Eine Gefahr für Gefälligkeitstarifverträge weniger? Nach acht langen Jahren bestätigt das Bundesarbeitsgericht die Nicht-Tariffähigkeit der „DHV – Die Berufsgewerkschaft“

DHV – dieses Kürzel steht hier nicht für den Deutschen Hochschulverband oder gar für den Deutschen Hanfverband, zwei seriöse Verbände mit der gleichen Buchstabenfolge, sondern für DHV – Die Berufsgewerkschaft. »DHV – Die Berufsgewerkschaft e.V. vertritt die gewerkschaftlichen und berufspolitischen Interessen von etwa 73.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Sie steht in der Tradition der christlichen Angestelltengewerkschaftsbewegung. Auch heute lässt sie sich in ihrem Handeln von den Grundprinzipien der christlichen Soziallehre, der Solidarität, Subsidiarität und des Pluralismus leiten.« Die DHV ist Mitglied im Christlichen Gewerkschaftsbund Deutschlands und dem internationalen Zusammenschluss christlicher Gewerkschaften WOW. So steht das noch auf der Website dieser „Gewerkschaft“. Die DHV ist Mitglied im Christlichen Gewerkschaftsbund (CGB)? Was kann man denn gegen die haben? Jeder, der sich mit Gewerkschaften ein wenig auskennt, weiß, dass das seriöser daherkommt, als es ist. Man denke nur an die mehr als unrühmliche Rolle, die CGB-„Gewerkschaften“ beim Abschluss von Dumping-„Tarifverträgen“ in der Leiharbeit gespielt haben.

Aber das mit der „Gewerkschaft“ hat sich wohl erledigt: Keine Tariffähigkeit der DHV – Die Berufsgewerkschaft e.V., so ist eine Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts vom 22.06.2021 überschrieben und die bezieht sich dabei auf Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 22. Juni 2021 – 1 ABR 28/20. Was ist passiert?

»Tarifverträge kann nur eine tariffähige Arbeitnehmervereinigung schließen. Das setzt voraus, dass die Vereinigung über eine Durchsetzungskraft gegenüber der Arbeitgeberseite und eine hinreichende organisatorische Leistungsfähigkeit in einem zumindest nicht unbedeutenden Teil des beanspruchten Zuständigkeitsbereichs verfügt. Diese soziale Mächtigkeit wird regelmäßig durch die Zahl der organisierten Arbeitnehmer vermittelt.«

Das leuchtet erst einmal ein, denn ansonsten besteht die Gefahr, dass eine nicht-mächtige „Gewerkschaft“ benutzt oder gar bewusst ins kleinteilige Leben gerufen wird, um mit ihr Abschlüsse zu machen, die eher oder überwiegend den Interessen des Arbeitgebers dienen oder diese bedienen sollen.

Auf der anderen Seite kann man durchaus Argumente vortragen, dass nicht vorschnell einer (anfangs?) kleinen Gewerkschaft die Luft zum Atmen genommen wird, so dass sie gar keine Chance hat, beispielsweise durch eine innovative oder basisorientierte Arbeit sukzessive an Mitgliedern und damit auch an der geforderten Mächtigkeit zu gewinnen. Einige werden sich an dieser Stelle erinnert fühlen an die Auseinandersetzungen um das höchst umstrittene Tarifeinheitsgesetz, andere mit einer gewissen Skepsis auf die Monopolisierung gewerkschaftlicher Arbeit unter dem Dach der DGB-Gewerkschaften.

Aber im vorliegenden Fall geht es wahrlich nicht um eine innovative Neugründung, bei der man einen wie auch immer konkretisierten Welpenschutz ins Feld führen kann. In den Worten des Bundesarbeitsgerichts und mit Blick auf die hier zur Disposition gestellte DHV:

»Die im Jahr 1950 als Gewerkschaft der Kaufmannsgehilfen neu gegründete DHV verstand sich nach ihrer 1972 geltenden Satzung als eine Gewerkschaft der Angestellten im Handel, in der Industrie und dem privaten und öffentlichen Dienstleistungsbereich; seit 2002 als eine Gewerkschaft der Arbeitnehmer in Bereichen, die durch kaufmännische und verwaltende Berufe geprägt sind. Nach mehreren weiteren Änderungen des Organisationsbereichs erstreckt sich ihre Tarifzuständigkeit auf der Grundlage einer im November 2014 beschlossenen Satzung nunmehr auf Arbeitnehmer in unterschiedlichsten Bereichen, so ua. private Banken und Bausparkassen, Versicherungsgewerbe, Einzel- und Binnengroßhandel, Krankenhäuser in privatrechtlicher Rechtsform, Rettungsdienste, Deutsches Rotes Kreuz, Fleischwarenindustrie, Reiseveranstalter, Textilreinigung, Einrichtungen der privaten Alten- und Behindertenpflege sowie IT-Dienstleistungsunternehmen für Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte. Die DHV verfügt – nach eigenem Bekunden – über 66.826 Mitglieder, die in ihrem satzungsmäßigen Zuständigkeitsbereich beschäftigt sind. Dieser erfasst nach Angaben der DHV um die 6,3 Mio. Arbeitnehmer, was einem Gesamtorganisationsgrad von etwa einem Prozent entspricht. In den einzelnen Zuständigkeitsbereichen schwankt ihr Organisationsgrad zwischen ungefähr 0,3 % (kaufmännische und verwaltende Berufe bei kommunalen Arbeitgebern) und 2,4 % (Versicherungsgewerbe).«

Allein die Aufzählung der Branchen, in denen die als eine Gewerkschaft der „Kaufmannsgehilfen“ gestartete und unter dem Dach der Christlichen Gewerkschaften segelnde DHV (angeblich) zu agieren gedenkt, macht nicht nur den grundsätzlichen, sondern auch den von aktuellen Themen getriebenen Beobachter unruhig. Denn wenn nach deren Selbstverständnis beispielsweise auch „Einrichtungen der privaten Alten- und Behindertenpflege“ als Objekt des angeblichen Wirkens ausgewiesen werden, dann kann man gerade vor dem Hintergrund der aktuell im Kontext der sogenannten „Pflegereform“ behaupteten verbindlichen Herbeiführung einer Tarifbindung der Betreiber von Pflegeeinrichtungen und Pflegediensten begründet schwer ins Grübeln kommen (vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Stückwerk, weit unter den Erwartungen, laute Kritik, das grenzt an Betrug. Eine eindeutige Bewertung dessen, was als „Pflegereform“ durch das Parlament bugsiert wird vom 9. Juni 2021. Dort wird hinsichtlich des Versprechens der Bundesregierung, ab dem kommenden Jahr würde in der Altenpflege-Branche eine Tarifbindung hergestellt, kritisch die Gewerkschaft ver.di zitiert: »Konkret sieht Ver.di in der Definition der zulässigen maßgeblichen Tarifverträge ein Schlupfloch für die Arbeitgeber. Gerade privatwirtschaftliche Träger sind bislang nur in den seltensten Fällen tarifgebunden. Der vom Kabinett beschlossene Gesetzentwurf sieht vor, dass sie sich künftig nach irgendeinem in ihrer Region gültigen Tarifvertrag richten müssen – oder anders ausgedrückt: Sie können sich künftig aussuchen, welche Tariflöhne in ihrer Region für sie gelten. In den meisten Fällen ist mit Region das betreffende Bundesland gemeint. „Alle Anbieter in Ihrem Bundesland haben dann die Möglichkeit, einen einzelnen, sehr niedrigen Tarifvertrag“ auszuwählen, auch wenn dieser Tarifvertrag „nur für eine Handvoll Beschäftigte galt und somit keine Relevanz hatte“, warnt Ver.di die Abgeordneten. Die Folge wäre eine Zementierung des bisherigen niedrigen Lohnniveaus. Zudem bestehe die Gefahr von „Gefälligkeitstarifverträgen“, die Arbeitgeber mit ihnen hörigen Kleinstgewerkschaften schließen könnten.«

Die DHV hätte hier eine hilfreiche Funktionalität für die vielen, eher kleinteilig strukturierten Pflege-Anbieter entfalten können – wenn nicht dieses Bundesarbeitsgericht gewesen wäre:

»In einem ua. von den Gewerkschaften IG Metall, ver.di und NGG eingeleiteten Beschlussverfahren haben diese die … Feststellung begehrt, dass die DHV nicht tariffähig ist«, berichtet das Bundesarbeitsgericht.

