Seit dem Jahr 2006 wird alle zwei Jahre der Bericht „Bildung in Deutschland“ vorgelegt – eine umfangreiche empirische Auseinandersetzung mit allen Stufen unseres Bildungssystems. Gefördert gemeinsam vom Bundesbildungsministerium (BMBF) und der Kultusministerkonferenz (KMK) versuchen sich hier zahlreiche Bildungswissenschaftler an einer Durchleuchtung des überaus heterogenen Bildungswesens in unserem Land. Und immer gibt es ein Schwerpunktthema, in dem neuen Bericht „Bildung in Deutschland 2014“ sind das „Menschen mit Behinderungen im Bildungssystem“.
Es kann immer wieder sehr aufschlussreich sein, allein die Überschriften der Berichterstattung über so ein voluminöses Werk anzuschauen, verdeutlichen diese doch die natürlich gezwungenermaßen hoch selektive Wahrnehmung der vielen Befunde, die hier von den Wissenschaftlern präsentiert werden: Migranten haben es deutlich schwerer, so die Frankfurter Rundschau, „Mehrheit der jungen Deutsch-Türkinnen ohne Ausbildung„, titelt die ZEIT, Zu wenige Lehrlinge, zu viele Abgehängte wird von Spiegel Online herausgestellt und die FAZ schaut auf den heiligen Gral der Bildungsbürger: Jeder zehnte Gymnasiast scheitert.
Der Bericht umfasst mehr als 340 Seiten und enthält natürlich zahlreiche Befunde. Die Studie im Original:
Autorengruppe Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland 2014. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur Bildung von Menschen mit Behinderungen, Bielefeld 2014
Welche bildungspolitisch wichtigen Schneisen kann man durch das Dickicht der zahlreichen Informationen schlagen?
„Der Bildungsstand der Bevölkerung ist insgesamt gestiegen“ – das wäre eine Möglichkeit, die einem beispielsweise auf der Startseite des Internetangebots des Bundesbildungsministeriums entgegenspringt. Es lasse sich ein Trend zu mehr Bildung feststellen, so auch die Autoren des Bildungsberichts. Aber was heißt das genau? Woran misst man „mehr Bildung“? »Zum Beispiel würden Unter-Dreijährige häufiger in Kindertagesstätten betreut. Die Zahl der Abiturienten sei zuletzt auf 57 Prozent gestiegen, die Zahl der Studienanfänger in den vergangenen 13 Jahren von 200.000 auf 500.000«, so die Frankfurter Rundschau in ihrem Artikel. Aber man darf und muss an dieser Stelle fragen – ist das wirklich umstandslos gleichzusetzen mit „mehr Bildung“? Oder werden wir hier möglicherweise zumindestens partiell Opfer einer Gleichsetzung von formalen Bildungszertifikaten mit „mehr Bildung“? Für diese skeptische Sicht auf die Dinge gibt es durchaus Hinweise, die man gerade im neuen Bildungsbericht finden kann:
Nehmen wir als Beispiel den Tatbestand, dass im Jahr 2013 erstmals die Zahl der Studienanfänger an den Hochschulen größer war als die der Neueinsteiger in das duale Berufsausbildungssystem. Die Apologeten einer Anhebung des Anteils der akademisch Qualifizierten in Deutschland werden diese Entwicklung sicherlich begrüßen. Aber natürlich hat das Auswirkungen auf das Bildungssystem wie aber auch – und das wird oftmals in der Diskussion, die sich vor allem auf die Strukturen konzentriert, vergessen – auf die einzelnen Menschen, die sich in den Systemen und in den Lernarrangements bewegen (müssen). Die bereits seit längerem laufende hoch emotionalisierte Debatte über einen (angeblichen oder tatsächlichen) „Akademisierungswahn“ hat darauf hingewiesen, dass diese Entwicklung besonders problematisch ist für den Bereich der dualen Berufsausbildung, der gleichsam in einem doppelten Sinne unter Druck gerät, da aufgrund der demografischen Entwicklung die Zahl der jungen Menschen abnimmt und gleichzeitig von den weniger werdenden jungen Menschen gerade die tendenziell „besser“ qualifizierten Jugendlichen, die früher eine Berufsausbildung gemacht hätten, heute irgendeinen Studiengang an einer Hochschule aufnehmen, dort aber nicht selten die für sie schlechteren Lernsettings vorfinden.
