich immer dringlicher stellenden Grundsatzfrage nach einer Generalüberholung des zersplitterten Altersvorsorgesystems mit den zahlreichen Sondersystemen. Zeit für einen Neustart.

Ausprobieren, hängen bleiben und alles wird gut? Es gibt einen „Klebeeffekt“ der Leiharbeit – in der Leiharbeit. Sonst kaum.

Die Leiharbeit mal wieder. In der letzten Zeit ist es ruhiger geworden, die aktuellen Debatten haben sich verschoben auf die Problematik der Werkverträge. Schon allein vor diesem Hintergrund sind die Ergebnisse einer neuen IAB-Studie aus Hessen besonders interessant. In dieser Untersuchung hat man sich mit einem Argument auseinandergesetzt, das immer wieder von den Befürwortern der Leiharbeit als eines der Instrumente zur Arbeitsmarkt-Flexibiliserung vorgetragen wird: der so genannte „Klebeeffekt“.

Dahinter steht die Annahme, dass einige Leiharbeiter durch die Tätigkeit in einem entleihenden Unternehmen von diesem „entdeckt“ und übernommen werden, also im Entleihunternehmen „hängen bleiben“. Man kann sich diesen Effekt vorstellen als eine Art verlängerte Ausprobierzeit. Wenn es so wäre, dann kann man die Leiharbeit als „Sprungbrett“ in „normale“ Beschäftigung dar- und herausstellen. Diese hier skizzierte (angebliche) Funktionalität war eines der Hauptargumente der Befürworter der umfassenden Deregulierung der Leiharbeit im Kontext der Umsetzung der „Hartz-Reformen“.

Die noch unveröffentlichte Studie zur „Arbeitnehmerüberlassung in Hessen“, erstellt von Alfred Karloff, Timo Lepper und Carola Bunkert, über die in der Frankfurter Rundschau von Martin Brust unter dem Titel „Zeitarbeit ist kein Sprungbrett“ berichtet wird, kommt zu zwei interessanten Ergebnissen:

  • Leiharbeit ist kein Sprungbrett in reguläre Beschäftigung. In der Studie haben die IAB-Wissenschaftler die Berufsbiografien von Menschen verglichen, die sich arbeitslos gemeldet und im ersten Jahr nach ihrer Meldung bei einer Zeitarbeitsfirma angefangen haben oder eben nicht. In der Gruppe jener, die als Leiharbeiter anheuerten, „konnten wir keine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Aufnahme einer regulären Beschäftigung feststellen“, so wird einer der drei Verfasser zitiert.
  • Die Studie hat auch fest gestellt, »dass Personen jener Gruppe, die nach Eintritt ihrer Arbeitslosigkeit in die Zeitarbeit gegangen ist, in den folgenden fünf Jahren mit höherer Wahrscheinlichkeit einen Job haben als Personen aus der Vergleichsgruppe – allerdings nur im Bereich der Leiharbeit. „Wer in Leiharbeit eintritt, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, in der Leiharbeit zu bleiben“ … Wenn es einen Klebeeffekt gibt, dann also den von Leiharbeitern in der Leiharbeit.«

Wie ist man zu diesen Ergebnissen gekommen? Man hat Lebensläufe von Personen verglichen, die sich zwischen 2000 bis 2004 in Hessen arbeitslos gemeldet haben, und deren Entwicklung für maximal fünf Jahre verfolgt. »Aus rund 11.000 Personen haben sie rund 500 herausgefiltert, die innerhalb des ersten Jahres der Arbeitslosigkeit bei einem Verleiher angefangen haben. Für die Vergleichsgruppe haben sie für jede Person „statistische Zwillinge“ gesucht, also einen Datensatz, der dem ersten möglichst vollständig gleicht – aber eben ohne Job in der Zeitarbeit.«
Auch den naheliegenden Einwand, dass hier bei einem Vergleich der beiden Gruppen (mit und ohne Leiharbeit) Äpfel mit Birnen verglichen werden, thematisieren die Autoren der neuen Studie:

»Falls Personen mit problematischen Biografien überdurchschnittlich oft als Zeitarbeiter anfingen, dann würde dies die Ergebnisse verzerren. Allerdings hätten sie diese Möglichkeit geprüft und er halte die Wahrscheinlichkeit für eine Verfälschung für sehr niedrig.«

