Bessere Arbeitsbedingungen in der Plattformökonomie – eine mögliche Regelung auf der europäischen Ebene „von Deutschland“ blockiert?

Die Bundesregierung besteht bekanntlich aus drei Parteien, die sich in einer „Ampel-Koalition“ zusammengeschlossen haben: SPD, Grüne – und FDP. Während sich Sozialdemokraten und Grüne in vielen gerade sozialpolitisch relevanten Fragen durchaus nahe stehen, vertritt die FDP oftmals davon abweichende Positionen und die Liberalen tun sich erkennbar schwer mit so manchem Vorhaben der beiden anderen Partner. Das reicht dann bis hin zu einer versuchten Positionierung der FDP-Politik als Gegengewicht zu den beiden „linken“ Parteien im eigenen Regierungsbündnis, wie das der FDP-Chef, der amtierende Bundesfinanzminister Christian Lindner, auch öffentlich vorträgt.

Eine solche Vorbemerkung erscheint wichtig, um solche viele erst einmal irritierende Meldungen einordnen zu können: »Verhandlungen in der Europäischen Union über bessere Arbeitsbedingungen von Beschäftigten bei Onlineplattformen wie Lieferando, Uber oder Gorillas sind vorerst gescheitert. Offenbar konnte sich die Bundesregierung nicht auf eine gemeinsame Linie einigen. Hätte Berlin dem Vorhaben zugestimmt, hätte es nach Informationen von EU-Diplomaten eine ausreichende Mehrheit dafür gegeben«, kann man diesem Bericht entnehmen: EU-Regeln für Dienste wie Lieferando: Bessere Arbeitsbedingungen blockiert. Und direkt unter der Überschrift werden wir darüber informiert: »Alle EU-Staaten waren bereit – nur die Bundesregierung wegen des FDP-Widerstands nicht: Die Verhandlungen über bessere Arbeitsbedingungen für Beschäftigte von Onlineplattformen sind gescheitert – zumindest vorerst.« Was ist da los?

Der Riss innerhalb der Bundesregierung wird an solchen Zitaten erkennbar: »Die SPD-Europaabgeordnete Gaby Bischoff machte den liberalen Koalitionspartner ihrer Partei in Berlin dafür verantwortlich: „Es ist sehr enttäuschend, dass sich die Bundesregierung wegen der FDP nicht konstruktiv an den Verhandlungen beteiligen konnte“ … Die FDP-Europaabgeordnete Svenja Hahn sagte, die Gefahr bestehe, dass die neue Regulierung Selbstständigkeit de facto abschaffe.« Und es geht hier wahrlich nicht um Peanuts: »Mit neuen Regularien will die EU-Kommission Beschäftigte von Onlineplattformen künftig besser absichern. So könnten etwa Millionen Beschäftigte wie Angestellte eingestuft werden und etwa Anspruch auf Mindestlohn und geregelte Arbeitszeiten haben. Heute gelten viele Plattformarbeiterinnen und -arbeiter als Freiberufler.«

Um was genau geht es hier eigentlich?

Am Anfang des nunmehr auslaufenden Jahres 2022 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Online-Plattformen und ihre Beschäftigten. Deren Arbeitsbedingungen sollen unter dem Schutzschirm einer EU-Richtlinie reguliert werden (12.01.2022).

In diesem Beitrag wurde eingangs auf eine „Kracherentscheidung“ des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hingewiesen, konkret auf eine Entscheidung des höchsten deutschen Arbeitsgerichts, die am 1. Dezember 2020 ergangen ist:

»Die tatsächliche Durchführung von Kleinstaufträgen („Mikrojobs“) durch Nutzer einer Online-Plattform („Crowdworker“) auf der Grundlage einer mit deren Betreiber („Croudsourcer“) getroffenen Rahmenvereinbarung kann ergeben, dass die rechtliche Beziehung als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist.« So beginnt eine Mitteilung des Bundesarbeitsgerichts (BAG), die unter der trockenen Überschrift Arbeitnehmereigenschaft von „Crowdworkern“ veröffentlicht wurde. Es geht um das Urteil vom 1. Dezember 2020 – 9 AZR 102/20 des BAG. Und diese Entscheidung hat durchaus Tiefen (manche würden sagen Untiefen). Dazu ausführlicher der Beitrag Frei oder abhängig (oder beides gleichzeitig)? Crowdworker zwischen Selbstständigkeit oder Arbeitnehmereigenschaft. Das Bundesarbeitsgericht hat dazu geurteilt vom 1. Dezember 2020. Die Charakterisierung des Urteils als „Kracherentscheidung“ wurde dem Beitrag Ein Crowd­worker war Arbeit­nehmer von Michael Fuhlrott entnommen. Der hatte angemerkt: »Die Entscheidung – ergangen zu einem Einzelfall – bringt jedenfalls nicht gleich ihr Ende. Sie werden aber ihr Geschäftsmodell prüfen und ggf. umstellen müssen.« An die Plattformen gerichtet unterstreicht er den Ernst der Lage: »Enge Bindungen und Vorgaben an Crowdworker zur Gestaltung der Abläufe werden … nicht mehr möglich sein und bergen – aus Unternehmersicht – die „Gefahr“, dass der Crowdworker ungewollt als Arbeitnehmer zu qualifizieren ist. Damit einher gehen entsprechende Rechte: Urlaub, Kündigungsschutz, Entgeltfortzahlung und betriebliche Mitbestimmung. Als Arbeitgeber werden die Plattformen dann zudem Sozialversicherungsabgaben leisten müssen.

Aber Anfang dieses Jahres ging es nicht (mehr) um das Urteil des BAG, sondern um eine weitere bevorstehende (mögliche) Stufe der Regulierung der Online-Plattformunternehmen: Die EU-Kommission hatte einen mit Spannung erwarteten Richtlinienentwurf zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Beschäftigte bei Online-Plattformunternehmen vorgelegt. Dieser widmet sich insbesondere drei Regulierungsbereichen: der Bekämpfung von Scheinselbstständigkeit, der Schaffung von mehr Transparenz und Fairness sowie der Einführung von umfassenden Informationspflichten. Seit Jahren wird aus dem gewerkschaftlichen Lager ein EU-Rechtsrahmen für die Beschäftigten von Online-Plattformen gefordert. Dabei wurde immer wieder auf die prekäre Situation der dort Beschäftigten aufmerksam gemacht.