- Die Auswirkungen dieser bereits seit Jahren laufenden Entwicklung, hinter der auch ein fundamentaler gesellschaftspolitischer Wirkmechanismus steht, nach dem der Königsweg der Bildung in Deutschland aus Abitur + Studium besteht, was sich tief in den Köpfen gerade auch der Eltern festgesetzt hat, auf das (bisherige) Rückgrat des Ausbildungssystems, also die duale und fachschulische Berufsausbildung, aus denen heraus die gerade für Industrie, gehobene Dienstleistungen sowie auch für das Handwerk so wichtigen mittleren Qualifikation generiert worden sind, werden – so meine These – völlig unterschätzt. Bereits seit längerem wird von kritischen Beobachtern darauf hingewiesen, dass der so genannte „Fachkräftemangel“, der in der öffentlichen und politischen Debatte völlig einseitig und übrigens mit überaus fragwürdiger empirischer Relevanz auf ganz bestimmte akademische Berufe verkürzt wurde (und wird) wie den Ingenieuren oder Ärzten, nach allen vorliegenden Prognosen wenn, dann vor allem im Bereich der mittleren Qualifikationsebene, auf gut Deutsch bei den Facharbeitern, die das Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft bilden, sowie den Handwerkern, eine zunehmende und hoch problematische Bedeutung bekommen wird. Das findet nun auch im neuen Bildungsbericht seinen Niederschlag. Im Vorfeld der heutigen Veröffentlichung von „Bildung in Deutschland 2014“ berichteten die Medien über einen Teilaspekt, der in dem Bildungsbericht herausgearbeitet wird: »In den industriellen Kernberufen (Metall, Technik und Elektro) wie auch in den Gesundheits- und Pflegeberufen bestehe seit Jahren beim Lehrstellenangebot der Unternehmen eine „beträchtliche Unterdeckung“, heißt es in dem Bericht. Im Schnitt gebe es hier zwischen 10 und 14 Prozent mehr jugendliche Bewerber als angebotene Plätze. Das von der Wirtschaft in der öffentlichen Debatte immer wieder herausgestellte große Überangebot an Lehrstellen beschränke sich dagegen im Wesentlichen auf drei Bereiche: Ernährungshandwerk, Köche und Hotel- und Gaststättengewerbe« (Quelle: Bildungsbericht: Fachkräftemangel ist hausgemacht).
Aber auch wenn man der Bewertung folgen sollte, dass das Bildungsniveau weiter angestiegen sei – der Bildungsbericht stellt auch heraus, dass es zu wenig Bewegung in der Frage von sozialer Benachteiligung und von herkunftsbedingten Unterschieden gibt. »Dem aktuellen Bericht zufolge gab es bei der Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund, die keinen allgemeinbildenden oder beruflichen Abschluss erlangen, seit 2005 kaum Veränderungen: Während bei Deutschen zwischen 30 bis 35 die Zahl derjenigen ohne Berufsabschluss in diesem Vergleichsjahr und 2012 konstant bei etwa zehn Prozent lag, betrug der Anteil bei Migranten um 35 Prozent. Besonders hoch liegt der Anteil derjenigen ohne Berufsabschluss bei Menschen türkischer Herkunft, mit knapp 60 Prozent bei den Frauen und knapp 50 Prozent bei den Männern«, so die Ausführungen in einem Artikel der Online-Ausgabe der Frankfurter Rundschau. Fast die Hälfte der Schüler mit Migrationshintergrund landet nach der Schule im sogenannten „Übergangssystem“. »Als Ursachen für die schlechte Position von Migranten bei den Abschlüssen vermuten die Forscher mehrere Gründe: zum einen sind dies kulturelle, etwa wenn eine Ausbildung für Frauen nicht für nötig befunden wird. Außerdem hätten viele Unternehmen nach wie vor Vorbehalte gegen ausländische Bewerber.«