Bei aller Kritik und Aufregung an und über die Leiharbeit muss man aber einerseits auch sehen, dass es sich bei der Leiharbeit insgesamt, also aus Sicht des gesamten Beschäftigungssystem gesehen, um eine überschaubare Größenordnung handelt, andererseits ist die Bedeutung der Leiharbeit für einzelne Branchen und Betriebe – vor allem für die Bundesagentur für Arbeit sowie die Jobcenter selbst – sehr groß:

»Im März dieses Jahres waren laut Arbeitsagentur Hessen etwa 2,5 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Hessen im Bereich Zeitarbeit angestellt. Zugleich kamen knapp 27 Prozent der gemeldeten freien Stellen aus dem Zeitarbeitssektor.«

Hier ist eine durchaus diskussionsbedürftige Amalgamisierung der – institutionenegoistisch verständlichen – Anreize bei den Anbietern der Leistungen  festzustellen: Die Arbeitsagenturen und die Jobcenter profitieren einerseits angesichts der vielen Stellenangebote von den Leiharbeitsfirmen, auch und gerade vor dem Hintergrund, dass sie aus anderen Branchen kaum oder nur sehr wenige Stellenangebote bekommen. Und jede „Übergabe“ in Erwerbsarbeit ist eine Integration. Wenn man daran gemessen wird, macht es „Sinn“, mit der Leiharbeit zu kooperieren, denn hier stehen Aufwand und Ertrag in einem sehr günstigen Verhältnis, man kann das also durchaus entsprechend pushen.
Auf der Seite gibt es einen weiteren wichtigen Vorteil, diesmal für die Leiharbeitsunternehmen: Durch die vielen Stellenangebote, die oftmals auch quantitativ aufgeblasen werden,  kommt man kostengünstig, soll heißen: umsonst, an die Stellenprofile von Arbeitsuchenden, die dann besonders wertvoll sind, wenn man wieder neuen und unvorhersehbaren Arbeitskräftebedarf hat.

So kommt das eine zum anderen. Aber nach dieser neuen Studie sollte man auf keinen Fall unwidersprochen behaupten, das dass alles nur zum Wohl der Arbeitslosen passiert.

Ein Urteil mit weitreichenden Folgen für eine alternde Arbeitswelt. Zugleich ein Lehrstück für das Spannungsdreieck von Einzelfallgerechtigkeit, Fürsorgepflicht des Arbeitgebers und betriebliche Überforderung

Die Arbeitswelt in Deutschland wird – man kann es drehen und wenden wie man will – immer stärker von älteren Belegschaften gekennzeichnet sein. Liegt derzeit das Durchschnittsalter der Beschäftigten in vielen Unternehmen zwischen 45 und 50 Jahre, wird sich das in wenigen Jahren auf 55 Jahre und älter verschoben haben. Die Baby Boomer-Generation, dessen geburtenstärkster Jahrgang 1964 dieses Jahr die 50 vollendet, prägt quantitativ das Gesicht vieler Betriebe. Diese Entwicklung stellt vielfältige Anforderungen an die Unternehmen, der „Boom“ des betrieblichen Gesundheitsmanagements zumindest auf der Ebene seiner Thematisierung in den vergangenen Jahren ist ein Beispiel für die Suche nach Antworten, wie man mit den Herausforderungen umgehen kann.
Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es abweichend von der Normalitätsannahme einer Erwerbsarbeit, die am Tag zur jeweils gleichen Zeit von Montag bis Freitag verrichtet wird, zahlreiche Abweichungen hinsichtlich Länge und Verteilung der Arbeitszeit gibt. Man denke an die mit der Ausdehnung der Ladenöffnungszeiten im Einzelhandel verbundene Zunahme der Arbeit in den Abendstunden, an die Wochenendarbeit oder auch an die unregelmäßige Arbeit auf Abruf, um nur einige Beispiele zu nennen. Eine ganz besondere Bedeutung hat immer noch, in Teilbereichen sogar zunehmend, die immer wieder als besonders belastend herausgestellte Schichtarbeit. Und deren Organisation wird durch eine neue Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts massiv herausgefordert werden.

Und dieses Urteil des höchsten Arbeitsgerichts in Deutschland (10 AZR 637/13 ) hat es wahrlich in sich. Schon der erste Satz kommt wie in Stein gemeißelt daher und wird zahlreiche Folgefragen aufwerfen, die über den Einzelfall, der zur Entscheidung anstand, hinausreichen werden:

»Kann eine Krankenschwester aus gesundheitlichen Gründen keine Nachtschichten im Krankenhaus mehr leisten, ist sie deshalb nicht arbeitsunfähig krank. Sie hat Anspruch auf Beschäftigung, ohne für Nachtschichten eingeteilt zu werden« (Bundesarbeitsgericht: Pressemitteilung Nr. 16/14).

