Zwei Jahre nach der Reform der Leiharbeit zeigt sich: Tarifverträge führen nicht immer zu besseren Regelungen

»Seit April 2017 gelten die neuen Regelungen zu Equal Pay und die Höchstüberlassungsdauer im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG). Die Zielsetzung der Reform liest sich noch heute ambitioniert. „Arbeitnehmerüberlassung soll gute Arbeit sein“, wozu „berufliche Sicherheit ebenso wie ein fairer Lohn“ gehören (Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze, Bundestagsdrucksache 18/9232, Begründung, S. 14). Mit dem Gesetz soll „die Funktion der Arbeitnehmerüberlassung als Instrument zur zeitlich begrenzten Deckung eines Arbeitskräftebedarfs geschärft, Missbrauch von Leiharbeit verhindert, die Stellung der Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer gestärkt“ werden (Bundestagsdrucksache 18/9232, S. 1). Nach der Einigung beim Koalitionsgipfel am 10. Mai 2016 hatte die damalige Bundesministerin für Arbeit und Soziales Andrea Nahles gesagt, es sei klar das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit ohne Schlupflöcher verabredet worden (Reuters, 10. Mai 2016).«

So die Vorbemerkung in der Anfrage „Bilanz zwei Jahre nach der Reform der Leiharbeit“ der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen an die Bundesregierung. Und die mit der Bundestags-Drucksache 19/9779 vom 29.04.2019 geantwortet.

Mit der Reform wurde festgelegt, dass Leiharbeiter – eigentlich – nach spätestens neun Monaten den gleichen Lohn erhalten wie die Stammbelegschaft im entleihenden Betrieb und sie maximal 18 Monate durchgängig bei demselben Unternehmen eingesetzt werden dürfen. So sollte auch erreicht werden, dass Leiharbeit ausschließlich dazu genutzt wird, zeitlich begrenzte und kurzzeitige Arbeitsspitzen abzudecken.

Möglicherweise gut gemeint ist bekanntlich noch lange nicht auch gut gemacht. Bereits unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes wurde hier am 6. Oktober 2016 kritisch bilanziert: Ein „kleingehäckseltes“ koalitionsvertragsinduziertes Abarbeitungsgesetz zu Leiharbeit und Werkverträgen. Bereits in dem Beitrag findet man mit Blick auf die Absicht, die Höchstüberlassungsdauer auf 18 Monate zu begrenzen, diesen Hinweis: Aus den ursprünglichen 18 Monaten ist das hier geworden:

18 + (ohne Obergrenze) oder (24)

»Wir bekommen also eine „Obergrenze“ von 18 Monaten. Sogleich folgt allerdings die Umsetzung der (+ x)-Öffnungsklausel, denn in einem Tarifvertrag (der Tarifparteien der Einsatzbranche wohlgemerkt) können abweichenden Regelungen und eine längere Einsatzdauer vereinbart werden. Damit gibt es im Fall der tarifvertraglichen Regelung nach oben keine definierte Grenze bei der Überlassungsdauer. Aber es kommt noch „besser“: Diese Option gilt aber nicht nur für tarifgebundene Unternehmen auf der Entleiher-Seite, denn: Im Geltungsbereich eines Tarifvertrages der Einsatzbranche können auch nicht tarifgebundene Entleiher von der Höchstüberlassungsdauer abweichende tarifvertragliche Regelungen durch Betriebs- oder Dienstvereinbarungen übernehmen. Bei denen wird dann aber eine zweite Höchstüberlassungsdauergrenze eingezogen, die bei 24 Monate liegt.«

Alles klar? Sollte jemand an dieser Stelle irritiert sein, dann kann er sich bestätigt fühlen, denn bereits damals wurde die Irritation so formuliert: »Ist es nicht eigentlich der Sinn tarifvertraglicher Regelungen, dass damit die Arbeitnehmer besser gestellt werden und gerade nicht schlechter? Man muss sich klar machen: Hier wird durch einen Tarifvertrag eine Abweichung ermöglicht, bei dem sich die betroffenen Leiharbeitnehmer schlechter stellen als würde es nur die gesetzliche Begrenzung auf 18 Monate geben.«

Dieses – man ahnt es schon – für die Gewerkschaften unangenehme Thema wurde hier weiter verfolgt, so am 19. April 2017 mit dem Beitrag Wenn die Leiharbeiter in der Leiharbeit per Tarifvertrag eingemauert werden und ein schlechtes Gesetz mit gewerkschaftlicher Hilfe noch schlechter wird. Dort wurde berichtet, dass in der Metall- und Elektroindustrie die IG Metall mit den Arbeitgeberverbänden tarifvertragliche Verlängerungen der eigentlichen Höchstüberlassungsdauer vereinbart hat, die den möglichen Überlassungszeitraum auf vier Jahre ausdehnen. Und auch in anderen Branchen wurde so verfahren.

