Der Bundestag hat am 9. November 2018 das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz abschließend beraten und gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der AfD, der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen in der vom Gesundheitsausschuss geänderten Fassung angenommen. »In der Schlussdebatte sprachen Redner von Union und SPD von der wichtigsten Pflegenovelle seit vielen Jahren. Auch die Opposition würdigte die in der Vorlage enthaltenen Verbesserungen, mahnte jedoch weitergehende Schritte an, um die Versorgung nachhaltig zu stärken und die Finanzierung der kostspieligen Pflege zu sichern«, berichtet der Bundestag selbst. Das neue Gesetz beinhaltet zahlreiche Regelungen und ist sowohl für die Altenpflege wie auch und gerade für die Krankenhauspflege von Bedeutung. Insbesondere für die Krankenhäuser sei mit dem Gesetz ein Paradigmenwechsel verbunden, so wird der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zitiert.
Und der wird in diesen Tagen auch noch mit ganz anderen Aussagen in den Medien präsentiert: Jens Spahn fordert höhere Pflegebeiträge für Kinderlose, so ist einer der vielen Artikel dazu überschrieben: »Wer Kinder hat, zieht spätere Beitragszahler groß, argumentiert der Gesundheitsminister. Deshalb will er den Pflegebeitrag für Kinderlose weiter anheben.« Spahn wolle für die Pflegeversicherung über „eine angemessene Beteiligung von Kinderlosen“ diskutieren. Natürlich stellt sich immer die Frage, was genau denn angemessen ist – aber der eine oder andere wird an dieser Stelle daran denken, dass doch bereits heute in der Pflegeversicherung die „Kinderlosen“ stärker zur Kasse gebeten werden.
Die Abbildung mit der Entwicklung des Pflegeversicherungsbeitrags – bzw. seit dem Jahr 2005 muss man sagen: der beiden Beitragssätze – seit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 ist diesem Beitrag vom 13. Oktober 2018 entnommen: Die „Beitragstreppe“ in der Pflegeversicherung wird steiler und die Systemfragen immer drängender. Diesseits und jenseits der nächsten Beitragssatzanhebung. Darin ging es um die bereits beschlossene Anhebung der Beitragssätze zur Sozialen Pflegeversicherung zum 1. Januar 2019 in der Größenordnung von 0,5 Beitragssatzpunkten. Solche Werte erscheinen den meisten gering, also muss man das mal übersetzen: Im Jahr 2018 spült ein Beitragssatzpunkt mehr zusätzliche 14,8 Mrd. Euro in die Kassen der Pflegeversicherung (vgl. dazu BMG: Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung, Stand: Juli 2018, S. 15). Das bedeutet, die bereits beschlossene Anhebung zum 1. Januar 2019 – Kinderlose müssen dann 3,30 Prozent ihres sozialversicherungspflichtigen Einkommens (bis zur Beitragsbemessungsgrenze) in die Pflegeversicherung einzahlen, für Eltern sind es 3,05 Prozent – wird nach dieser Faustformel Mehreinnahmen in Höhe von 7,4 Mrd. Euro generieren, die von den Beitragszahlern aufzubringen sind – wobei wie dargestellt schon heute die „Kinderlosen“ eine höhere Belastung zu tragen haben.
Wir sollten an dieser Stelle nicht vergessen: Es handelt sich um die dritte Erhöhung der Beitragssätze zur Pflegeversicherung seit 2015. Bei der letzten Beitragserhöhung zum 1. Januar 2017 im Kontext des 2. Pflegestärkungsgesetzes wurde erklärt, dass durch die damalige Erhöhung die Versicherungsbeiträge bis 2022 stabil gehalten werden können. Schnee von gestern. Mit der nun anstehenden kräftigen Erhöhung in Höhe von 0,5 Beitragssatzpunkten verspricht die Bundesregierung abermals stabile Beiträge – bis 2022.
