Der eine oder andere wird sich noch erinnern, als Andrea Nahles – heute Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA) – im Jahr 2016 noch in ihrer Funktion als Bundesarbeitsministerin in der Koalition von Union und SPD das die Leiharbeit in unserem Land regelnde Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) „reformiert“ hat. In dem 2016 vorgelegten Gesetzentwurf der damaligen schwarz-roten Bundesregierung hieß es viel versprechend: „Arbeitnehmerüberlassung soll gute Arbeit sein“, wozu „berufliche Sicherheit ebenso wie ein fairer Lohn“ gehören. Mit dem Gesetz soll „die Funktion der Arbeitnehmerüberlassung als Instrument zur zeitlich begrenzten Deckung eines Arbeitskräftebedarfs geschärft, Missbrauch von Leiharbeit verhindert, die Stellung der Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer gestärkt“ werden (Bundestags-Drucksache 18/9232). Bereits unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes wurde hier am 6. Oktober 2016 kritisch – vor dem Hintergrund, dass es sich um einen Kompromiss zwischen zwei Regierungspartnern handelte, die ganz unterschiedliche Perspektiven auf die Leih- bzw. Zeitarbeit haben, auch nicht wirklich überraschend – bilanziert: Ein „kleingehäckseltes“ koalitionsvertragsinduziertes Abarbeitungsgesetz zu Leiharbeit und Werkverträgen. Bereits in dem Beitrag findet man mit Blick auf die ursprüngliche Absicht, die Höchstüberlassungsdauer von Leiharbeitern auf 18 Monate zu begrenzen, diesen Hinweis: Aus den ursprünglichen 18 Monaten ist das hier geworden: 18 + (ohne Obergrenze) oder (24).
»Wir bekommen also eine „Obergrenze“ von 18 Monaten. Sogleich folgt allerdings die Umsetzung der (+ x)-Öffnungsklausel, denn in einem Tarifvertrag (der Tarifparteien der Einsatzbranche wohlgemerkt) können abweichenden Regelungen und eine längere Einsatzdauer vereinbart werden. Damit gibt es im Fall der tarifvertraglichen Regelung nach oben keine definierte Grenze bei der Überlassungsdauer. Aber es kommt noch „besser“: Diese Option gilt aber nicht nur für tarifgebundene Unternehmen auf der Entleiher-Seite, denn: Im Geltungsbereich eines Tarifvertrages der Einsatzbranche können auch nicht tarifgebundene Entleiher von der Höchstüberlassungsdauer abweichende tarifvertragliche Regelungen durch Betriebs- oder Dienstvereinbarungen übernehmen. Bei denen wird dann aber eine zweite Höchstüberlassungsdauergrenze eingezogen, die bei 24 Monate liegt.« Und weiter: Sollte jemand an dieser Stelle irritiert sein, dann kann er sich bestätigt fühlen, denn bereits damals wurde die Irritation so formuliert: »Ist es nicht eigentlich der Sinn tarifvertraglicher Regelungen, dass damit die Arbeitnehmer besser gestellt werden und gerade nicht schlechter? Man muss sich klar machen: Hier wird durch einen Tarifvertrag eine Abweichung ermöglicht, bei dem sich die betroffenen Leiharbeitnehmer schlechter stellen als würde es nur die gesetzliche Begrenzung auf 18 Monate geben.«
Das Thema wurde dann nach im dem Inkrafttreten der AÜG-Reform 2017 in dem Beitrag Zwei Jahre nach der Reform der Leiharbeit zeigt sich: Tarifverträge führen nicht immer zu besseren Regelungen vom 8. Mai 2019 vertieft und mit den tatsächlichen Entwicklungen abgeglichen. Ein Ergebnis damals: Laut Auskunft der Bundesregierung bestanden im April 2019 insgesamt 109 Tarifverträge, in denen die maximale Dauer der Überlassung an ein Unternehmen auf mehr als 18 Monate ausgeweitet wurde. Die Höchstdauer wurde in den Tarifverträgen auf 24 bis zum Teil sogar 120 Monate ausgeweitet. Die beschäftigten Leiharbeitnehmer könnten also abweichend von den in der Reform vorgesehenen 18 Monaten bis zu zehn Jahre in dem gleichen Betrieb eingesetzt werden.
