Ein Teil der Pflegekräfte „flieht“ in die Leiharbeit, Betreiber von Kliniken und Pflegeheimen sind sauer und die Berliner Gesundheitssenatorin will Leiharbeit in der Pflege verbieten? Ein Lehrstück

Seit Monaten wird in der Berichterstattung zuweilen der Eindruck erweckt, als wenn Heerscharen von Pflegekräften die Stammbelegschaften der Pflegeheime und Pflegedienste verlassen und bei Leiharbeitsfirmen anheuern. Das irritiert viele Beobachter der Szenerie, denn mit Leiharbeit haben die meisten Menschen ganz andere Dinge verbunden: Lohndumping, hohes Entlassungsrisiko, schlechtere Arbeitsbedingungen als Stammbeschäftigte oder Gewinne von Leiharbeitsfirmen aus dem Handel mit menschlicher Arbeitskraft.

Wieso sollen da Pflegekräfte freiwillig in die Leiharbeit wechseln? Das macht auf den ersten Blick keinen Sinn. Aber diese Irritation steigt sodann erheblich, wenn man mit solchen Meldungen konfrontiert wird:  Pflegekräfte fliehen in die Leiharbeit: »In der Leiharbeit ist die Arbeitsbelastung für Pflegekräfte mitunter geringer als bei einer Festanstellung … in der Pflegebranche wächst die Leiharbeit rapide.« Oder: »Keine Nachtschichten mehr, kein Einspringen am Wochenende, beste Bezahlung – mit paradiesischen Arbeitsbedingungen werben Leiharbeitsfirmen um Altenpflegekräfte. Die profitieren dabei vom Fachkräftemangel«, so in diesem Artikel: Pflegekräfte auf Pump. Man könnte das jetzt lange fortsetzen.

Aber wie sehen die Fakten aus, was die Zahl der Pflegekräfte in Leiharbeit angeht?

Die Beschäftigung von Leiharbeiterinnen in der Pflege steigt, liegt aber immer noch niedriger als die Leiharbeit bei allen Beschäftigten. Während in der Pflege zwei Prozent der Beschäftigten Leiharbeiter sind, sind es in der Gesamtwirtschaft fast drei Prozent.

Zum einen sollte man also angesichts der tatsächlichen Zahlen die Kirche im Dorf lassen, zum anderen aber gibt es offensichtlich einige interessante Besonderheiten der Inanspruchnahme von Leiharbeit in der Pflege. Und die bestehen nicht nur darin, dass es offensichtlich für einige Pflegekräfte attraktiver ist, statt einer Festanstellung beispielsweise in einem Pflegeheim eine Tätigkeit in der Leiharbeit vorzuziehen. Letztendlich können die Leiharbeitskräfte in der Pflege – anders als in anderen, „klassischen“ Einsatzbereichen der Arbeitnehmerüberlassung, wo sie als hoch flexible Randbelegschaft, die man jederzeit entsorgen kann -, von einem besonders ausgeprägten Ungleichgewicht zuungunsten der Arbeitgeber profitieren, denn der eklatante Personalmangel führt dazu, dass man hier auf die Leiharbeitskräfte zur Aufrechterhaltung des Normalbetriebs angewiesen ist, weil man keine oder zu wenige Arbeitskräfte für die „normale“ Beschäftigung findet, aber aufgrund der Personalvorgaben gezwungen ist, beispielsweise eine bestimmte Anzahl an Pflegefachkräften vorzuhalten. Vgl. dazu auch schon den Beitrag „Gute Leiharbeit“? Zur medialen und tatsächlichen Bedeutung der Leiharbeit in der Kranken- und Altenpflege vom 23. September 2019.

Vor diesem Hintergrund muss man dann die folgende Meldung lesen, die auf den ersten Blick vielen Menschen – die aus gut nachvollziehbaren Gründen skeptisch bis ablehnend gegenüber der Leiharbeit eingestellt sind – aus dem Herzen sprechen wird: Berlin will Zeitarbeit in der Pflege verbieten: »Die Arbeitsbedingungen in Altenheimen und Kliniken gelten als hart. Ein Teil der Pflegekräfte flieht in die Zeitarbeit – zum Unmut der Betreiber. Berlins Gesundheitssenatorin will dagegen nun vorgehen.«

»Ein ständiger Wechsel aus Früh- und Spätschichten, Wochenenddienste, Überstunden: Die Arbeitsbedingungen in der Pflege gelten als hart. In den vergangenen Jahren haben sich daher immer mehr Pflegekräfte für einen Wechsel in die Zeitarbeit entschieden. Dort verdienen sie dank überdurchschnittlicher Löhne deutlich besser und können noch dazu selbst entscheiden, welche Dienste sie übernehmen wollen. Beim Stammpersonal, den Betreibern der Pflegeheime sowie Klinikleitern sorgt das allerdings für viel Unmut – schon länger brodelt es unter der Oberfläche. Nun hat auch die Politik das Thema für sich entdeckt.«

Und aus der Politik werden Taten in Aussicht gestellt: »So kündigte Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) …, dass das Land Berlin Anfang kommenden Jahres eine Bundesratsinitiative für ein Verbot von Leiharbeit in der Pflege starten werde.« Zuerst hatte Hannes Heine im Tagesspiegel darüber berichtet: Senatorin Kalayci will Leiharbeit in der Pflege verbieten: »In Pflegeheimen und Kliniken fehlt Stammpersonal – auch, weil Fachkräfte von Leiharbeitsfirmen abgeworben werden. Berlin will im Bundesrat dagegen vorgehen.« Man kann hier lediglich mit einer Initiative über den Bundesrat versuchen, ein solches Verbot anzustoßen, der Eingriff selbst fällt in die Bundeszuständigkeit.