Dass schon seit Jahren zwischen „Kinderlosen“ und anderen differenziert wird, dazu ist die Politik seitens des Bundesverfassungsgerichts gezwungen worden und geht auf eine historische Entscheidung des hohen Gerichts aus dem Jahr 2001 zurück – das sogenannte „Beitragskinderurteil“ zur Pflegeversicherung: »Es ist mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden.« So der wegweisende Leitsatz des Bundesverfassungsgerichts zum Urteil vom 03. April 2001 – 1 BvR 1629/94.
Zur Verfassungswidrigkeit eines gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrags wurde in der damaligen Entscheidung ausgeführt: »Die Erziehungsleistung versicherter Eltern begünstigt innerhalb eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems, das der Deckung eines maßgeblich vom Älterwerden der Versicherten bestimmten Risikos dient, in spezifischer Weise Versicherte ohne Kinder. Dabei ist entscheidend, dass der durch den Eintritt des Versicherungsfalls verursachte finanzielle Bedarf überproportional häufig in der Großelterngeneration (60 Jahre und älter) auftritt. Die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden, nimmt mit dem Lebensalter deutlich zu. Sie steigt jenseits des 60. Lebensjahres zunächst leicht an, um dann jenseits des 80. Lebensjahres zu einem die Situation des Einzelnen maßgeblich prägenden Risiko zu werden … Wird ein solches allgemeines, regelmäßig erst in höherem Alter auftretendes Lebensrisiko durch ein Umlageverfahren finanziert, so hat die Erziehungsleistung konstitutive Bedeutung für die Funktionsfähigkeit dieses Systems. Denn bei Eintritt der ganz überwiegenden Zahl der Versicherungsfälle ist das Umlageverfahren auf die Beiträge der nachwachsenden Generation angewiesen.« (Randziffer 56).
Schaut man sich die damalige Argumentationslinie des BVerfG genauer an, dann könnte man schon auf diesen Gedanken kommen: Wenn entscheidend ist, dass der eintretende Bedarf überproportional häufig in der älteren Generation eintritt – ist das dann nicht gerade in der Rentenversicherung systembedingt hoch relevant? Eine naheliegende Frage. Und eigentlich mehr: Das BVerfG hat die Entscheidung von 2001 auch mit dem Auftrag an den Gesetzgeber versehen, dass die Übertragbarkeit des Urteils auf andere Sozialversicherungen, namentlich die Rentenversicherung, zu überprüfen ist. Was der Gesetzgeber aber danach als nicht relevant abgetan hat. Und in der Pflegeversicherung ist er notgedrungen tätig geworden – allerdings nicht so, wie sich das schlichte Gemüter vielleicht vorgestellt habe, also im Sinne einer Entlastung der Eltern mit Kindern, in dem also deren Beitragsbelastung abgesenkt wird. Sondern man hat für die alles so gelassen wie es war – und den Kinderlosen hat man noch eine Schippe oben rauf gelegt und deren Beitrag erhöht. Diese Mechanik nun sollte man sich für die aktuelle Debatte merken.
