Das Europaparlament und der Ministerrat, das Gremium der Mitgliedstaaten, haben sich auf eine (umstrittene) EU-Richtlinie zu Mindestlöhnen und Tarifbindung geeinigt. »Der CDU-Abgeordnete Dennis Radtke, einer von zwei Verhandlungsführern des Parlaments, sagte in Straßburg, damit „schreiben wir sozialpolitische Geschichte in Europa“«, so Björn Finke in seinem Artikel Brüssel will Gewerkschaften in Deutschland stärken – und anderswo. Die überschwänglich daherkommende Einordnung der neuen Richtlinie durch den Abgeordneten Dennis Radtke muss richtig verstanden werden vor dem Hintergrund, dass – eigentlich – die europäische Ebene wenig Befugnisse in der Sozialpolitik hat. Normalerweise reklamieren die Mitgliedsstaaten dieses Politikfeld für sich und verweigern sich einer wie auch immer gearteten europäischen Regulierung. Und wenn die EU-Ebene dann mal tätig wird, dann gibt es viele Blockierer und man muss mit langen Zeiträumen rechnen (generell dazu die Beiträge zur EU-Sozialpolitik, die in den vergangenen Jahren in diesem Blog veröffentlicht wurden).
Den Entwurf für die neue Richtlinie hat die EU-Kommission bereits im Herbst 2020 vorgelegt. Und in der Zwischenzeit gab es eine Menge Querschüsse aus einzelnen Mitgliedsstaaten, von den üblichen Blockade- und Verwässerungsaktionen der Lobbyisten abgesehen. Und noch sind die lange Zeit nassen Tücher auch noch nicht wirklich trocken, denn die Arbeits- und Sozialminister der Mitgliedstaaten müssen dem gefundenen Kompromiss bei einem Treffen in Luxemburg noch zustimmen.
Um was geht es jetzt genau?
Der Pressemitteilung des Europäischen Parlaments unter der Überschrift Deal reached on new rules for adequate minimum wages in the EU kann man die folgenden vier Kernpunkte entnehmen:
➔ Der Mindestlohn sollte angemessen sein, um einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten
➔ Recht auf Entschädigung für Arbeitnehmer, ihre Vertreter und Gewerkschaftsmitglieder bei Verstößen gegen die Vorschriften
➔ Die EU-Vorschriften müssen die Befugnisse der nationalen Behörden und der Sozialpartner zur Festlegung der Löhne respektieren.
➔ Stärkung der Tarifverhandlungen in Ländern, in denen weniger als 80 % der Arbeitnehmer davon betroffen sind
Die vereinbarte Gesetzgebung soll sicherstellen, dass die Mindestlöhne in allen EU-Ländern einen angemessenen Lebensstandard für Arbeitnehmer garantieren.
Mit der erzielten Einigung haben sich die Verhandlungsführer des Parlaments und des Rates auf EU-Vorschriften zur Festlegung angemessener Mindestlöhne, wie sie im nationalen Recht und/oder in Tarifverträgen vorgesehen sind, verständigt. Die neuen Rechtsvorschriften werden für alle Arbeitnehmer in der EU gelten, die einen Arbeitsvertrag oder ein Arbeitsverhältnis haben. Die EU-Länder, in denen der Mindestlohn ausschließlich durch Tarifverträge geschützt ist, sind nicht verpflichtet, ihn einzuführen oder diese Verträge allgemeinverbindlich zu machen.
➔ Um den letzten Punkt zu verstehen, muss man wissen: In der EU gibt es in 21 von 27 Ländern einen gesetzlichen Mindestlohn, während in den anderen sechs Ländern (Österreich, Zypern, Dänemark, Finnland, Italien und Schweden) die Lohnhöhe durch Tarifverhandlungen festgelegt wird. Die in Euro ausgedrückten monatlichen Mindestlöhne sind in der EU sehr unterschiedlich und reichen von 332 Euro in Bulgarien bis 2.202 Euro in Luxemburg. Die Daten beziehen sich auf 2021.