Und auch hier wieder als Begründung für ein gefordertes Verbot: »Heim- und Klinikleiter berichten seit Jahren, dass Pflegekräfte zunehmend Betriebe verließen und sich von Leasing-Firmen anstellen lassen. Diese zahlen höhere Löhne, um die knapper werdenden Pflegekräfte in den Betrieben zu ersetzen. Zudem versuchen Leiharbeiter, den Nacht- und Wochenendschichten zu entgehen.«

Dabei hatte es Signale in die Richtung Verbot der Arbeitnehmerüberlassung schon vorher gegeben – vom Bundesgesundheitsminister selbst: So wurde Jens Spahn (CDU) bereits im Sommer des vergangenen Jahres mit diesen vorsichtigen Worten zitiert: »Die Leiharbeit im Pflegebereich mache die Dinge nach Spahns Auffassung angesichts der aktuellen Probleme mit der Stellenbesetzung eher schwieriger als leichter. „Ich hätte lieber weniger Leiharbeit in der Pflege und mehr Festangestellte“, sagte Spahn.« In einem anderen Bericht heißt es: »Es müsse dringend jetzt etwas getan werden, vor allem gegen die Leiharbeit. Denkbar wäre, überlegte Spahn, ein Verbot von Leiharbeit in unterbesetzten Facharbeitsbereichen – auch wenn dies einen ziemlichen Eingriff bedeuten würde.« Wobei die dazu gehörende Überschrift des Artikels – Jens Spahn spricht sich für ein Verbot von Leiharbeit aus – dann angesichts der konkreten Formulierung des Ministers eine nun ja, sehr weit ausgreifende, wenn nicht übergriffige Interpretation ist. Der Mann weiß sicher, warum er semantisch so herumeiert bei dem Thema „Verbot der Leiharbeit“ in der Pflege. Dazu bereits der Beitrag Der Gesetzgeber will Leiharbeit in der Pflege „weitgehend verhindern“. Selbst wenn er wollte – wie will er das machen? vom 24. September 2019.

Nun könnte man an dieser Stelle darauf verweisen, dass es im Recht der Arbeitnehmerüberlassung bereits ein Verbotsbeispiel gibt: das Baugewerbe. So heiß es unter der Überschrift „Einschränkungen im Baugewerbe“ im § 1b AÜG im Absatz 1: »Arbeitnehmerüberlassung nach § 1 in Betriebe des Baugewerbes für Arbeiten, die üblicherweise von Arbeitern verrichtet werden, ist unzulässig.« Die Überlassung durch ein klassisches Leiharbeitsunternehmen in das Bauhauptgewerbe ist gemäß § 1b AÜG untersagt. Zulässig ist die Überlassung nur, wenn sie ausschließlich zwischen Betrieben des Baugewerbes stattfindet. Zusätzlich legt § 1b S. 2 b) AÜG fest, dass nur innerhalb des jeweils einschlägigen der fünf Bautarifbereiche Baugewerbe, Abbruchgewerbe, Gerüstbaugewerbe, Dachdeckerhandwerk sowie Garten- und Landschaftsbau Arbeitnehmerüberlassung betrieben werden darf. Dies bedeutet zum Beispiel, dass nur ein Gerüstbaubetrieb an einen Gerüstbaubetrieb Personal überlassen darf.

➔ Historischer Exkurs: Bis zum Jahr 1967 gab es in der Bundesrepublik ein Verbot der gewerbsmäßigen Überlassung von Arbeitnehmern, das 1931 erlassen wurde. Am 4. April 1967 befand das Bundesverfassungsgericht, dass dieses Verbot verfassungswidrig sei. Nach diesem Urteil kam es in den folgenden Jahren zu einem sprunghaften Anstieg an Arbeitnehmerüberlassungen. Damit einher gingen auch die illegalen Machenschaften in diesem Sektor , die insbesondere im Baugewerbe zu enormen Missständen führten. Zum 1. Januar 1982 wurde dann über den § 12a AFG (Arbeitsförderungsgesetz) die Leiharbeit von Arbeitern im Baugewerbe verboten. Zum 1. Januar 1998 wurde die Regelung als § 1b in das Arbeitnehmerüberlasungsgesetz (AÜG) aufgenommen. Man sollte sich in Erinnerung rufen, was zum Verbot des Verleihs im Baugewerbe geführt hat: Die Existenz von legaler und illegaler Arbeitnehmerüberlassung nebeneinander konnte kaum kontrolliert und verfolgt werden, die Behörden waren mit sehr kurzen Verleihdauern konfrontiert, Arbeitgeber reduzierten in größerem Umfang den Anteil der Festangestellten – und der Anreiz für sie war groß, denn dadurch konnten sie sich den Tarifverträgen sowie den Sozialleistungen des Baugewerbes entziehen, weil Leiharbeiter von diesen Regelungen eben nicht erfasst wurden. Unternehmen, die einen hohen Anteil an Leiharbeitern aufwiesen, verschafften sich so einen Wettbewerbsvorteil. Fazit: Das Verbot der Leiharbeit im Baugewerbe war gleichsam eine Notbremse, die man gezogen hat, um die betroffenen Arbeitnehmer, aber auch die korrekt agierenden Bauunternehmen zu schützen.