Der Beitrag Mit Tarifverträgen fahren Arbeitnehmer besser. Das stimmt (nicht immer). Über „tarifdispositive Regelungen“ und ihre Ambivalenz mit erheblicher Schlagseite vom 2. September 2017 hat die Frage aufgeworfen, die sicher viele umtreibt: Warum machen die das eigentlich? Natürlich bewegen wir uns hier im spekulativen Raum, aber man kann es ja mal versuchen zu erklären: » … eine durchaus plausible Vermutung könnte so lauten: Die IG Metall ist wie jede Gewerkschaft eine Mitgliedsorganisation, aber nicht alle Mitglieder sind gleich. Neben dem normalen Mitglied gibt es die Funktionäre, die Gewerkschaftsführung und eben auch besonders einflussreiche Mitglieder, die eine wesentlich größere Bedeutung haben als die normalen Mitglieder. Dazu gehören sicherlich die Betriebsräte der großen Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie, in denen die Industriegewerkschaft quantitativ und qualitativ verankert ist. Und bei den Betriebsräten beispielsweise der deutschen Automobilhersteller ist klar, dass deren Unternehmen die Leiharbeiter als flexible Randbelegschaft fest eingeplant haben, dass sie nicht auf sie verzichten wollen und werden, wenn man sie dazu nicht zwingt. Und das – hier wird es heikel – die schlechteren Bedingungen, unter denen die Leiharbeiter arbeiten müssen, gleichsam eingepreist sind in den wesentlich besseren Bedingungen der Stammbelegschaft, die also von der Randbelegschaft gleichsam „profitiert“.«

Und wie sieht es nun heute, zwei Jahre nach dem Inkrafttreten der Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, aus? Dazu schauen wir in die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Grünen (Bundestagsdrucksache 19/9779). Die Antwort zeigt, dass Tarifverträge die Mindeststandards der Reform aushöhlen, vor allem in Hinblick auf die maximale Verleihdauer.

Laut Antwort der Bundesregierung bestanden im April 2019 insgesamt 109 Tarifverträge, in denen die maximale Dauer der Überlassung an ein Unternehmen auf mehr als 18 Monate ausgeweitet wurde. Die Höchstdauer wurde in den Tarifverträgen auf 24 bis zum Teil sogar 120 Monate ausgeweitet. Die beschäftigten Leiharbeitnehmer könnten also abweichend von den in der Reform vorgesehenen 18 Monaten bis zu zehn Jahre in dem gleichen Betrieb eingesetzt werden.

Und da war doch noch so eine „erhebliche Verbesserung“ der Bedingungen, unter denen Leiharbeiter arbeiten müssen? Genau, „equal pay“ nach den berühmten 9 Monaten. Auch da werfen manche Tarifverträge Knüppel zwischen die Beine, denn nach Angaben der Bundesregierung existieren 27 Tarifverträge, die erst nach spätestens 15 statt 9 Monaten Überlassungsdauer in einem Betrieb die gleichwertige Bezahlung mit den Tarifbeschäftigten vorsehen. »Bei 13 Abschlüssen davon handelt es sich um sog. Firmentarifverträge des Bereiches der sonstigen privaten Dienstleistungen (10), Eisenbahn (2) und Straßenverkehr (1). Die 14 weiteren Tarifverträge sind Verbandstarifverträge aus der Branche Chemie/Kunststoffverarbeitung sowie der Branche sonstige private Dienstleistungen sowie 11 aus der Branche Arbeitnehmerüberlassung (beispielsweise für die Überlassung in die Metall- und Elektroindustrie).« (S. 5).

Ach ja – und das der Vollständigkeit halber auch noch: „Zur Anzahl der tatsächlich von den tariflichen Regelungen erfassten Arbeitskräfte liegen dem Tarifregister des Bundes keine Werte vor“, so die Bundesregierung.