Zum konkreten Sachverhalt erfahren wir: »Die Beklagte betreibt ein Krankenhaus der sog. Vollversorgung mit etwa 2.000 Mitarbeitern. Die Klägerin ist bei der Beklagten seit 1983 als Krankenschwester im Schichtdienst tätig. Arbeitsvertraglich ist sie im Rahmen begründeter betrieblicher Notwendigkeiten zur Leistung von Sonntags-, Feiertags-, Nacht-, Wechselschicht- und Schichtarbeit verpflichtet. Nach einer Betriebsvereinbarung ist eine gleichmäßige Planung ua. in Bezug auf die Schichtfolgen der Beschäftigten anzustreben. Das Pflegepersonal bei der Beklagten arbeitet im Schichtdienst mit Nachtschichten von 21.45 Uhr bis 6.15 Uhr. Die Klägerin ist aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage, Nachtdienste zu leisten, weil sie medikamentös behandelt wird.«

Der Pflegedirektor hatte sie nach einer betriebsärztlichen Untersuchung nach Hause geschickt, weil sie wegen ihrer Nachtdienstuntauglichkeit arbeitsunfähig krank sei. Die Klägerin bot demgegenüber ihre Arbeitsleistung – mit Ausnahme von Nachtdiensten – ausdrücklich an.

Der 10. Senat des Bundesarbeitsgerichts hat die Wertung als Arbeitsunfähigkeit verworfen:

»Die Klägerin ist weder arbeitsunfähig krank noch ist ihr die Arbeitsleistung unmöglich geworden. Sie kann alle vertraglich geschuldeten Tätigkeiten einer Krankenschwester ausführen. Die Beklagte muss bei der Schichteinteilung auf das gesundheitliche Defizit der Klägerin Rücksicht nehmen.«

Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) hat seine Stellungnahme zu der Entscheidung überschrieben mit „Arbeitgeber haben eine Fürsorgepflicht!„. Der DBfK begrüßt die Entscheidung des BAG. „Das Urteil nimmt … pflegerische Einrichtungen in die Pflicht. Die Arbeitgeber haben eine Fürsorgeverpflichtung ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenüber, die leider in den vergangenen Jahren allzu häufig ökonomischen Interessen untergeordnet wurde. Dem schiebt das Bundesarbeitsgericht nun einen Riegel vor und betont, dass dem Arbeitgeber Rücksichtnahme auf gesundheitliche Einschränkungen von Beschäftigten durchaus zuzumuten sei“. Mit diesen Worten wird Johanna Knüppel vom DBfK zitiert. Und weiter: „Nachtdienste sind aus vielen Gründen belastend. Die unzureichende Personalbemessung der letzten Jahre hat das noch verstärkt und bei vielen Pflegefachpersonen zu berufsbedingten gesundheitlichen Einschränkungen geführt. Nicht umsonst empfehlen Arbeitsmediziner seit Jahren, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Alter von 50+ bzw. nach vielen Jahren Schichtdienst möglichst keinen Nachtdienst mehr leisten zu lassen. Bei einem guten Generationen-Mix und bedarfsgerechter Anzahl und Qualifikation des vorgehaltenen Personals wäre das auch umsetzbar …“.
Aber ist es wirklich so einfach?

Wir werden hier konfrontiert mit einer Entscheidung, der der richterlichen Logik einer Würdigung des Einzelfalls folgt und damit sicher seine Berechtigung hat, gerade für die Betroffene. Aber ein Krankenhaus ist ein Unternehmen mit vielen Beschäftigten und man muss sich auch mal die andere Seite mit ihren Problemen anschauen: Die Pflegekräfte bilden ein Kollektiv, aus dem heraus die Schichten abgedeckt werden müssen. Wenn man nun konfrontiert wird mit immer mehr Mitarbeitern, die ärztlich attestiert bekommen, dass sie zwar tagsüber, nicht aber nachts arbeiten können, dann schrumpft logischerweise die Grundgesamtheit an Pflegekräften, aus der heraus die Nachtschichten zu leisten sind. Wenn man gleichzeitig eine alternde Belegschaft hat, bei der es aufgrund der Alterskorrelation bestimmter Erkrankungen häufiger zu Schichtbefreiuungstatbeständen kommt, dann kann man sich vorstellen, unter welchen Druck die Belegschaft gesetzt wird, in diesem Fall die jüngeren Kräfte, die dann immer mehr Ausfälle kompensieren sollen/müssen. Gleichzeitig aber kann und soll sich der Arbeitgeber ja auch nicht von den älteren Beschäftigten trennen – eine wirklich schwierige Personalsteuerungsproblematik zeichnet sich hier ab.

