Fortgeschriebene Schwindsucht: Die Tarifbindung in Deutschland nimmt weiter ab und die Kernzone des dualen Systems mit Betriebsrat und Tarifvertrag schrumpft

„Der rückläufige Trend in der Branchentarifbindung setzt sich damit fort“, so bringt Susanne Kohaut vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit die neuesten Zahlen – Tarifbindung nimmt in Deutschland weiter ab – auf den Punkt: »Im Jahr 2020 arbeiteten 43 Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit Branchentarifvertrag. Die Tarifbindung ist dabei im Westen deutlich höher als im Osten. Rund 45 Prozent der westdeutschen und 32 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten arbeiteten in einem Betrieb, in dem ein Branchentarifvertrag galt. 2019 galt das noch für 46, beziehungsweise 34 Prozent. Das zeigen Daten des IAB-Betriebspanels, einer jährlichen Befragung von rund 16.000 Betrieben durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).«

Betrachtet man die Entwicklung der Tarifbindung in West- und Ostdeutschland seit Mitte der 1990er Jahre, dann ist der Befund eindeutig: Es geht abwärts:

Mitte der 90er Jahre waren in Westdeutschland noch 70 Prozent der Beschäftigten Unternehmen beschäftigt, die der Tarifbindung unterlagen – im vergangenen Jahr 2020 ist dieser Anteil auf 45 Prozent gesunken (40 Prozent, wenn man nur die Privatwirtschaft betrachtet), in Ostdeutschland waren es sogar nur noch 32 Prozent (bzw. 24 Prozent in der Privatwirtschaft).

Die bislang präsentierten Durchschnittszahlen verdecken die teilweise erheblichen Unterschiede zwischen einzelnen Wirtschaftszweigen – so haben wir im Bereich öffentlicher Dienst und Sozialversicherung eine vollständige Tarifbindung, in anderen Branchen sieht das ganz anders aus. Das Ausmaß an Tariflosigkeit in manchen Branchen wird an den folgenden Zahlen mehr als deutlich:

Sowohl der Anteil der Betriebe mit einem Branchentarifvertrag wie auch umgekehrt der Anteil der Unternehmen, in denen keine Tarifverträge zur Anwendung kommen, ist stark korreliert mit der Betriebsgröße:

Von den Kleinunternehmen mit weniger als 10 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten fallen in Westdeutschland lediglich 21 Prozent, im Osten sogar nur 12 Prozent unter einen Tarifvertrag, während es bei den Großunternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten im Westen 68 Prozent und im Osten 49 Prozent waren. Hinzu kommen gerade bei den Großunternehmen im Westen 16 Prozent und in Ostdeutschland sogar 23 Prozent der Betriebe, in denen ein Haus-/Firmentarifvertrag existiert, diese spielen bei den kleineren Unternehmen so gut wie keine Rolle.

Und nicht überraschend ist der Befund, dass die Betriebsgröße auch einen Einfluss hat bei dem Ausmaß der betrieblichen Mitbestimmung über Betriebsräte. Je größer die Unternehmen, desto häufiger gibt es auch Betriebsräte und je kleiner, desto seltener. Besonders interessant ist hier der Blick auf die zeitliche Entwicklung seit Mitte der 1990er Jahre:

Während die Anteilswerte „oben“ und „unten“ über die Jahre relativ konstant geblieben sind, erkennt man bei den mittelständischen Unternehmen eine erhebliche Erosion der Anteilswerte: Mitte der 1990er Jahre gab es noch in 70 Prozent dieser Unternehmen einen Betriebsrat, 2020 war das nur noch in der Hälfte der Betriebe der Fall. Interessant ist hier aber am aktuellen Rand, dass es zumindest in Ostdeutschland seit 2017 eine leichte Aufwärtsbewegung gegeben hat. Dazu berichtet das IAB: »Auf Betriebsebene werden die Interessen der Beschäftigten vielfach durch Betriebsräte vertreten. Im Jahr 2020 waren in Ostdeutschland 36 Prozent der Beschäftigten durch einen Betriebsrat vertreten, in Westdeutschland traf dies auf 40 Prozent zu. In den letzten Jahren hat sich der langjährige Rückstand Ostdeutschlands bei der betrieblichen Mitbestimmung verringert. Diese Annäherung beruht auf einer rückläufigen Reichweite im Westen und einer Zunahme im Osten. Lag 2016 der Anteil der Beschäftigten in Betrieben mit Betriebsrat im Westen noch 9 Prozentpunkte über der im Osten, betrug der Abstand 2020 4 Prozentpunkte.«

Und Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland muss man auch feststellen bei einem Blick auf die Kernzone des für Deutschland so bedeutsamen dualen Systems der Interessenvertretung – also Betriebsräte (bzw. Personalräte) für die betriebliche Mitbestimmung und Tarifverträge durch Gewerkschaften. Hinsichtlich der beiden Säulen gibt es unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten. Im vergangenen Jahr hat sich die Verteilung folgendermaßen dargestellt:

In Westdeutschland befinden sich bereits über 40 Prozent und in Ostdeutschland sogar jeder zweite Beschäftigte im tarif- und mitbestimmungsfreien Gelände, die Kernzone des dualen Modells mit Betriebsrat und Tarifbindung ist bezogen auf den Anteil der Beschäftigten, die dort ihrer Arbeit nachgehen können, auf 24 Prozent im Westen und sogar nur noch 14 Prozent geschrumpft.

Der Schrumpfungsprozess der Kernzone des dualen Systems und die parallele Expansion der tariflosen und mitbestimmungsfreien Unternehmenswelt kann man an dieser vielleicht bedeutsamsten Abbildung über die Jahre seit Mitte der 1990er erkennen – sie muss nicht weiter kommentiert werden: