Stückwerk, weit unter den Erwartungen, laute Kritik, das grenzt an Betrug. Eine eindeutige Bewertung dessen, was als „Pflegereform“ durch das Parlament bugsiert wird

Die »Betrachtung der Kernelemente der sogenannten „Pflegereform“ zeigt mehr als deutlich: Das ist gesetzgeberische Flickschusterei und im Ergebnis werden wir mit Luftbuchungen abgespeist, hinter der sich eine ausgewachsene Rosstäuscherei verbirgt. Bezahlen werden müssen das wieder einmal Dritte.« So mein Fazit in dem Beitrag Kurz vor dem „Nichts geht mehr“: Die „Pflegereform“ auf der Zielgeraden. Anmerkungen zu einem Etikettenschwindel mit Luftbuchungen inmitten von Flickschusterei, der hier am 4. Juni 2021 veröffentlicht wurde. Auch andere teilen diese nicht einmal in molekularer Größenordnung schmeichelhafte Bewertung dessen, was die in den letzten Zügen liegende „Große Koalition“ im Kontext eines Entwurfs für das „Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung“ (Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz – GVWG), angereichert mit zahlreichen Änderungsanträgen der Regierungsfraktionen, mit denen die pflegerelevanten Veränderungen in das schon in gesetzgeberischer Behandlung befindliche GVWG implantiert worden sind. Die versprochene finanzielle Entlastung für Heimbewohner ist eine Mogelpackung, so Rainer Woratschka in seiner Kommentierung unter der Überschrift Spahns Reform gaukelt Entlastung nur vor. »Was die Heimbewohner und ihre Angehörigen jetzt schnell noch mit großem Bohei überreicht bekommen, ist wie ein Geschenk, das man selbst bezahlen soll.«

»Es entstehe der Eindruck, dass diese Reform nicht in erster Linie den Pflegekräften und Pflegebedürftigen gelte, sondern vor allem gesichtswahrend für die Bundesregierung sein solle«, so Ann-Kathrin Jeske in ihrem Kommentar Eine Reform, die diesen Namen nicht verdient. Und andere gehen in ihrer Bewertung noch weiter, wie man dieser Meldung entnehmen kann: VdK-Präsidentin Bentele: „Pflegereform grenzt an Betrug“. Und was sagt der zuständige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU)?

Der wird mit diesen Worten zitiert:

„Das ist jetzt ein Pflegepaket, das, ja, nicht alle Probleme löst, aber doch zwei entscheidende Probleme angeht: eine regelhaft bessere Bezahlung in der Altenpflege für alle Pflegekräfte, die dort nicht nur in der Pandemie, sondern auch vorher schon jeden Tag Großartiges, Wichtiges leisten, und gleichzeitig keine Überforderung, Überlastung von Pflegebedürftigen vor allem bei längerer Pflegebedürftigkeit.“ Und er appelliert dann vor dem Hintergrund, was derzeit aus dem Auditorium an Buh-Rufen kommt: „Ich würde mir wünschen, dass wir in den Debatten in Deutschland gerade bei diesen Themen mal alle ein bisschen runterfahren und genau schauen, was passiert.“

Ob nun bewusst oder unbewusst – der Minister hat selbst eine zutreffende Charakterisierung dessen gegeben, was im Mittelpunkt der reichlich „abgespeckten“ Pflegereform am Ende der Legislaturperiode steht bzw. was seitens der Bundesregierung hervorgehoben wird: Eine (finanzielle) Überforderung der Pflegebedürftigen (beim Eigenanteil für die Pflegekosten) soll verhindert werden (das Ministerium behauptet sogar, es würde eine „Entlastung“ geben) und zugleich eine „regelhaft bessere Bezahlung in der Altenpflege für alle Pflegekräfte“. Das wolle man mit dem „Pflegepaket“ zwar nicht lösen, aber „angehen“. Da kann es dann aber schon mal passieren, dass man Probleme angeht, aber ins Leere läuft (bzw. laufen muss).

Dass die dann auch noch im Vergleich zum ersten Arbeitsentwurf einer Pflegereform aus dem vergangenen Jahr kleingeschredderte und zeitlich gestreckte Bezuschussung des Eigenanteils für die pflegebedingten Kosten bei stationärer Unterbringung der Pflegebedürftigen eine Luftbuchung ist, nicht nur wegen der bescheidenen Größenordnung und der für viele Betroffene zu spät einsetzenden Entlastung, sondern auch, weil gleichzeitig an anderer Stelle steigende Zuzahlungen generiert werden, wenn die Pflegekräfte tatsächlich besser bezahlt werden sollten, da das im bestehenden System zu 100 Prozent von den Bewohnern der Pflegeheime gegenfinanziert werden muss, hat sich schnell herumgesprochen.

Aber auch die in Aussicht gestellte bessere Vergütung der Pflegekräfte in der Langzeitpflege aufgrund der Einführung einer Tarifbindung durch die Hintertür muss mit einem sehr großen Fragezeichen versehen werden. Bereits am 4. Juni wurde hier nach einer detaillierten Analyse der über die Änderungsanträge zum GVWG transportierten Vergütungsregeleungen bilanziert: »Wenn jetzt wie selbstverständlich davon gesprochen (und an vielen Stellen dem Textbaustein aus der Politik folgend abgeschrieben wird), dass viele Pflegekräfte mit 300 Euro im Monat mehr werden rechnen können, dann ist das gelinde gesagt eine Botschaft der Hoffnung mit einem großen Enttäuschungspotenzial.« Und die erheblichen Risiken eines Scheiterns selbst der überschaubaren monetären Verbesserungen für einen Teil der Pflegekräfte werden auch von anderen gesehen und geteilt: »Der Brandbrief ging an fast alle Bundestagsabgeordneten: Ver.di fordert Nachbesserungen an der Pflegereform – sonst könnten Dumping-Tarifverträge die bessere Bezahlung von Fachkräften unterlaufen«, so Florian Diekmann unter der Überschrift Ver.di warnt Abgeordnete vor Schlupflöchern bei Pflegereform. »Konkret sieht Ver.di in der Definition der zulässigen maßgeblichen Tarifverträge ein Schlupfloch für die Arbeitgeber. Gerade privatwirtschaftliche Träger sind bislang nur in den seltensten Fällen tarifgebunden. Der vom Kabinett beschlossene Gesetzentwurf sieht vor, dass sie sich künftig nach irgendeinem in ihrer Region gültigen Tarifvertrag richten müssen – oder anders ausgedrückt: Sie können sich künftig aussuchen, welche Tariflöhne in ihrer Region für sie gelten. In den meisten Fällen ist mit Region das betreffende Bundesland gemeint. „Alle Anbieter in Ihrem Bundesland haben dann die Möglichkeit, einen einzelnen, sehr niedrigen Tarifvertrag“ auszuwählen, auch wenn dieser Tarifvertrag „nur für eine Handvoll Beschäftigte galt und somit keine Relevanz hatte“, warnt Ver.di die Abgeordneten. Die Folge wäre eine Zementierung des bisherigen niedrigen Lohnniveaus. Zudem bestehe die Gefahr von „Gefälligkeitstarifverträgen“, die Arbeitgeber mit ihnen hörigen Kleinstgewerkschaften schließen könnten. Der Gesetzentwurf sehe keinen Mechanismus vor, das zu verhindern, schreiben die Gewerkschafter, sondern setze „sogar noch Anreize für solch fatale Koalitionen“. In der Folge könnten auch andere Arbeitgeber sich nach diesen Dumping-Tarifverträgen richten, was das regionale Lohnniveau sogar noch weiter nach unten ziehen könnte.« Die Gewerkschaft formuliert in dem Brandbrief aber auch einen möglichen Lösungsvorschlag: »Die Gewerkschaft fordert …, dass nicht tarifgebundene Arbeitgeber sich künftig nicht an irgendeinen beliebigen Tarifvertrag, sondern an die durchschnittliche Entlohnung aller Tarifverträge in der Region halten müssen.«

Auch eine Anhörung im Bundestag bestätigt weitgehend die desaströse Bewertung der letzten pflegepolitischen Zuckungen der GroKo

Am 7. Juni 2021 fand eine Anhörung des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages zu den Änderungsanträgen von CDU/CSU und SPD zum Entwurf für das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung sowie zu Anträgen der Linken und der Grünen statt. Über diese Anhörung berichtet der Bundestag:

»Der GKV-Spitzenverband erklärte, die Reform der sozialen Pflegeversicherung sei eine der am drängendsten sozial- und gesellschaftspolitischen Aufgaben. Allerdings seien die jetzt geplanten Änderungen nicht ausreichend, die Finanzierung nicht nachhaltig. Die nächste Bundesregierung werde eine Reformbaustelle gewaltigen Ausmaßes erben. Mit den jetzt vorgesehenen Regelungen werde sich die kritische Finanzlage weiter zuspitzen und voraussichtlich schon 2022 zu einer Beitragssatzerhöhung führen. In der Pflegeversicherung müsse 2022 mit einem Defizit von mehr als zwei Milliarden Euro gerechnet werden.« Und die Problematisieren der Finanzseite wird weiter getrieben: »Das Pflegepaket sei insgesamt nicht ausreichend gegenfinanziert, ein Teil der Gegenfinanzierung basiere aus dem Verzicht auf die Dynamisierung der Leistungsbeträge. Für 2021 werde der Bedarf für einen Bundeszuschuss bei mehr als drei Milliarden Euro gesehen, um höhere Beiträge 2022 zu vermeiden.«

Auch der Sozialverband VdK hat sich kritisch zu den finanziellen Ungleichgewichten geäußert: »Durch die mangelnde Gegenfinanzierung landeten die Kosten am Ende bei den Pflegebedürftigen. Für die soziale Pflegeversicherung fielen 2022 mit der Reform 3,14 Milliarden Euro Mehrkosten an, für 2023 bereits 3,66 Milliarden Euro. Auf der Einnahmeseite stünden eine Milliarde Bundeszuschuss und 0,4 Milliarden Euro aus dem Zuschlag für Kinderlose.« Und der VdK legt den Finger auf eine alte bekannte Wunde – den rechenschiebertechnisch ausgefeilten „Gestaltungen“ auf der Seite des Gesetzgebers: »Zusätzlich werde mit Einsparungen in Milliardenhöhe durch die Aussetzung der Leistungsdynamisierung getrickst, monierte der VdK. Die Gesamtkosten des Pflegepakets lägen geschätzt bei sechs Milliarden Euro, nur 1,4 Milliarden Euro seien solide gegenfinanziert, 1,8 Milliarden Euro stammten aus einer Umwidmung verplanter Gelder.«

Auch dem Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) geht es ums Geld, allerdings mit einer ganz eigenen Perspektive: Die Arbeitgebervertreter wandten sich entschieden gegen die Koppelung der Versorgungsverträge für Pflegeeinrichtungen an eine tarifliche Entlohnung. Der bpa spricht „von einer willkürlichen Regelung und warnte vor einer existenziellen Gefährdung der Betriebe“. Und weiter erfahren wir: »Der Verband unterstütze höhere Löhne für Pflegekräfte, dazu brauche es aber keinen Tariflohnzwang, sondern eine gesicherte Refinanzierung. Dabei müssten auch die betrieblichen Risiken und das unternehmerische Wagnis berücksichtigt werden.«

Zahlreiche schriftliche Stellungnahmen von Institutionen sowie vom Einzelsachverständigen Heinz Rothgang finden sich auf der Seite mit dem Bericht über die Anhörung unter der Überschrift Heftige Kritik an der geplanten Pflegereform.

Auch Gegenstand der Anhörung waren Anträge aus den Reihen der Opposition im Deutschen Bundestag, konkret der Linken und der Grünen.