Dieser Rückblick auf den einzigen expliziten Verbotsfall der Arbeitnehmerüberlassung ist deshalb im gegenwärtigen Kontext hilfreich, weil es derzeit keinerlei Schutzgründe die Arbeitnehmer betreffend gibt, die ein Verbot der Arbeitnehmerüberlassung im Pflegebereich rechtfertigen würde – anders als damals im Baubereich. Sogar, wie beschrieben, das Gegenteil ist der Fall, individuell gesehen stellen sich zahlreiche Leiharbeitskräfte sogar besser als wenn sie zur Stammbelegschaft gehören würden.

In vielen anderen Bereichen, in denen Leiharbeiter eingesetzt wurden und werden, sieht das ganz anders aus. Dort sind die Leiharbeiter tatsächlich Arbeitnehmer mindestens zweiter Klasse – und dort könnte man durchaus Gründe für ein Verbot vortragen. Aber in der Pflege derzeit gerade nicht.

Insofern ist die Forderung nach einem Verbot der Arbeitnehmerüberlassung in der Pflege als eine Art Schützenhilfe für die Arbeitgeber zu verstehen, die natürlich not amused sind, dass hier eine Exit-Option für Pflegekräfte besteht und die schlichtweg die schlechteren Karten im Spiel haben aufgrund der generellen Mangelsituation in der Pflege. Außerdem haben sie natürlich erhebliche zusätzliche Kosten zu tragen, wenn sie gezwungen sind, auf Leiharbeitskräfte zurückzugreifen – (für den Bereich der Altenpflege vgl. beispielsweise bpa-Befragung zur Zeitarbeit: 89 Prozent Zusatzkosten), die dann aus dem operativen Geschäft erwirtschaftet werden müssen. Der Rückgriff auf die aus Sicht vieler Kliniken und Pflegeheime sehr teure Notlösung Leiharbeit potenziert sie sowieso schon vorhandene Unterfinanzierung der Pflege im Ergebnis.

Darauf kann man mit einem Verbot der Leiharbeit zu reagieren versuchen im Sinne einer Hilfestellung für die Arbeitgeber – aber man muss eben auch zur Kenntnis nehmen, dass man damit einen ziemlich seltenen Bereich von Leiharbeit strangulieren würde, in dem das Pendel zugunsten der Leiharbeitnehmer ausgeschlagen ist.

Damit das hier nicht falsch verstanden wird – es geht an dieser Stelle nicht um die Grundsatzfrage, was man generell von der Leiharbeit hält und ob es nicht gute Gründe geben kann, den Verleih von Arbeitskräften abzuschaffen oder zumindest stark zu begrenzen. Und es geht auch nicht darum, dass man sehr gute inhaltliche Argumente vortragen kann, dass die Leiharbeit in der Pflege auf allen Seiten durchaus negative Folgen zu Tage fördert (vgl. dazu ausführlicher: Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe: Arbeitnehmerüberlassung in der Pflege. Impulspapier, Berlin, September 2019), die nicht wirklich im Interesse einer guten Pflege sein können.

Aber wenn man die Leiharbeit in der Pflege verbieten würde, dann mögen bestimmte Geschäftsmodelle ihre Basis verlieren, was viele der Sympathisanten dieser Idee sicher motiviert, den Vorstoß zu begrüßen – aber an der die Inanspruchnahme der Leiharbeit vorantreibenden fundamentalen Ursache, also dem strukturellen Mangel an Pflegefachkräften, könnte auch ein Verbot der Arbeitnehmerüberlassung nichts ändern, dazu sind die präsentierten quantitativen Größenordnungen zu klein und unbedeutsam, zum anderen ist keineswegs sicher, dass alle in der Leiharbeit tätigen Pflegefachkräfte dann in eine „normale“ Beschäftigung in der Pflege wechseln werden.

Erneut hat man eine Art Lehrstück serviert bekommen, wie mit symbolisch aufgeladenen Aktivitäten Politik gemacht werden soll, die aber ins Leere laufen muss und wird, sollte mehr werden aus dem – sicher öffentlichkeitswirksamen – Ankündigungsvorstoß, den man zudem nicht selbst umsetzen muss.