Der dänische Minister Peter Hummelgaard Thomsen kündigt aber bereits Widerstand gegen die Richtlinie an, wie Björn Finke berichtet: „Die Regierung hat sich von Anfang an gewehrt, und wir bleiben weiterhin bei einem klaren Nein“, schrieb er auf Twitter. Ähnlich äußerte sich Schwedens Regierung. Die Nordeuropäer sehen eine Einmischung Brüssels in die Lohnpolitik sehr kritisch. Im Ministerrat ist allerdings keine Einstimmigkeit nötig, insofern dürfte die EU-Richtlinie trotzdem im Herbst in Kraft treten können. Die Mitgliedstaaten hätten dann zwei Jahre Zeit, um das Regelwerk in nationales Recht umzusetzen.
Im Kernbereich der neuen Richtlinie den Mindestlohn betreffend, stehen „angemessene Löhne“. Aber wann sind die Löhne „angemessen“ – vor allem mit Blick auf eine EU, die sich aus volkswirtschaftlich und die Lebenslagen der Menschen betreffend sehr heterogenen Mitgliedstaaten zusammensetzt? In Luxemburg können und müssen wir von einer anderen Angemessenheit ausgehen als in Bulgarien. Dazu berichtet das Europäische Parlament:
»Gemäß der Vereinbarung müssen die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre bestehenden gesetzlichen Mindestlöhne (d. h. die niedrigsten gesetzlich zulässigen Löhne) angemessen sind, um einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten, wobei ihre eigenen sozioökonomischen Bedingungen, die Kaufkraft oder die langfristigen nationalen Produktivitätsniveaus und -entwicklungen berücksichtigt werden.
Für die Beurteilung der Angemessenheit können die EU-Länder einen Korb von Waren und Dienstleistungen zu realen Preisen festlegen. Die Mitgliedstaaten können auch international gebräuchliche indikative Referenzwerte wie 60 % des Bruttomedianlohns und 50 % des Bruttodurchschnittslohns anwenden.
Abzüge vom oder Abweichungen vom Mindestlohn müssen diskriminierungsfrei und verhältnismäßig sein und ein legitimes Ziel verfolgen, wie z. B. die Wiedereinziehung zu hoch gezahlter Beträge oder von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde angeordnete Abzüge.«
Aber selbst ein „angemessener“ Mindestlohn auf dem Papier bedeutet bekanntlich nicht, dass alle betroffenen Arbeitnehmer diesen dann auch tatsächlich bekommen. Gerade wurde in Deutschland die versprochene Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro brutto pro Stunde ab dem 1. Oktober 2022 im Bundestag beschlossen – der kommt also, aber kommt er wirklich umstandslos für alle? Zweifel sind angebracht. Dazu Daniela Diehl unter der desillusionierenden Überschrift Die Illusion vom Mindestlohn: »Der Mindestlohn steigt. Was wirklich im Geldbeutel der Arbeitnehmer landet, liegt oft weit darunter. Fachleute fordern deshalb mehr Kontrollen und eine bessere Arbeitszeiterfassung.«
Man kann dem EU-Parlament und der Kommission nicht vorwerfen, dass sie das hier angesprochene Problem nicht erkennen:
Unter der Überschrift „Monitoring and right to redress“ wird ausgeführt:
»Der vereinbarte Text verpflichtet die EU-Länder, ein Durchsetzungssystem einzurichten, das zuverlässige Überwachung, Kontrollen und Vor-Ort-Inspektionen umfasst, um die Einhaltung der Vorschriften zu gewährleisten und gegen missbräuchliche Unteraufträge, Scheinselbständigkeit, nicht erfasste Überstunden oder erhöhte Arbeitsintensität vorzugehen.