Immer wieder wurde in den vergangenen Jahren versucht, mit Bezug auf wegweisende Entscheidungen des BVerfG eine Entlastung von Familien innerhalb der Sozialversicherungssysteme durchzusetzen bzw. diese auf dem Klageweg einzufordern. Dabei hat man sich einerseits auf das berühmte „Trümmerfrauenurteil“ des BVerfG aus dem Jahr 1992 bezogen: BVerfGE 87, 1 – 1 BvL 51/86 u.a. vom 07.07.1992. Zu dieser Entscheidung schrieb der Deutsche Familienverband (DFV) im Jahr 2006:
»In diesem am 7. Juli 1992 ergangenen Familienurteil finden sich die wichtigsten Vorgaben für die Berücksichtigung der Kindererziehung in der Rente. Der Deutsche Familienverband hat dieses wichtige Urteil mit initiiert: Die Beschwerdeführerinnen kamen aus Mitgliedsfamilien des Verbandes. Sie waren kinderreiche Mütter im Rentenalter, bei denen die Schieflage der Rentenversicherung besonders deutlich wurde. Denn sie erhielten nur eine Minirente für ihre Erziehungsleistung, obwohl ihre erwachsenen Kinder durch hohe Rentenbeiträge zur Bestandssicherung der Rentenversicherung beitrugen. Das Bundesverfassungsgericht nutzte diese Verfassungsbeschwerde, um die grundsätzliche Benachteiligung von Familien und vor allem von Familien mit mehreren Kindern in der Gesetzlichen Rentenversicherung klarzumachen, die darin liegt, dass das durch die Kindererziehung bedingte Ausscheiden aus der Erwerbstätigkeit mit Einbußen bei der späteren Rente bezahlt wird, obwohl Kinder die Voraussetzung dafür sind, dass der Generationenvertrag Rente überhaupt überlebt.« Und dann kommt der entscheidende Passus: »Im Trümmerfrauenurteil gab das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber deshalb einen umfassenden Reformauftrag: Es verpflichtete ihn, sicherzustellen, dass sich mit jedem Reformschritt die Benachteiligung der Familie in der gesetzlichen Rentenversicherung tatsächlich verringert. Auch auf die Frage nach der Finanzierung von besseren Rentenleistungen für Eltern gab das Urteil bereits die Antwort: Es enthält nämlich den wichtigen Hinweis, dass auch eine maßvolle Umverteilung der Rentenansprüche zu Lasten „kinderloser und kinderarmer Personen“ mit dem Eigentumsschutz der Verfassung vereinbar ist, ebenso wie die Differenzierung der Hinterbliebenenrente nach Ehedauer und Kinderzahl.« (Deutscher Familienverband: Verfassungstreue bei der Anerkennung von Erziehungsleistung, Berlin, Januar 2006, S. 10).
Und wie bereits das Trümmerfrauenurteil von 1992 enthält das am 3. April 2001 ergangene und hier bereits erwähnte Pflegeversicherungsurteil wichtige Vorgaben zur Anerkennung von Erziehungsleistung in der Sozialversicherung. Mit Blick auf diese Entscheidung des BVerfG führt der DFV aus, »dass die Berechnung der Beiträge zur Pflegeversicherung gegen das Grundgesetz verstößt, weil Eltern mit Kindern den gleichen Beitrag zahlen wie Menschen ohne Kinder, obwohl sie durch die Erziehung ihrer Kinder neben dem Geldbeitrag einen sogenannten „generativen“ Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten. Denn ein solches System baut darauf auf, dass junge Erwerbstätige für ältere Menschen zahlen – es hängt also von den Kindern und damit der nächsten Generation ab. Deshalb verpflichtete das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber dazu, bis spätestens Ende 2004 Eltern bei den Beiträgen zur Pflegeversicherung zu entlasten. Zugleich enthält das Urteil die wichtige Vorgabe, dass der Gesetzgeber bis dahin auch die Bedeutung der Entscheidung für andere Zweige der Sozialversicherung prüfen sollte, die auf dem Generationenvertrag zwischen Jung für Alt aufbauen und deshalb von der Erziehungsleistung der Familien abhängig sind.« (S. 14).
Aber alle weiteren Anläufe vor den hohen Gerichten, entsprechende Entlastungen für Familien durchzusetzen, sind bislang gescheitert. Dazu wurde in diesem Blog über Jahre immer wieder berichtet. Wer das nachvollziehen möchte, dem seien diese Beiträge empfohlen:
➔ Die Sozialversicherung und ihre Kinder. Zur Entscheidung des Bundessozialgerichts: Keine Beitragsentlastung für Eltern (06.10.2015)
➔ Und noch einmal vom Bundessozialgericht für die Akten: Keine Beitragsentlastung für Eltern in der Rentenversicherung (20.07.2017)
Und in dieses verminte Gelände stößt nun – scheinbar – der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der nicht nur das für einen Bundespolitiker undankbare Pflegethema an der Backe hat, sondern sich zugleich auch noch für den Parteivorsitz in der CDU bewirbt – und der für diese übergeordneten Ziele auf Präsenz in den Medien setzt und deshalb Themenhopping betreibt. Das mag dann auch verständlich machen, dass er seine Gastbeiträge in Zeitungen in diesen Tagen gleich mit den ganz großen Hausnummern schon in der Überschrift meint ausstatten zu müssen: Für eine neue Generationengerechtigkeit. Darunter macht er es nicht.