Zur Regelungslage die Höchstüberlassungsdauer in der Leiharbeit betreffend: Nach 18 aufeinanderfolgenden Monaten dürfen Zeitarbeitnehmer nicht mehr ein und demselben Kunden überlassen werden. Grundlage ist § 1 Abs. 1b AÜG:
»Der Verleiher darf denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinander folgende Monate demselben Entleiher überlassen; der Entleiher darf denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinander folgende Monate tätig werden lassen. Der Zeitraum vorheriger Überlassungen durch denselben oder einen anderen Verleiher an denselben Entleiher ist vollständig anzurechnen, wenn zwischen den Einsätzen jeweils nicht mehr als drei Monate liegen. In einem Tarifvertrag von Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche kann eine von Satz 1 abweichende Überlassungshöchstdauer festgelegt werden. Im Geltungsbereich eines Tarifvertrages nach Satz 3 können abweichende tarifvertragliche Regelungen im Betrieb eines nicht tarifgebundenen Entleihers durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung übernommen werden. In einer auf Grund eines Tarifvertrages von Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche getroffenen Betriebs- oder Dienstvereinbarung kann eine von Satz 1 abweichende Überlassungshöchstdauer festgelegt werden. Können auf Grund eines Tarifvertrages nach Satz 5 abweichende Regelungen in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung getroffen werden, kann auch in Betrieben eines nicht tarifgebundenen Entleihers bis zu einer Überlassungshöchstdauer von 24 Monaten davon Gebrauch gemacht werden, soweit nicht durch diesen Tarifvertrag eine von Satz 1 abweichende Überlassungshöchstdauer für Betriebs- oder Dienstvereinbarungen festgelegt ist. Unterfällt der Betrieb des nicht tarifgebundenen Entleihers bei Abschluss einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung nach Satz 4 oder Satz 6 den Geltungsbereichen mehrerer Tarifverträge, ist auf den für die Branche des Entleihers repräsentativen Tarifvertrag abzustellen. Die Kirchen und die öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften können von Satz 1 abweichende Überlassungshöchstdauern in ihren Regelungen vorsehen.«
Hier besonders relevant: Für tariflich nicht gebundene Unternehmen besteht die Möglichkeit, eine vom Standard abweichende Höchstüberlassungsdauer durchzusetzen. Neben der Tatsache, dass es einen Betriebsrat geben muss, sind folgende Fallkonstellationen möglich: 1.) Der Tarifvertrag enthält eine Öffnungsklausel, in der keine Höchstüberlassungsdauer festgelegt ist. Hier liegt die Höchstgrenze bei 24 Monaten. 2.) st im Tarifvertrag der jeweiligen Einsatzbranche eine abweichende Höchstüberlassungsdauer festgelegt, kann eine Betriebsvereinbarung diese übernehmen. 3.) Besteht im Tarifvertrag die Möglichkeit einer Öffnungsklausel, kann eine andere Überlassungshöchstdauer in der Betriebsvereinbarung festgehalten werden. Der Zeitraum bewegt sich zwischen 12 und 24 Monaten.
Und was hat nun das Bundesarbeitsgericht damit zu tun?
