Wo soll das enden? Übergewichtige und Ganzkörpertätowierte könnte man doch auch … Ein Kommentar zum „sozialwidrigen Verhalten“, das die Jobcenter sanktionieren sollen

In der Online-Ausgabe der BILD-Zeitung wurde man mit dieser Meldung konfrontiert: »Die Bundesagentur für Arbeit (BA) verschärft die Gangart gegenüber Hartz-IV-Empfängern. Schärfer ahnden sollen die Ämter laut einer neuen internen BA-Weisung „sozialwidriges Verhalten“ von Hartz-Empfängern.« Das hat Spiegel Online aufgegriffen: Jobcenter sollen „sozialwidriges Verhalten“ sanktionieren. Dort erfahren wir mit Bezug auf den BILD-Artikel, der sich wiederum auf eine neue Weisung der BA an die Jobcenter beruft: »Die Bundesagentur für Arbeit (BA) will … schärfer gegen Hartz-IV-Empfänger vorgehen, die ihre Bedürftigkeit selbst verursacht oder verschlimmert haben. Demnach sollen Betroffene, die ihre Hilfebedürftigkeit selbst herbeiführen, sie verschärfen oder nicht verringern, künftig sämtliche erhaltenen Leistungen für bis zu drei Jahre zurückzahlen müssen. Strenger ahnden sollen die Ämter demnach auch „sozialwidriges Verhalten“ von Hartz-Empfängern.«

Was muss man sich denn darunter vorstellen – „sozialwidriges Verhalten“? Beginnen wir mit der „mildesten“ Variante, weil sie immer wieder gerne angeführt wird und sich vielen Beobachtern auch als ein bewusstes Fehlverhalten darstellt, das man ahnden kann/soll: »Hartz-IV-Empfänger, die bezahlte Jobs grundlos ablehnen und deshalb weiter von Hartz IV abhängig bleiben«, die fallen unter diese Kategorie, wobei hier gar nicht thematisiert werden soll, dass es in praxi gar nicht so einfach ist, diesen Tatbestand eindeutig festzustellen. 

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Auf schwarz-weiße Reflexe ist Verlass – am Beispiel minijobbender Rentner und einem nicht-kinderarmutsreduzierenden Mindestlohn

Es ist ein nicht auflösbares Dilemma in der Sozialpolitik – immer wieder wird man mit völlig entgegengesetzten Bewertungen eines scheinbar eindeutigen Sachverhalts konfrontiert. In diesen Tagen muss man das ein zwei Beispielen erneut zur Kenntnis nehmen.

Da wäre beispielsweise diese Meldung: »Sie räumen Supermarktregale ein, jobben als Briefträger oder arbeiten in Gaststätten: Immer mehr Rentner in Deutschland bessern ihr Einkommen mit einem Minijob auf. Ende 2015 übten bereits 943.000 Senioren ab 65 Jahre einen Minijob aus – ihre Zahl stieg damit seit 2010 um 22 Prozent, im Vergleich zu 2005 sogar um 35 Prozent. Vor zehn Jahren arbeiteten nur 698.000 Senioren in einem Minijob … Besonders drastisch ist der Zuwachs bei den Rentnern ab 75 Jahre: Ende vergangenen Jahres waren knapp 176.000 Senioren dieser Altersgruppe mit einem Monatsverdienst von maximal 450 Euro geringfügig beschäftigt – mehr als doppelt so viele wie noch im Jahr 2005«, kann man dem Artikel Immer mehr ältere Menschen gehen arbeiten – trotz Rente entnehmen.

Man kann sich sogleich vorstellen, was nach der Präsentation dieser erst einmal nackten Zahlen passiert: „Wir sind gegen die Maloche bis zum Tode“, so wird der Rentenexperte der Bundestagsfraktion der Linken, Matthias W. Wirkwald, in dem Artikel zitiert. Der dramatische Anstieg der minijobbenden Rentner in den vergangenen zehn Jahren zeige: Immer mehr Rentner müssten sich die Rente aufbessern. „Diese arbeiten nicht aus Spaß, sondern weil die Rente nicht zum Leben reicht.“

Und Birkwald  steht nicht alleine mit seiner Bewertung. Auch die Sozialverbände sehen in der steigenden Zahl von Rentnern mit Minijobs einen Hinweis auf wachsende Altersarmut. „Die Entwicklung ist zweifellos dramatisch“, wird Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbands Deutschland, zitiert. „Denn sie belegt die wachsende Altersarmut in Deutschland.“