Unter einer neuen Generationengerechtigkeit versteht Spahn offensichtlich eine (noch) stärkere Belastung der Kinderlosen, sowohl in der Renten- wie auch in der Pflegeversicherung, verbunden mit einem Lobgesang auf die Teilkapitaldeckung in der Sozialversicherung. Zur Rentenversicherung finden wir in dem Beitrag von Spahn nach einem Bezug auf Oswald von Nell-Breuning dieses Diktum: »Im Umlagesystem bekommen die Alten das Geld von den Jungen – auch wenn es die Kinder nur der Anderen sind! Und das sage ich sehr bewusst als selbst Kinderloser, der bereit ist, finanziell mehr zur Zukunftsfähigkeit des Systems beizutragen.« Und zur Pflegeversicherung bekommen wir das hier serviert:
»Die gleiche Gerechtigkeitsfrage stellt sich in der Pflegeversicherung. Auch hier ziehen Eltern eben auch künftige Beitragszahler groß und sichern das System so für die Zukunft. Deswegen liegt derzeit der Beitragssatz zur Pflegeversicherung für Kinderlose bereits um 0,25 Prozentpunkte höher als für Versicherte mit Kindern. Dieses Grundprinzip ist richtig und vorbildlich. Pro Jahr werden 1,4 Milliarden im Pflegevorsorgefonds zur Seite gelegt. Die Pflege ist damit der einzige Zweig der Sozialversicherung mit eingebauter Vorsorge für die Zukunft. Aber auch da ginge mehr, damit auch nach 2030 noch genug Geld da ist, wenn die Babyboomer in Rente gehen – und nicht wenige in der Mitte des 21. Jahrhunderts auch pflegebedürftig sein werden.«
»Wir müssen die Dinge jetzt generationengerecht gestalten, sonst werden die immer wenigeren Jungen des übernächsten Jahrzehnts Wege finden, ihre finanzielle Überlastung abzuschütteln oder zu umgehen. Wir werden den Beitrag zur Pflegeversicherung zum 1. Januar 2019 erneut deutlich um 0,5 Beitragspunkte anheben müssen. Zugleich spüren alle, dass wir für mehr Pflegekräfte, für deren bessere Bezahlung und für die Unterstützung zu Hause noch mehr Geld brauchen werden. Ich möchte den Umstand, dass damit die Pflege-Debatte endlich richtig Fahrt aufgenommen hat, als Chance nutzen, in den nächsten Monaten offen und ehrlich zu diskutieren: Wie bleiben wir eine menschliche Gesellschaft, wie erhalten wir unsere sozialen Institutionen, wenn jeder Dritte in Deutschland älter als 60 Jahre alt ist – und weniger als ein Fünftel jünger als 20?«
Spahn ist Berufspolitiker durch und durch und vermeidet deshalb jede konkrete Nennung möglicher Belastungen für den einen oder die anderen. Aber es trieft ja zwischen den Zeilen durch: die „Chance“ nutzen vor dem Hintergrund des von allen grundsätzlich ja auch anerkannten Mehrausgabenbedarfs in der Pflege bedeutet für Spahn, durch höhere Beitragsbelastungen für eine Teilgruppe der Beitragszahler, die Kinderlosen, die notwendigen Finanzmittel zu erschließen, die sicher im zweistelligen Milliardenbereich liegen werden, wenn man alle berechtigten Forderungen aus der Pflege angehen wollte.
Und wenn man dieser Gruppe deutlich mehr als bislang abverlangen will, dann muss man das legitimatorisch einbetten, um die sicher kommenden Angriffe mit Verweis auf ein höheres Prinzip abwehren zu können. Dafür braucht man eine Erzählung – und das ist im vorliegenden Fall die von den belasteten Familien, die man stärken wolle, in dem man die Kinderlosen stärker belastet.
Aber spätestens an dieser Stelle sollten sich alle daran erinnern, wie man das BVerfG-Urteil aus dem Jahr 2001 umgesetzt hat: Man hat keineswegs die Familien entlastet (und diese Entlastung dann durch eine stärkere Belastung der Kinderlosen gegenfinanziert), sondern man hat an der Belastung der Eltern von Kindern nichts geändert (also in dem Moment, mittlerweile ist die natürlich auch weiter angestiegen), sondern man hat den Kinderlosen einen zusätzlichen Beitrag aus Auge gedrückt und dadurch natürlich auch Mehreinnahmen generieren können. Und genau das Muster schwebt dem Herrn Minister sicher auch heute vor.
Das ist eigentlich alles leicht zu durchschauen, hindert aber erneut wieder einmal nicht Teile der Medien, geradezu begeistert auf den Geschichtenerzähler hereinzufallen und die angebotene Story von der Generationengerechtigkeitsfrage sofort aufzugreifen und unters Volk zu bringen. So springt Ferdinand Knauß dem Minister bei und überschlägt sich in der WirtschaftsWoche mit dieser Überschrift: Schluss mit der Benachteiligung von Eltern! »Ausgerechnet der Sozialminister Heil kritisiert den sinnvollen Vorstoß von Jens Spahn: Die faktische Alimentierung der Kinderlosen durch Eltern per Sozialversicherung ist nicht nur ungerecht, sondern unterminiert die Nachhaltigkeit des Sozialstaats.« Und es tut schon weh, wenn man dann lesen muss, dass es dem Herrn Spahn angeblich darum gehen würde, »eine nicht nur offenkundig ungerechte, sondern auch vom Bundesverfassungsgericht – unter anderem im „Pflegeversicherungsurteil“ von 2001 – mehrfach und bislang ohne gesetzgeberische Reaktion als grundgesetzwidrig gerügte Benachteiligung von Eltern durch die Sozialversicherungen endlich zu bereinigen.« Natürlich hat es eine gesetzgeberische Reaktion gegeben, nämlich die seit Jahren praktizierte höhere Beitragsbelastung der Kinderlosen, was dem Autor offensichtlich entgangen ist. Auch wenn einem die Nicht-Entlastung der Eltern missfallen mag – formal hat der Gesetzgeber das Urteil umgesetzt, denn die Verfassungsrichter haben lediglich gefordert, dass es keine gleiche Beitragsbelastung geben soll.
Nun kann man an dieser Stelle nur die Lektüre der hier bereits verlinkten Beiträge zu den Versuchen, eine Entlastung der Familien innerhalb der Sozialversicherungssysteme vor Gericht durchzusetzen, empfehlen, damit man verstehen kann, warum das eben alles nicht so einfach und nur schwarz-oder-weiß ist.
Der eigentlich zu kritisierende Punkt an dem Vorstoß von Jens Spahn ist auch nicht die Tatsache, dass er Teilen der Medien und den Menschen eine nette Geschichte vor die Füße wirft, mit der er die anstehende und erhebliche (weitere) Erhöhung der Beiträge zur Pflegeversicherung zu legitimieren versucht. Für jeden, der sich etwas auskennt in dieser sozialpolitischen Materie, ist das mehr als durchschaubar.