Vom Arbeitsgericht Stuttgart (ArbG Stuttgart, 21.11.2019 – 28 Ca 3686/19) über das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg (LArbG Baden-Württemberg Urteil vom 18.11.2020, 21 Sa 12/20) bis hin zum Bundesarbeitsgericht (BAG, 14.09.2022 – 4 AZR 83/21) hat sich dieser Sachverhalt in den Worten des BAG gezogen:
»Der Kläger war der Beklagten ab Mai 2017 für knapp 24 Monate als Leiharbeitnehmer überlassen. Die Beklagte ist Mitglied im Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V. (Südwestmetall). In ihrem Unternehmen galt daher der zwischen Südwestmetall und der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) geschlossene „Tarifvertrag Leih-/Zeitarbeit“. Der Tarifvertrag regelt ua., dass die Dauer einer Arbeitnehmerüberlassung 48 Monate nicht überschreiten darf. Der Kläger will mit seiner Klage festgestellt wissen, dass zwischen ihm und der Beklagten (Entleiherin) aufgrund Überschreitung der gesetzlichen Höchstüberlassungsdauer kraft Gesetzes (§ 9 Abs. 1 Nr. 1b, § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG) ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen sei. Der Tarifvertrag Leih-/Zeitarbeit gelte für ihn mangels Mitgliedschaft in der IG Metall nicht. Zudem sei die dem Tarifvertrag zugrundliegende Regelung (§ 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG) verfassungswidrig. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen.«
Gegen die Entscheidungen des Arbeitsgerichts und des Landesarbeitsgerichts hat der Betroffene Revision beim BAG eingelegt. Unter der Überschrift Verlängerung der gesetzlich festgelegten Höchstdauer einer Arbeitnehmerüberlassung durch Tarifvertrag teilt uns das Bundesarbeitsgericht nunmehr mit:
»Bei einer vorübergehenden Arbeitnehmerüberlassung kann in einem Tarifvertrag der Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche abweichend von der gesetzlich zulässigen Dauer von 18 Monaten eine andere Überlassungshöchstdauer vereinbart werden. Diese ist auch für den überlassenen Arbeitnehmer und dessen Arbeitgeber (Verleiher) unabhängig von deren Tarifgebundenheit maßgebend … Die Revision des Klägers hatte vor dem Vierten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Südwestmetall und IG Metall konnten die Überlassungshöchstdauer für den Einsatz von Leiharbeitnehmern bei der Beklagten durch Tarifvertrag mit Wirkung auch für den Kläger und dessen Arbeitgeberin (Verleiherin) verlängern. Bei § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG handelt es sich um eine vom Gesetzgeber außerhalb des Tarifvertragsgesetzes vorgesehene Regelungsermächtigung, die den Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche nicht nur gestattet, die Überlassungshöchstdauer abweichend von § 1 Abs. 1b Satz 1 AÜG verbindlich für tarifgebundene Entleihunternehmen, sondern auch für Verleiher und Leiharbeitnehmer mittels Tarifvertrag zu regeln, ohne dass es auf deren Tarifgebundenheit ankommt. Die gesetzliche Regelung ist unionsrechts- und verfassungskonform. Die vereinbarte Höchstüberlassungsdauer von 48 Monaten hält sich im Rahmen der gesetzlichen Regelungsbefugnis.«
Katja Gelinsky bilanziert dazu in ihrem Artikel Abweichende Verleihdauer ist zulässig: »Das Bundesarbeitsgericht hat die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien und Unternehmen beim Einsatz von Leiharbeitern gestärkt. Einen Streit über die Höchstdauer von Entleihzeiten entschied das Gericht am Mittwoch zugunsten des beklagten Autoherstellers Mercedes-Benz , damals noch Daimler AG. Nach dem Urteil kann im Tarifvertrag der Einsatzbranche eine Entleihzeit vereinbart werden, die von der gesetzlich zulässigen Höchstdauer von 18 Monaten abweicht. Diese abweichende Regelung ist dann auch für Leiharbeiter und Verleiher maßgebend, die nicht tarifgebunden sind. Die im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz eröffnete Möglichkeit, in Tarifverträgen der Einsatzbranche branchenspezifische Überlassungszeiten festzulegen, sei mit dem Grundgesetz und auch mit EU-Recht vereinbar.«
Gleichsam im gesetzgeberisch ermöglichten Windschatten profitieren auch nicht-tarifgebundene Unternehmen von dieser Öffnung für tarifvertraglich ermöglichte längere Überlassungsdauern. Das war in dem reformierten AÜG bewusst so angelegt und ist nunmehr arbeitsgerichtlich auch abgesegnet worden.