Eine solche Interpretation scheint ja auch naheliegend. Dennoch wird von der anderen Seite zurückgeschossen. Auch das von den Arbeitgebern finanzierte Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat sich sofort zu Wort gemeldet in Gestalt von Holger Schäfer, dem Arbeitsmarktexperten des Instituts: „Sicherlich sind manche Rentner auf ihren Minijob angewiesen“, sog wird er in dem Artikel zitiert. „Doch aus Studien wissen wir: Vielen Senioren macht ihr Minijob Spaß.“ Andere würden mehr Kontakt zu anderen Menschen wollen und würden deshalb ein paar Stunden in der Woche arbeiten gehen. Nach seiner Wahrnehmung machen viele Rentner einen Minijob, „weil sie mehr konsumieren wollen“ und führt als Beleg an, dass es die meisten älteren Minijobber nicht im Osten, sondern in Süddeutschland gibt – also in einer Region, in dem viele Menschen eine gute Rente bezögen.

Hinsichtlich des Arbeitsmarktverhaltens von Menschen gibt es keine einfache „wenn, dann“-Gleichung. Das gilt gerade in diesem Beispielfall. Anders formuliert: Beide Seiten können sicher empirische Evidenz für sich beanspruchen, wenn man wirklich mit den Leuten sprechen würde. Dass es Minijobs gibt, die von Älteren gemacht werden, um über die Runden kommen zu können, steht außer Frage, denn es gibt einfach zu viele Tätigkeiten darunter, die man nicht guten Gewissens unter die IW-Kategorie „Spaß an der Altersarbeit“ subsumieren kann.

Auf der anderen Seite ist es aber eben auch so, dass man nicht einfach die fast eine Million Rentner, die minijobbend einen Teil ihrer Zeit verbringen müssen/wollen, unter die Kategorie „Altersarmut“ subsumieren kann und und darf. Denn natürlich gibt es auch die Fälle, in denen die Menschen diese Entscheidung aus anderen als rein materiellen Gründen im engeren Sinne, also um existenzielle Bedürfnisse abdecken zu können, getroffen haben. Das gilt dann aber auch für das Argument der Arbeitgeberinstitutsseite , weil in Süddeutschland mehr minijobbende Rentner gibt als im ärmeren Osten, könne man gar nicht davon sprechen, dass Altersarmut das Hintergrundproblem sei. Denn gerade unter dem großen Durchschnittsdach „wohlhabend“ verbergen sich im Süden eben auch individuell viele Haushalte bzw. Einzelpersonen, die es schwer haben, über die Runden zu kommen. Außerdem sind sie hier auch mit einem deutlich höheren Preisniveau, man denke nur an die Wohnkosten, konfrontiert. Eine Zwangslage, die zu der Arbeit geführt hat, kann sich gerade hier auch knapp oberhalb der Inanspruchnahme der Grundsicherung entfalten.

Fazit: Beide Interpretationen haben etwas für sich, aber nicht in ihrer Eindimensionalität. Und für beide gibt es nach den wenigen bisher vorliegenden Untersuchungen Hinweise. Vielleicht sollte man hier schlichtweg wesentlich genauer hinschauen.

Das zweite Beispiel bezieht sich auf diese, frustrierend daherkommende Überschrift: Mindestlohn hilft nicht gegen Kinderarmut. Dem Artikel kann man folgende Daten entnehmen:

»Die Einführung des Mindestlohns hat die Kinderarmut in Deutschland nicht erkennbar vermindert. Das lässt sich aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen ablesen … Demnach lebten bei Einführung des Mindestlohns im Januar 2015 noch 861.022 Kinder unter 18 Jahren in einer Aufstocker-Familie mit mindestens einem Erwerbstätigen, der zusätzlich zu seinem geringen Gehalt noch Hartz-IV-Leistungen beantragen musste. Im Januar 2016 waren es 861.539 und damit sogar geringfügig mehr.«

Es geht also a) um Aufstocker und b) um die, bei denen ein oder mehrere Kinder im Haushalt leben.

Und weiter kann man dem Artikel entnehmen, dass im Januar 2015 insgesamt 1,244 Millionen Erwerbstätige gezählt wurden, die neben ihrem Job zur Bestreitung des Lebensunterhalts Hartz IV beantragen mussten. Im Januar 2016 waren es 1,191 Millionen. Dies entspricht einem Rückgang um 4,3 Prozent. Die Zahl der Aufstocker, in deren Haushalt mindestens ein Kind lebt, ging nur um 2,1 Prozent auf 556.000 zurück.