Das eigentliche Problem besteht darin, dass der Bundesgesundheitsminister sehr wohl weiß, welchen enormen Mittelbedarfe wir in der Pflege haben, wenn man nur einen Teil er als dringlich zu charakterisierenden Maßnahmen wie beispielsweise eine deutlich bessere Vergütung der Altenpflegekräfte oder einen Schub bei den Personalschlüsseln realisieren wollte. Und diese Mehrausgaben nur aus den Pflegeversicherungsbeiträgen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und dann auch noch begrenzt durch eine Beitragsbemessungsgrenze zu finanzieren, dass wäre und ist der eigentliche Gerechtigkeitsskandal. Es handelt sich hier nicht nur um einen wahrhaften Notstand, sondern um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die notwendigerweise aus Steuermitteln zu finanzieren wäre, um alle mit ins Boot zu holen. Mit seiner auf die Pflegeversicherung im engeren Sinne begrenzten Kinderlosen-Debatte lenkt Spahn nur ab, genau von dem eigentlich Notwendigen.
Man kann abschließend einen der langjährigen und immer noch voller Zorn vor die Gerichte ziehenden Kämpfer für eine Entlastung der Familien, der an den zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als Vertreter der Kläger beteiligt und damit großen Anteil hatte, in den Zeugenstand rufen: Jürgen Borchert. Der hat schon vor vielen Jahren immer in die Richtung argumentiert, die nun wieder als „Generationengerechtigkeit“ aufgerufen wird. Borchert hat immer wieder die Überlastung der Familien zugunsten der Kinderlosen angeprangert. Man kann das zum einen über die Beitragsseite im engeren Sinne auflösen, also innerhalb des gegebenen Systems. Das ist der Weg der Klagen (gewesen).
Aber es gibt auch eine andere – weiterführende – Perspektive: Im Kontext des beobachtbaren Strukturwandels stellt sich die Aufgabe, das tradierte lohnbezogene Sozialversicherungssystem grundsätzlich zu überdenken. Und selbst Jürgen Borchert plädiert nach seiner umfassenden Analyse der teilweise perversen Umverteilungswirkungen in den bestehenden Systemen am Ende seines Buches Sozialstaats-Dämmerung (2013) für eine „BürgerFAIRsicherung“ für die Bereiche Alter, Krankheit und Pflege – und meint damit eine Abkehr von einer Mittelgenerierung, die auf sozialversicherungspflichtige Arbeitseinkommen und die dann auch noch begrenzt bis zu den Beitragsbemessungsgrenzen basiert und alle anderen relativ ungeschoren davon kommen lässt. Er spricht bei der Begründung für sein Modell bewusst den Bezug an zur Schweiz und den dort vorfindbaren Konstruktionsprinzipien einer „Alters- und Hinterlassenenversicherung“ (AHV).
»Ein Umbau der großen sozialen Sicherungssysteme müsste neben der Beseitigung der offensichtlichen Verteilungsperversitäten beispielsweise gegenüber den Familien vor allem eine zukunftsfestere Finanzierung der großen Systeme zur Absicherung von zentralen Lebensrisiken schaffen. Und das bedeutet eben konsequenterweise eine Abkehr von der Fokussierung und damit letztendlich immer stärkeren Drangsalierung eines sich schwer unter Druck befindlichen, tendenziell immer kleiner werdenden Teilstücks des volkswirtschaftlichen Kuchens namens sozialversicherungspflichtige Erwerbsarbeitseinkommen und die dann wie gesagt auch noch nach oben begrenzt durch die Beitragsbemessungsgrenzen.
Kurzum: Wir brauchen eine Ausweitung der Finanzierungsgrundlagen auf alle Einkommensarten und eine Einbeziehung aller Bürger/innen in diese Kollektivfinanzierung und zugleich eine Begrenzung der Leistungen nach oben, um die notwendige starke Umverteilung nach unten überhaupt stemmen zu können.« So habe ich das vor mehreren Jahren, im November 2013 in dem Beitrag Die Rentenversicherung zwischen kinderzahlabhängiger Talfahrtbeschleunigung und einem schönen Blick auf die Schweizer Berge. Irgendwo dazwischen die großkoalitionäre Sparflamme formuliert – und das lässt sich am Ende des Jahres 2018 erneut so aufrufen. Leider.
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