Hinsichtlich des diesjährigen Schwerpunktthemas Menschen mit Behinderungen im Bildungssystem wird ein teilweise immer fundamentalistischer geführter Diskurs über „Inklusion“ aufgegriffen (vgl. für die semantische Schärfe, mit der mittlerweile über Inklusion gestritten wird, beispielsweise den Beitrag Alle einschließen, wollen wir das? von Christian Geyer aus der Online-Ausgabe FAZ: „… weil die Wortvehikel, auf denen die Streiter dabei sitzen, so groß sind, kommt leider vieles unter die Räder“, so Geyer). Jan Friedmann sieht die Ausführungen im neuen Bildungsbericht in seinem Artikel so: »Am meisten zu knabbern haben dürfte die Politik an den Aussagen des Bildungsberichts zur Situation von behinderten Menschen im Bildungssystem. Tenor: Bevor die Integration behinderter Schüler in die Regelschulen als politisches Großprojekt ausgerufen werde, müsse erst einmal klar sein, „wo welche Schülerinnen und Schüler inkludiert werden“. Nötig sei ein koordiniertes Vorgehen zwischen Bund und Ländern und den beteiligten Akteuren untereinander.« Die vielgescholtenen Förderschulen können sich durchaus gestützt fühlen, denn diese Schulart komplett abzuschaffen, wie es manche Inklusionsbefürworter wünschen, halten die Autoren des Bildungsberichts für falsch. Es wird geschätzt, dass für etwa zwei Prozent der Schüler Sonderschulplätze vorgehalten werden müssten, weil sie nicht ins Regelschulsystem passten, derzeit befinden sich hie mehr als fünf Prozent der Schüler/innen.
Aber bleiben wir bei den großen Schneisen, die mit und durch den neuen Bildungsbericht geschlagen werden (sollen/können/müssten).
»In vielen Bildungsbereichen stand unter dem Druck verstärkter Nachfrage der quantitative Ausbau der Institutionen des Bildungssystems im Vordergrund. Auch vor dem Hintergrund der demografischen Perspektive, die eine bessere Entwicklung und Nutzung aller Bildungspotentiale dringend erforderlich macht, gewinnen zunehmend qualitative Aspekte der Gestaltung von Bildungsinstitutionen und Bildungsprozessen an Bedeutung« (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014: 11).
Vor diesem Hintergrund beschreiben die Autoren des neuen Bildungsberichts mehrere zentrale Herausforderungen in bestimmten Handlungsfeldern, den man sich in der nächsten Zeit widmen sollte/müsste:
- Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung. Dazu der Bericht: »Im Zuge des quantitativen Ausbaus sind Fragen der Qualität weitgehend offen geblieben, etwa die nach einem kind- und altersgerechten Personalschlüssel oder die nach der für die Förderung der Kinder am besten geeigneten Altersstruktur in den Gruppen. Auch die auffälligen regionalen und kommunalen Unterschiede in der Bereitstellung und der (zeitlichen) Ausgestaltung der Angebote verdienen Aufmerksamkeit« (S. 11). Angesichts der enormen bildungspolitischen Bedeutung dieses Bereichs wird hier der Finger auf eine offene, klaffende Wunde gelegt.
- Gestaltung der Ganztagsschule: » Ein klares pädagogisches Konzept für die Gestaltung von Schulen im Ganztagsbetrieb, das schultyp- und regionenübergreifend Standards verbindlich macht, zugleich aber auch auf die Spezifika der einzelnen Schule eingeht und diese nutzt, erscheint als ein Gebot der Stunde« (S. 11). Hier geht es um die offensichtliche Problematik, das wir hinsichtlich der Ganztagsschulentwicklung in Deutschland gleichsam feststecken zwischen nicht Fisch, nicht Fleisch. Die meisten Ganztagsschulen sind keine gebundenen Ganztagsschulen, sondern werden in offener Konzeption geführt. Mittlerweile gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass die Beteiligung oder eben auch Nicht-Beteiligung am Ganztag gleichsam zu einem Distinktionsmerkmal für die bildungsbürgerlichen Mittelschichtsfamilien geworden ist bzw. wird. Aber auch in diesem Bereich – also der Gestaltung der Ganztagsschule – trifft die Bildungspolitik wie auch im Bereich der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung auf das Problem der föderalen Zuständigkeit und der schier unglaublichen Heterogenität zwischen den einzelnen Bundesländern.
- Die Organisation des Übergangs von den allgemeinbildenden Schulen in die Berufsausbildung bildet das dritte wichtige Handlungsfeld: »Wenn trotz demografisch bedingter Rückläufigkeit der Ausbildungsnachfrage und einer relativen Entspannung auf dem Ausbildungsmarkt immer noch über eine viertel Million Jugendliche nach dem Schulabschluss zunächst in einer der vielen Maßnahmen des Übergangssystems einmündet, gilt es, verstärkt die Frage nach der inhaltlichen Systematisierung und zugleich der politischen Koordinierung des Übergangssystems zu stellen« (S. 11 f.). An dieser Stelle möchte man einwerfen, dass das gelinde gesagt viel zu weichgespült daherkommt, denn gerade das Thema „Übergangssystem“ ist in den vergangenen Jahren sowas von durchgemogelt worden, es gibt tonnenweise Material über die Struktur- und Prozessprobleme, es gibt zahlreiche Reformvorschläge, gerade von Praktikern und denjenigen, die sich seit Jahren mit diesem Themenfeld auseinandersetzen, so dass man bei Lichte betrachtet zu der Erkenntnis kommen muss, die allerdings auch in vielen anderen Bereichen der Bildungspolitik an erster Stelle steht: wir haben weiß Gott kein Erkenntnis-, sondern ein manifestes Umsetzungsproblem.
- Die Schnittstelle zwischen Berufsausbildung und Hochschulausbildung wird als viertes Handlungsfeld identifiziert. Dazu wurde bereits unter dem Stichwort „Akademisierung“ einiges ausgeführt. Und wahrlich – hier wird die Musik spielen in den vor uns liegenden Jahren, droht doch, wenn man ehrlich ist, beim Laufenlassen der derzeitigen Entwicklungslinien, dass in den beiden großen Systemen, also der betrieblich/fachschulischen Berufsausbildung wie aber auch dem Hochschulsystem, nur schwer oder gar nicht reparierbare Schäden hervorgerufen werden. Aber die Bildungsexperten sind sich der Un-Möglichkeit ihrer Forderung offensichtlich selbst bewusst, wenn man auf ihre Formulierung achtet: »Soll es nicht zu einer dysfunktionalen Konkurrenz um – demographisch bedingt – zurückgehende Schulabsolventenzahlen zwischen den großen Ausbildungssektoren kommen, bedarf es eines neuen ausbildungspolitischen Konzepts für beide Bereiche . Ein solches ins Leben zu rufen, erscheint wegen der grundlegenden institutionellen Differenz zwischen diesen beiden Bereichen extrem schwierig. Wie marktmäßige sowie korporatistische (duale Ausbildung) und politische Steuerung (Hochschule) zu gemeinsamen Konzepten kommen sollen, ist im Augenblick schwer ersichtlich – bleibt aber erforderlich« (S. 12).
- Probleme übergreifender Bildungskonzeptionen verdichten sich auch in dem fünften Handlungsfeld, dass der Bildungsbericht aufruft: der Inklusion von Menschen mit Behinderungen auf allen Stufen und in allen Bereichen des Bildungssystems.
Fazit: Wenn man nüchtern auf die zentralen Handlungsfelder, die im Bildungsbereich genannt und natürlich genauer beschrieben werden hinsichtlich des dort identifizierten Handlungsbedarfs, schaut, dann wird klar, mit welchem grundlegenden und eigentlich viel radikaler zu diskutierenden Strukturproblem wir es hier zu tun haben: Es geht letztendlich um die große Frage des föderalen Durcheinanders, um die durch die föderalen Strukturen in Verbindung mit der finanziellen Zersplitterung der Ressourcen einhergehenden Paralyse auf den Planungs-, Umsetzungs- und Steuerungsebenen. Aber da will natürlich keiner ran. Wie tief man sich mittlerweile nach unten gewirtschaftet hat, kann man daran studieren, wie in den letzten Wochen die Diskussion und vor allem die Entscheidung über die Verteilung der im Koalitionsvertrag in Aussicht gestellten sechs Milliarden Euro für das Bildungswesen abgelaufen ist. Ein Trauerspiel.
Leider muss man zu dem (hoffentlich nur vorläufigen) Ergebnis kommen, dass vor dem Hintergrund der gewaltigen Strukturprobleme, die sich mittlerweile aufgestaut haben, auch die wertvollen Hinweise und Vorschläge aus dem neuen Bildungsbericht gelocht und abgeheftet werden. Ich lasse mich aber immer gerne vom Gegenteil überzeugen.