Die Linksfraktion fordert in ihrem bereits älteren Antrag mit dem Titel „Solidarische Pflegevollversicherung umsetzen“ (Bundestags-Drucksache 19/24448 vom 18.11.2020) die Einführung einer solidarischen Pflegevollversicherung. Derzeit finanzierten Menschen mit Pflegebedarf in einem Pflegeheim bis zu drei Viertel ihrer Heimkosten selbst, heißt es darin. »Die Abgeordneten fordern ein Sofortprogramm zur Verbesserung der Einnahmesituation der Pflegeversicherung, das unter anderem die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der Pflegeversicherung auf 15.000 Euro pro Monat vorsieht. Die Eigenanteile in stationären Pflegeeinrichtungen müssten auf 450 Euro gesenkt und gedeckelt werden bis zur Einführung einer Pflegevollversicherung 2025.«

Die Grünen fordern in ihrem noch älteren Antrag mit dem Titel „Die Pflegeversicherung verlässlich und solidarisch gestalten – Die doppelte Pflegegarantie umsetzen“ (Bundestags-Drucksache 19/14827 vom 06.11.2019) eine umfassende Reform der Pflegeversicherung mit einer Begrenzung der Kosten. Sie schlagen dazu eine „doppelte Pflegegarantie“ vor. Was muss man sich darunter vorstellen? Letztendlich handelt es sich mit Blick auf die Pflegeversicherung um den Wechsel von der heutigen Teilleistungs- hin zu einer echten Teilkaskoversicherung: »Demnach solle der Pflege-Eigenanteil, den Pflegebedürftige monatlich tragen, festgeschrieben werden. Für die stationäre Pflege solle der Eigenanteil unterhalb der derzeit durchschnittlich 690 Euro gedeckelt werden. Die Pflegeversicherung solle ferner alle darüber hinausgehenden Kosten für eine bedarfsgerechte Versorgung tragen. Eine Eigenverantwortung bestehe weiter bei den Kosten für Unterkunft und Verpflegung. Flankierend dazu sollen die Kosten für die medizinische Behandlungspflege von der Krankenversicherung übernommen werden. Neu eingeführt werden solle zudem ein Steuerzuschuss des Bundes für die Pflegeversicherung, um versicherungsfremde Leistungen zur sozialen Sicherung der pflegenden Angehörigen auszugleichen. Die Grünen fordern in ihrem Antrag zudem die Einführung einer solidarischen Pflege-Bürgerversicherung, bei der alle Bürger einkommensabhängig zum Solidarausgleich beitragen und alle Einkommensarten bei der Berechnung der Beiträge berücksichtigt werden.«

Am Freitag, dem 11. Juni 2021, geht es um die abschließende Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung im Bundestag. Vorgesehen ist eine Debatte im Plenum des Bundestages mit einer Dauer von 30 Minuten. Daneben werden auch verschiedene Anträge aus der Opposition mitverhandelt, vgl. dazu Abstimmung über Vorlagen zur Gesundheitsversorgung. Nun wird man davon ausgehen können, dass die vermurkste „Pflegereform“ losgelöst von allen fachlich fundierten Kritiken durchs Parlament bugsiert wird.

Dann aber bleibt nicht nur eine große Baustelle hinsichtlich der beiden Kernkomponenten dessen, was Union und SPD jetzt noch gemeinsam in ein Paragrafenwerk haben gießen können, bevor das Licht endgültig ausgeht, also hinsichtlich einer dringend erforderlichen besseren Vergütung der Pflegekräfte sowie der ebenfalls mehr als dringlichen Entlastung der Pflegebedürftigen bei den Zuzahlungen zu den pflegebedingten Kosten. Als besonders belastendes Erbe dieses offensichtlich „Kleinster-gemeinsamer-Nenner“-Politikansatzes wird sich erweisen, dass die im ursprünglichen Entwurf wenigstens noch enthaltenden partiellen Verbesserungsversuche die vielen Menschen betreffend, die in häuslicher Pflege überwiegend von ihren Angehörigen versorgt werden, nunmehr hinten rüber gefallen sind. Schaffen wir halt nicht mehr. Das zeigt einmal mehr, dass die ganze Pflege-Debatte explizit oder implizit die Versorgung vieler Pflegebedürftiger zu Hause als gegeben voraussetzt und man offensichtlich davon ausgeht, auch weiterhin über das, was da tagtäglich geleistet wird, im Sinne einer nicht aufgabenrelevanten Fortschreibung der bestehenden Verhältnisse verfügen zu können. Man sollte sich nie sicher sein. Und schon mal durchdenken und durchrechnen, was passieren würde, wenn nur ein Teil derjenigen, über deren Leben hier so flexibel verfügt wird, in die Verweigerung gehen oder schlichtweg nicht mehr können.