Wenn der DBfK – für sich genommen sicher auch nachvollziehbar – fordert, dass »… Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Alter von 50+ bzw. nach vielen Jahren Schichtdienst möglichst keinen Nachtdienst mehr leisten zu lassen«, dann muss man sich die Konsequenzen einer solchen Forderung verdeutlichen, wenn man a) die älteren Beschäftigten nicht entlassen will/darf und b) gleichzeitig das Leistungsangebot rund um die Uhr sicherstellen muss. Eigentlich bräuchte man dann eine erhebliche Überdeckung an Personal (und das muss dann aus jüngeren Jahrgängen kommen), um Ausfälle kompensieren zu können.

Dieses Urteil wird weitreichende Folgen haben, denn die Wechselschichtarbeit ist in der Arbeitswelt verbreitet und die Entscheidung lässt sich auch auf andere Branchen und Unternehmen übertragen. Damit werden viele Betriebe aus der Industrie und den Dienstleistungen die Folgen dieser Entscheidungen zu spüren bekommen. Das Bundesarbeitsgericht bestätigt diese Einordnung, so der Hinweis in einem FAZ-Artikel: »Das Urteil hat nach Angaben einer Sprecherin des Bundesarbeitsgerichts eine „wegweisende Wirkung“ für alle Schichtarbeiter und ist nicht allein auf die Krankenpflege beschränkt.«

»Im Jahr 2011 arbeiteten 58 Prozent aller Erwerbstätigen mindestens gelegentlich in Abend- oder Nachtarbeit, in Wechselschicht oder auch zu sogenannten atypischen Arbeitszeiten, also samstags, sonntags oder feiertags. Die zweithäufigste Form der Schichtarbeit nach der Abendarbeit ist die Wechselschicht, der sich 14 Prozent der Erwerbstätigen zuordnen lassen«, so Carina Leser, Anita Tisch und Silke Tophoven: Schichtarbeit und Gesundheit. Beschäftigte an der Schwelle zum höheren Erwerbsalter (= IAB-Kurzbericht 21/2013).

Die meisten Beschäftigten in Wechselschicht arbeiten nach wie vor im produzierenden Gewerbe, beispielsweise in der Automobil- oder Elektroindustrie. Für die Bereiche „Öffentliche und private Dienstleistungen” sowie im „Handel und Gastgewerbe” wird eine Zunahme der Wechselschichtbeschäftigung festgestellt.

»Mit der Tertiarisierung der Schichtarbeit, also der Verschiebung hin zum Dienstleistungssektor, ist ein allmählicher Anstieg des Frauenanteils in Schichtarbeit verbunden. Hierfür dürften betriebliche Trends zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten und eine Ausdehnung der Betriebsnutzungszeiten wie die längeren Ladenöffnungszeiten ebenso verantwortlich sein wie Änderungen in der Regulierung von Arbeit, etwa die Abschaffung des Nachtarbeitsverbotes für Frauen im Jahr 1992« (Leser/Tisch/Tophoven 2013: 2).

Quelle: Leser/Tisch/Tohoven (2013: 2)

In Kontext der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts interessant ist der Blick die Gruppe der Beschäftigten im Alter zwischen 50 bis 64 Jahre. Die Daten zeigen, dass 13 Prozent von ihnen ständig oder regelmäßig in Wechselschicht arbeiten.

Seit 1998 hat sich die Zahl der 50- bis unter 65-Jährigen in Wechselschicht mehr als verdoppelt, und zwar von 594.000 auf 1,29 Millionen, so die IAB-Studie.

Man kann es drehen und wenden wie man will – die aus Sicht des einzelnen Arbeitnehmers durchaus völlig nachvollziehbare Entscheidung, aus einem Teil des Wechselschichtsystems oder gar vollständig daraus befreit zu werden, wird in vielen Betrieben, deren gesamte Arbeitsorganisation auf dem Wechselschichtsystem basiert, zu erheblichen Personalplanungsproblemen führen, aber auch möglicherweise massive innerbetriebliche Spannungen zwischen den Beschäftigtengruppen auslösen.