➔ Zur Entwicklungsgeschichte des Richtlinienentwurfs der EU-Kommission müssen wir zurückschauen in das das Jahr 2021. Dazu aus dem Beitrag EU-Initiative zur Regulierung von Plattformarbeit (18.06.2021): »Ende Februar hat die EU-Kommission mit einem Konsultationspapier zu den Arbeitsbedingungen von Plattformarbeitern ein mehrstufiges Verfahren in Gang gesetzt, an dessen Ende eine umfassende, EU-weite Regelung zum Arbeitsrecht in der „Gig-Economy“ stehen könnte. Bis Ende des Jahres will die Kommission ein Ergebnis vorlegen – womöglich in Form einer Plattformarbeits-Richtlinie, die die Mitgliedstaaten dann in das nationale Arbeitsrecht umzusetzen hätten.« Im März 2021 hat auch der Ausschuss des EU-Parlaments für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten eine Richtlinie zur Regulierung von Plattformarbeit gefordert. Vgl. den dazu gehörenden Berichtsentwurf des Committee on Employment and Social Affairs: Draft report on fair working conditions, rights and social protection for platform workers – new forms of employment linked to digital development
(2019/2186(INI))
, 09.02.2021.
Devey/Grau schreiben in ihrem Beitrag aus dem vergangenen Jahr zur Ausgangsproblematik: »Das geltende Recht hält für die Fragen zur Plattformarbeit keine klaren Antworten bereit. Im Zentrum der Diskussion steht die Frage, ob Plattformarbeiter „Arbeitnehmer“ sind und damit den vielen, auch EU-rechtlich geprägten Schutzvorschriften unterfallen. Dies betrifft etwa Urlaubsansprüche, Mindestlohn und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Den Streit um die rechtliche Einordnung tragen Plattformbetreiber und Plattformarbeiter auch vor Gerichten aus – mit unterschiedlichen Ergebnissen. Französische und spanische Gerichte haben bestimmte Plattformarbeiter beispielsweise als Arbeitnehmer qualifiziert (in Spanien ging es um Fahrer einer Food-Delivery Plattform, in Frankreich um Uber-Fahrer). Erst im Februar 2021 hat der UK Supreme Court Uber-Fahrer als „worker“, eine Zwischenform, eingestuft, während ein belgisches Gericht entgegengesetzt urteilte und solche Fahrer als Solo-Selbstständige erachtete.«
Die beiden Arbeitsrechtler von Linklaters bilanzierten im Juni 2021: »Es bleibt abzuwarten, ob sich die Debatte auf die Unterscheidung von Arbeitnehmern und Solo-Selbständigen, gleichsam eine „Alles-oder-Nichts-Lösung“ im Hinblick auf arbeitsrechtliche Schutzvorschriften, zuspitzt. Mehrere Länder in der EU kennen Zwischenformen eines Beschäftigungsstatus. Diese könnten es ermöglichen, nur solche Regelungen des Arbeitsrechts auf Plattformarbeiter anzuwenden, welche zu den tatsächlichen Gegebenheiten passen. So würden sich bei einer klaren Einordnung als Arbeitnehmer zahlreiche praktische Anwendungsfragen stellen: Wie ist Entgeltfortzahlung bei Krankheit an jemanden zu leisten, der nur unregelmäßig für ein paar Minuten oder Stunden Aufträge übernimmt? Wie würde eine solche Person Urlaub nehmen? Auch die Plattformbetreiber werben für einen solchen „dritten Weg“.«

Das Europäische Parlament hat am 16. September 2021 eine Entschließung angenommen, in der die Kommission aufgefordert wurde, einen „Vorschlag für eine Richtlinie zu Plattformbeschäftigten vorzulegen, um die Rechte aller Plattformbeschäftigten sicherzustellen und die Besonderheiten von Plattformarbeit anzugehen, um für faire und transparente Arbeitsbedingungen zu sorgen“. Der Richtlinienvorschlag (COM(2021) 762 vom 9.12.2021) liegt nunmehr vor. Dazu auch die Pressemitteilung der Kommission vom 09.12.2021: Vorschläge der Kommission zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Menschen, die über digitale Arbeitsplattformen arbeiten. Die EU-Kommission schätzt, dass EU-weit über 28 Millionen Menschen über digitale Arbeitsplattformen tätig sind. 90 Prozent der Plattformarbeitenden haben bisher den Status von Selbstständigen. Die EU-Kommission will durch das Setzen von europäischen Mindeststandards die Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten verbessern. Denn für die Bestimmung des arbeitsrechtlichen Status von Plattformarbeitenden hält das geltende Recht bisher keine klare Antwort bereit. Diskussionsthema ist insbesondere die Frage, ob diese Personen Arbeitnehmer oder Selbstständige sind.

Von der EU-Kommission wurde ein Kriterienkatalog entwickelt, nach dem beurteilt werden soll, ob eine abhängige oder selbstständige Tätigkeit vorliegt.

