Von abhängiger und selbständiger Einkommensarmut und vor allem von vielen, die einen Hartz IV-Anspruch nicht einlösen

Ob nun bewusst oder unbewusst – wenn von Armut die Rede ist und von Hartz IV, dann denken viele Menschen an Arbeitslose, an Langzeitarbeitslose. Aber die fast sechs Millionen Hartz IV-Empfänger sind weitaus heterogener in ihrer Zusammensetzung. Beispielsweise waren im Dezember 2017 über eine Million oder 27 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in der Grundsicherung für Arbeitsuchende erwerbstätig. Hin und wieder taucht diese große und ebenfalls sehr bunte Gruppe als „Aufstocker“ in der öffentlichen Debatte auf. Da gibt es tatsächlich diejenigen, die einem Vollzeitjob nachgehen und dennoch aufstockende Leistungen vom Jobcenter beziehen. Allerdings ist das nicht die Mehrzahl. Da sind die „Aufstocker“, die einen Minijob ausüben. Und da gibt es auch die Selbständigen, deren Einkommen unterhalb des Regelbedarfs liegen.

»Trotz des Rekordstands bei der Beschäftigung und acht guten Konjunkturjahren ist das Armutsrisiko für Geringverdiener in Deutschland nicht geringer geworden … Demnach stagnierte die Armutsrisikoquote nach den zuletzt verfügbaren Daten von 2016 bei 7,7 Prozent der Erwerbstätigen. Sie stagniert damit seit 2011. Die Armutsrisikoschwelle liegt nach gängiger EU-Festlegung bei 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens. In Deutschland lag die Schwelle für einen Einpersonenhaushalt 2016 bei 969 Euro pro Monat.« Das kann man dem Artikel Wer weniger als 969 Euro im Monat hat, gilt als arm entnehmen. Der Beitrag bezieht sich auf die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen im Bundestag: „Erwerbstätige Arme in Deutschland“ (Bundestags-Drucksache 19/2804 vom 18.06.2018).  

Aus der Antwort der Bundesregierung erfährt man, dass der Anteil der Erwerbstätigen, die mit ihren Einkünften unter der Armutsrisikoschwelle lagen, in den Jahren seit 2005 immer zwischen 7,1 und 7,8 Prozent gelegen hat.

Für den aktuellen Rand berichtet die Bundesregierung in ihrer Antwort, dass es im Oktober 2017 insgesamt 1,16 Millionen erwerbstätige ELB gab, wobei das Kürzel ELB für „erwerbsfähige Leistungsberechtigte“ im Hartz IV-System steht. Von den 1,16 Mio. waren 1,08 Millionen abhängig beschäftigt und 89.000 Personen waren selbständig. Von den 1,08 Millionen abhängig Beschäftigten waren 601.000 sozialversicherungspflichtig und 368.000 ausschließlich geringfügig beschäftigt. Und von den 601.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit aufstockenden Hartz IV-Leistungen waren 208.000 in Vollzeit und 393.000 in Teilzeit beschäftigt. Dann folgen noch zahlreiche Informationen über die Aufstocker.

Richtig interessant wird es aber mit der letzten Frage, denn die geht so: »Welche Untersuchungen sind der Bundesregierung zur Inanspruchnahmequote von Arbeitslosengeld II, insbesondere auch von Erwerbstätigen, bekannt, und wie hoch ist danach die Dunkelziffer der Nichtinanspruchnahme insgesamt und für Erwerbstätige?«

Interessant ist ein Blick auf die Dunkelziffer der Nichtinanspruchnahme vor allem auch deshalb, weil in der öffentlichen Diskussion immer wieder der angebliche oder tatsächliche Missbrauch im Hartz IV-System behauptet und beklagt wird, also die unrechtmäßige Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen. Und darüber können sich viele aufregen. So gut wir Niue findet man wenigstens den Hinweis auf die andere Seite der Medaille, dass also Menschen, die einen Anspruch haben auf Hartz IV-Leistungen, diesen nicht in Anspruch nehmen, also auf die staatliche Leistung verzichten.

Die Bundesregierung antwortet: »Nach Auswertungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gibt es nur wenige Studien, die sich mit der Nicht-Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld II befassen. In der folgenden Übersicht werden die jeweils verwendete Datenquelle, der betrachtete Zeitraum sowie die berechneten Quoten der Nicht-Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld II bezogen auf alle anspruchsberechtigten Haushalte … berichtet.«

»Freiwilliges Leben unter dem Existenzminimum – was widersinnig klingt ist für etliche Menschen in Deutschland Realität. Studien gehen davon aus, dass zwischen 34 und 50 Prozent der Menschen, die eigentlich Hartz-IV-Leistungen beziehen könnten, auf ihren Anspruch verzichten. Unter den Erwerbstätigen sind es Schätzungen zufolge sogar bis zu zwei Drittel der Anspruchsberechtigten«, so die Zusammenfassung von O-Ton Arbeitsmarkt unter der Überschrift Leistungsverzicht: Mindestens ein Drittel verzichtet auf Hartz-IV-Anspruch. Mit Blick auf die in der Antwort der Bundesregierung präsentierten sechs Studien erfahren wir:

»Die ermittelte Verzichtsquote reicht von 33,8 bis sogar 49,9 Prozent. Fünf der Studien nutzten das Sozioökonomische Panel (SOEP) als Datenquelle. Deutlich höher ist der Leistungsverzicht unter Erwerbstätigen. Die von der Bundesregierung genannten Studien schätzen, dass mindestens die Hälfte der Anspruchsberechtigten mit Einkommen aus Erwerbstätigkeit freiwillig auf Hartz-IV-Leistungen verzichten. Je nach Erhebung wurde für diese Gruppe eine Verzichtsquote von 48,4 bis 63 Prozent berechnet.«

Nun werden sicher viele mit Prozentzahlen an sich nicht viel anfangen können. Was muss man sich darunter vorstellen? Bei der Übersetzung in Absolutzahlen wird deutlich, dass wir hier keineswegs über Peanuts reden:

»Offiziell gab es im Jahr 2017 laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) rund 4,36 Millionen erwerbsfähige Hartz-IV-Empfänger. Ausgehend von einer Verzichtsquote von 33,8 Prozent hätten in diesem Jahr weitere rund 2,22 Millionen Erwerbsfähige einen Hartz-IV-Anspruch gehabt. Stellen diese Personen jedoch keinen Antrag auf Grundsicherungsleistungen, tauchen sie auch nicht in der Grundsicherungsstatistik der BA auf.«

Solche Zahlen sollte man sich merken.