»Das Arbeitsgericht hat dem Antrag stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat ihn abgewiesen. Nach Aufhebung dieser Entscheidung durch das Bundesarbeitsgericht mit Beschluss vom 26. Juni 2018 und Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht … hat dieses festgestellt, dass die DHV auf der Grundlage ihrer letzten Satzung seit dem 21. April 2015 nicht tariffähig ist. Die hiergegen erhobene Rechtsbeschwerde der DHV hatte vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg.«

Und warum nicht?

»Wie die gebotene Gesamtwürdigung ergibt, kann selbst bei Zugrundelegung der Angaben der DHV nicht prognostiziert werden, dass diese in ihrem eigenständig bestimmten Zuständigkeitsbereich über die notwendige mitgliedervermittelte Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den sozialen Gegenspielern verfügt.«

Die DHV ist sozusagen Opfer ihrer bisherigen Strategie der Expansionsversuche geworden, denn: Der DHV hatte im Laufe der letzten Jahre mehrfach seine Satzung verändert, um seine Tarifzuständigkeit auszuweiten. Damit konnten die Tarifverträge, die im Rahmen der früheren Tarifzuständigkeit abgeschlossen wurden, keine Indizwirkung für die Mächtigkeit mehr entfalten.

Natürlich haben sich auch die „offiziellen“ Gewerkschaften sofort zu Wort gemeldet: Gewerkschaften begrüßen Entscheidung des BAG: DHV ist nicht tariffähig, so ist beispielsweise die Pressemitteilung der Gewerkschaft ver.di zu der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts überschrieben. Und offensichtlich wird dem seitens der DGB-Gewerkschaften insgesamt eine ziemlich große Bedeutung zugeschrieben, wie man schon der Aufzählung derjenigen, die sich befriedigt zeigen angesichts der nun endlich getroffenen Entscheidung des BAG, entnehmen kann: »Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), die IG Metall, die Gewerkschaft NGG und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) begrüßen die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom heutigen Tage, mit der die Tarifunfähigkeit des DHV („DHV – Die Berufsgewerkschaft e.V.“) nach fast acht Jahren Verfahrensdauer rechtskräftig festgestellt wird. DHV kann damit keine Tarifverträge mehr wirksam abschließen.« Die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Andrea Kocsis wird mit Begriff der „Scheingewerkschaften“ zitiert, Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender der IG Metall, weist darauf hin: „Tarifverträge … zu unterbieten, bedeutet den Beschäftigten Geld vorzuenthalten“ und der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG), Freddy Adjan, bringt es auf den Punkt: „Dieses Urteil ist ein wichtiger Meilenstein, auch auf dem Weg zu guten Arbeitsbedingungen in der Fleischwirtschaft. Es entzieht Gefälligkeitstarifverträgen den Boden.“

Über die DHV ist in der Vergangenheit auch hier schon in hoch problematischen Kontexten berichtet worden, beispielsweise im Jahr 2018 bei den Versuchen der damaligen Metro-Tochter Real, aus der Tarifbindung auszubrechen. Vgl. dazu den Beitrag Reale Tarifflucht im Einzelhandel, der Protest dagegen sowie ein Blick auf „unkonventionelle“ Arbeitgeberverbände und „gelbe“ Gewerkschaften vom 16. Juli 2018.

Aber das scheint nun Geschichte zu sein. Es wird hier noch vorsichtig von „scheint“ geschrieben, weil es über den Bundesarbeitsrichtern noch höhere Sphären gibt, auf die dann die nun ausgeknockte „Gewerkschaft“ in ihrer Reaktion auf die BAG-Entscheidung auch hinweist: BAG schwächt den gewerkschaftlichen Pluralismus der Bundesrepublik und entwertet das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit – DHV prüft die Einlegung der Verfassungsbeschwerde und erforderlichenfalls den Gang vor den EuGH!, so ist die Pressemitteilung überschrieben. Und selbst die untergegangene DDR wird in diesem Kontext semantisch wiederbelebt: »Die DHV prüft die Einlegung der Verfassungsbeschwerde und erforderlichenfalls den Gang vor den EuGH! Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts beraubt nicht nur der Organisation DHV ihre Tariffähigkeit, womit in nicht gerechtfertigter Weise in ihr nach Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz verliehenes Grundrecht auf Betätigung als Arbeitnehmerkoalition eingegriffen wird … Ein Mitglied der DHV wird nach Veröffentlichung der Entscheidung mit den Worten zitiert: „Nun sind wir einen großen Schritt weiter auf dem Weg hin zu einem neuen FDGB (ehemals DDR-Gewerkschaftsbund) in Deutschland!“«