Und die Bewertung dieses Zahlen? Die stammen aus einer Anfrage, die von der Bundestagsfraktion der Grünen an die Bundesregierung gestellt worden ist. „Es ist ein Skandal, wenn fast 900.000 Kinder, obwohl ihre Eltern arbeiten, von Hartz-IV-Leistungen abhängig und damit massiv von Armut bedroht sind“, wird Wolfgang Strengmann-Kuhn, der sozialpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, in dem Artikel zitiert. „Der Mindestlohn geht an den Familien vorbei“, argumentiert der Abgeordnete.

Auch hier werden wir wieder mit einer Instrumentalisierung von Zahlen und daraus abgeleiteten scheinbar plausiblen Schlussfolgerungen konfrontiert. Hängen bleibt beim unbefangenen Leser, „der“ Mindestlohn sei gescheitert, weil die Kinderarmut, genauer: die Zahl der in Hartz IV-empfangenden Bedarfsgemeinschaften lebenden Kinder, bei dessen Eltern es sich um „Aufstocker“ handelt, nicht zurückgegangen ist. Das wiederum ist eine gewagte These. Aus zwei Gründen.

Zum einen – das wurde im Vorfeld der Diskussion immer wieder gesagt – ist eine „armutsvermeidende“ Wirkung (hier im Sinne einer nicht mehr gegebenen Hartz IV-Bedürftigkeit) nur bei alleinstehenden Arbeitnehmern gegeben, wenn sie Vollzeit arbeiten (und unter Berücksichtigung der realen Kaufkraft selbst dann nicht, wenn man sich in „teuren“ Regionen befindet). Aber der gesetzliche Mindestlohn reicht selbst bei Vollzeit nicht aus für eine Existenzsicherung, wenn es Angehörige zu versorgen gibt. Das nun aber ist nicht (nur) ein Problem der Höhe des Mindestlohnes, sondern (auch) des defizitären Familienlastenausgleichs.

Zum anderen wird der unbefangene Leser des zitierten Artikels ob bewusst oder unbewusst den Eindruck bekommen haben, es geht um Leute, die als Aufstocker voll arbeiten und zu wenig verdienen. Wenn man sich nicht auskennt, liegt diese Interpretation auch nahe. Aber „die“ Aufstocker gibt es nicht. Es gibt tatsächlich Vollzeitbeschäftigte, die so wenig verdienen, dass sie noch aufstocken müssen. Aber das ist nur eine kleine Gruppe. Die große Zahle der Aufstocker sind Hartz IV-Empfänger, die sich im Minijob-Bereich Geld hinzuverdienen, also in einer geringfügigen Beschäftigung. Hier könnte der Stundenlohn auch bei 20 Euro und mehr liegen, man würde dennoch nicht aus der Hilfebedürftigkeit herauskommen.

Ich kann ja nichts dafür, die sozialpolitische Welt ist einfach sehr kompliziert und sie verträgt auch keine zu einfachen Antworten.

Gratwanderung zwischen Freiheit und Zwang. Das Bundesverfassungsgericht erleichtert die medizinische Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) genießt in weiten Teilen der Bevölkerung einen exzellenten Ruf. Das hängt nicht nur, aber auch mit den Themen zusammen, die hier aufschlagen sowie der Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts dazu. Immer wieder geht es um fundamentale Freiheitsfragen und den Schutz der individuellen Freiheitsrechte gegenüber staatlichen Anmaßungen und Zumutungen.

Als eine solche fundamentale Freiheitsfrage kann und muss man sicherlich die Möglichkeit des Staates, Menschen auch gegen ihren Willen einer medizinischen Behandlung zu unterziehen, einordnen. Jeder wird erwarten, dass man diese letzte Option so restriktiv wie möglich ausgestaltet, um Missbrauch und übergriffiges Verhalten zu verhindern. Und man wird prima facie erwarten dürfen, dass das BVerfG diesen Schutz im Auge hat und verteidigt. Vor diesem Hintergrund wird der eine oder andere vielleicht mehr als überrascht gewesen sein, als aus Karlsruhe diese Entscheidung bekannt gegeben wurde: Die Beschränkung ärztlicher Zwangsbehandlung auf untergebrachte Betreute ist mit staatlicher Schutzpflicht nicht vereinbar, so hat das Gericht eine Pressemitteilung überschrieben. »Es verstößt gegen die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dass hilfsbedürftige Menschen, die stationär in einer nicht geschlossenen Einrichtung behandelt werden, sich aber nicht mehr aus eigener Kraft fortbewegen können, nach geltender Rechtslage nicht notfalls auch gegen ihren natürlichen Willen ärztlich behandelt werden dürfen«, so das Gericht mit Bezug auf den Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15. Also das Recht des Staates, sich gegen den Willen der Menschen eine Behandlung durchzuführen, wurde nicht begrenzt, sondern die Pflicht des Staates, das zu machen, wurde ausgeweitet. 

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