➔ Der von der EU-Kommission entwickelte Kriterienkatalog sieht folgende fünf Kriterien vor: 
➞ Festlegung der Höhe der Vergütung bzw. von Obergrenzen der Vergütung, 
➞ die Überwachung der Ausführung der Arbeit auf elektronischem Wege, 
➞ die Einschränkung der Möglichkeiten, Arbeits- oder Abwesenheitszeiten frei zu wählen, Aufgaben anzunehmen oder abzulehnen oder Unterauftragnehmer oder Ersatzkräfte in Anspruch zu nehmen, 
➞ die Festlegung bestimmter verbindlicher Regeln in Bezug auf Erscheinungsbild und Verhalten gegenüber dem Empfänger der Dienstleistung bzw. in Bezug auf die Arbeitsleistung sowie 
➞ die Einschränkung der Möglichkeit, einen Kundenstamm aufzubauen oder Arbeiten für Dritte auszuführen.
Liegen zwei dieser fünf Kriterien (bspw. Festlegung der Höhe der Vergütung bzw. von Obergrenzen der Vergütung und Überwachung der Ausführung der Arbeit auf elektronischem Wege) vor, wird ein widerlegbarer Arbeitnehmerstatus vermutet. Hierbei soll nicht auf den einzelnen Arbeitnehmer, sondern auf die Plattform abgestellt werden. Entscheidend soll sein, ob der Plattformbetreiber ein gewisses Maß an Kontrolle über die Plattformarbeitenden ausübt. Ist dies der Fall, so wird vermutet, dass der Plattformbetreiber Arbeitgeber und der Plattformbeschäftigte Arbeitnehmer ist. Der Vorschlag enthält hierfür eine Beweislastregelung, nach der die Beweislast für das Nichtvorliegen eines Arbeitsverhältnisses beim dem Plattformbetreiber liegen soll.

Offensichtlich ist die Richtlinie der Kommission darauf ausgerichtet, Scheinselbstständigkeit zu verhindern oder wenigstens zu minimieren. Rechtspolitisch bedeutsam wäre, dass ein einheitliches Schutzniveau in der Plattformarbeit geschaffen und ausbeuterische Arbeit untersagt werden soll. Ein einheitlicher europäischer Rechtsrahmen verhindert Ausweichreaktionen zulasten der Betroffenen, indem Plattformbetreibende ihre Mitarbeiter in Mitgliedstaaten mit niedrigerem Schutzniveau rekrutieren.

Es gab und gibt natürlich auch Einwände gegen die sich abzeichnende Regulierung der Plattformunternehmen. Für die einen erscheint die Beschränkung auf fünf Kriterien und die Voraussetzung, dass zwei davon erfüllt sein müssen, ziemlich restriktiv. Offen bleibt auch, wie es in der Praxis gelingen soll, die vermutete Arbeitnehmerstellung zu widerlegen, was ausdrücklich als Option vorgesehen ist. Und neben der Frage, wie die Arbeitnehmerschutzrechte wirksam grenzüberschreitend durchgesetzt werden können, gibt es eine höchst ambivalente offene Frage: Entspricht es überhaupt dem Interesse der meisten auf bzw. über Plattformen arbeitenden Menschen den Arbeitnehmerstatus zu erlangen oder legen sie nicht vielmehr größeren Wert auf den Selbstständigen-Status?

SPD und Grüne hätten dem Entwurf der Kommission sicher zugestimmt, wenn da nicht die FDP wäre. Und wieder zurück zum Anfang dieses Beitrags: Warum wollen die das blockieren? Die FDP-Europaabgeordnete Svenja Hahn wurde bereits mit ihren Worten zitiert, „die Gefahr bestehe, dass die neue Regulierung Selbstständigkeit de facto abschaffe“. Man kann das aus einer anderen Perspektive auch so formulieren: Es geht vor allem um die Abschaffung von Scheinselbstständigkeit und der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft durch eine Verlagerung unternehmerischer Risiken auf ungeschützte Solo-Selbstständige.

Und was man hinsichtlich der Dauer wissen muss, selbst wenn der Entwurf der Kommission angenommen werden würde: Die durchschnittliche Zeitspanne von der Annahme eines Vorschlags bis zur Umsetzung im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens beträgt 18 Monate. Die Vorschriften würden daher frühestens 2023 angenommen werden. Sollte die Richtlinie angenommen werden, haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, um die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen, mithin würden die neuen Vorschriften frühestens 2025 in Kraft treten (können). Das wird nun durch die – vorläufige? – Blockade seitens der Bundesregierung nach hinten verschoben. Denn man hofft in Brüssel, „in den kommenden Monaten“ einen Kompromiss finden zu können, der Voraussetzung ist, dass das beschriebene normale Verfahren überhaupt losgehen kann.