Die nationalen Behörden müssen den Arbeitnehmern, deren Rechte verletzt wurden, das Recht auf Wiedergutmachung garantieren. Die Behörden müssen auch die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer und der Gewerkschaftsvertreter ergreifen.«
Summa summarum wird bei einer Gesamtbetrachtung die eingangs in diesem Beitrag zitierte Einschätzung des Europa-Abgeordneten Dennis Radtke, mit der Richtlinie „schreiben wir sozialpolitische Geschichte in Europa“ verständlicher, denn man muss ihn schon vollständig zitieren, er hat angefügt: »For the first time, EU legislation will contribute directly to ensuring that workers are getting fairer, better pay checks.«
Und da ist dann noch diese Tarifbindung für die große Mehrheit (als Zielgröße)
Bei aller Fokussierung gerade auch in Deutschland auf den gesetzlichen Mindestlohn sowie den Jubelgesängen, die auf die nun beschlossene Umsetzung der Anhebung auf 12 Euro pro Stunde ab Oktober 2022 gerade bei den Gewerkschaften zu lesen und hören ist – man muss schon darauf hinweisen, dass das wenn, dann eher ein Armutszeugnis dergestalt ist, dass es den Tarifparteien offensichtlich nicht mehr gelingt, in den Kelleretagen des Arbeitsmarktes für ihre eigene Ordnung zu sorgen. In den skandinavischen Ländern übrigens, die jetzt gegen die Mindestlohn-Richtlinie der EU-Ebene Widerstand leisten, wird genau das (noch) durch eine ausgesprochen hohe Tarifbindung erreicht, von der Arbeitnehmer in anderen Ländern nur träumen können. Auch Deutschland gehört dazu. Denn hier ist die Tarifbindung der Beschäftigten (und der Betriebe) seit Mitte der 1990er Jahre ganz erheblich gesunken. Vgl. dazu nur aus der regelmäßigen Berichterstattung in diesem Blog den Beitrag Fortgeschriebene Schwindsucht: Die Tarifbindung in Deutschland nimmt weiter ab und die Kernzone des dualen Systems mit Betriebsrat und Tarifvertrag schrumpft vom 20. Mai 2022. Mitte der 90er Jahre waren in Westdeutschland noch 70 Prozent der Beschäftigten Unternehmen beschäftigt, die der Tarifbindung unterlagen – im Jahr 2020 ist dieser Anteil auf 45 Prozent gesunken (40 Prozent, wenn man nur die Privatwirtschaft betrachtet), in Ostdeutschland waren es sogar nur noch 32 Prozent (bzw. 24 Prozent in der Privatwirtschaft).
Das ist ganz weit weg von dem, was man als Schwellenwert in der neuen EU-Richtlinie findet. Und vor dem Hintergrund dieser deutschen Zahlen wird mehr als deutlich erkennbar, dass da einiges auf die Politik in Deutschland zukommt, wenn man sich anschaut, was in der neuen Richtlinie der EU als Zielgröße bzw. als Schwellenwert vorgegeben wird, von dem wir in Deutschland noch ganz weit weg sind. Unter der Überschrift „Kollektivverhandlungen“ erfahren wir hierzu vom Europäischen Parlament:
»Die EU-Verhandlungsführer haben sich darauf geeinigt, dass die EU-Länder die sektoralen und branchenübergreifenden Tarifverhandlungen als wesentlichen Faktor für den Schutz der Arbeitnehmer durch die Gewährung eines Mindestlohns stärken müssen. Die Mitgliedstaaten, in denen weniger als 80 % der Beschäftigten durch einen Tarifvertrag geschützt sind, müssen einen Aktionsplan aufstellen, um diesen Anteil schrittweise zu erhöhen. Um die beste Strategie für diesen Zweck zu entwickeln, sollten sie die Sozialpartner einbeziehen, die Kommission über die beschlossenen Maßnahmen informieren und den Plan veröffentlichen.«
Der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) wird also einen Plan erstellen müssen, wie wir in den kommenden Jahren auf Tarifbindungsanteile von 80 Prozent kommen können. Die EU-Kommission argumentiert, dass Tarifverträge ein gutes Mittel sind, angemessene Löhne für Geringverdiener zu garantieren. Daher sollten die Regierungen eine Tarifbindung von mindestens 70 Prozent anstreben, hieß es im ursprünglichen Gesetzentwurf der Brüsseler Behörde, der im Oktober 2020 veröffentlicht wurde. Das Europaparlament wollte diesen Wert sogar auf 80 Prozent erhöhen – und hat sich damit nun auch durchgesetzt.