Von der Einkommensarmut, der Zuwanderung und der ambivalenten Bedeutung des Arbeitsmarktes

Regelmäßig werden die sogenannten „Armutsquoten“ veröffentlicht – genauer gesagt, die Quoten der von Einkommensarmut bedrohten Menschen, wie das die Statistiker offiziell nennen. Bekanntlich sind die immer wieder gerne Gegenstand interessierter Kritik, bei der es um die Infragestellung der Werte als Indikator für die Messung von Einkommensarmut geht. Die meisten Argumente, die dabei vorgetragen werden, sind allerdings nicht haltbar (vgl. dazu beispielsweise mit weiteren Nachweisen die Beiträge Von Armutsgefährdungsquoten und bedenklichen Entwicklungen hinter den großen Zahlen vom 29. August 2017 sowie Die ritualisierte (Nicht-)Debatte über Armut und Armutsgefährdung, weitere Armutsberichte und ein wissenschaftlicher Ordnungsruf vom 20. März 2017).

Nun hat das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) eine aktuelle Auswertung der jüngst erschienenen Daten des Statistischen Bundesamtes auf der Basis des Mikrozensus 2017 vorgenommen und veröffentlicht. Florian Diekmann hat eine Kernaussage der Analyse in der Überschrift seines Artikels so zusammengefasst: Armutsrisiko unter Einwanderern steigt. Seine Kurzfassung geht so: »Das Risiko, von Armut betroffen zu sein, hat im vergangenen Jahr … einen Höchststand erreicht – trotz glänzender Lage auf dem Arbeitsmarkt. Gestiegen ist die Gefahr ausschließlich für Migranten.«

»Auf den ersten Blick wirkt es paradox: Die Wirtschaft in Deutschland ist im vergangenen Jahr erneut stabil gewachsen, viele neue Arbeitsplätze sind entstanden und auch die Löhne legten deutlich zu – und dennoch ist der Anteil der Menschen gestiegen, die von Einkommensarmut bedroht sind. Die Armutsrisikoquote lag im Jahr 2017 bei 15,8 Prozent und damit 0,1 Prozentpunkte höher als im Jahr zuvor«, so Diekmann.

Offiziell hat das Statistische Bundesamt die Armutsquote für 2017 noch gar nicht mitgeteilt – sie findet sich aber bereits in einer Veröffentlichung der amtlichen Statistiker zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Und genau das haben sich die Wissenschaftler vom WSI angeschaut. Die Original-Veröffentlichung der Daten-Auswertung findet man hier:

➔ Eric Seils und Jutta Höhne (2018): Einkommensarmut in Deutschland erreicht neuen Höchststand. Eine Kurzauswertung aktueller Daten des Mikrozensus 2017. Policy Brief WSI Nr. 28, Düsseldorf: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI), August 2018

Die beiden folgenden Abbildungen visualisieren zentrale Ergebnisse:

Seils und Höhne bilanzieren: »Insgesamt lebten 2017 nach den aktuellen Daten des Statistischen Bundesamtes 15,8 Prozent der Bevölkerung in Einkommensarmut. Trotz der nur geringen Zunahme um 0,1 Prozentpunkte handelt es sich dabei um einen neuen Höchststand seit Beginn der Zeitreihe im Jahre 1996 … Wie die Abbildung deutlich macht, ist dies allein auf die Zunahme der Armut in der Gruppe der Einwanderer zurückzuführen, deren Armutsquote zuletzt nochmal deutlich auf nun 30,3 Prozent gestiegen ist. Gleichzeitig ist die Armut unter den Menschen ohne Migrationshintergrund um 0,3 Prozentpunkte zurückgegangen.« Und eine erste wichtige Differenzierung: »Unter denen, die ihren Migrationshintergrund quasi von ihren Eltern geerbt haben, hat sich die Armutsquote zumindest nicht erhöht. Daraus geht hervor, dass die Einwanderung der vergangenen Jahre zu einem Anstieg der Armut geführt hat, der jedoch allein zu Lasten der Einwanderer geht.«

Gerade im öffentlichen Diskurs wird oft auf die „Kinderarmut“ geschaut. Hier führen die beiden Autoren aus, was sie bereits im vergangenen Jahr berichtet haben (vgl. dazu auch den Beitrag Einkommensarmut von Kindern und Jugendlichen steigt durch Zuwanderung. Am Ende geht es wieder einmal um den Arbeitsmarkt vom 18. April 2017):
»Ein besonders großes Interesse gilt der Kinderarmut, die 2017 um weitere 0,2 Prozentpunkte auf 20,4 Prozent angestiegen ist. Das Armutsrisiko der Kinder und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund ist um 0,4 Prozentpunkte auf 12,8 Prozent gefallen. Unter den eingewanderten Kindern, aber auch den hier geborenen Kindern mit Migrationshintergrund ist hingegen jeweils ein leichter Anstieg zu konstatieren.«

In ihrem Fazit schreiben Seils und Höhne: »Grundsätzlich bleibt somit festzuhalten, dass der Anstieg der relativen Einkommensarmut in den vergangenen Jahren auf die Einwanderung zurückzuführen ist, während die hier geborene Bevölkerung davon nicht betroffen war. Im vergangenen Jahr hat sich daraus ein geringfügiger Anstieg der Armut in der Gesamtbevölkerung auf 15,8 Prozent ergeben … Angesichts dieser Entwicklungen bleibt es weiterhin die zentrale Herausforderung, die neu zugewanderten Migrant/innen sprachlich und beruflich zu qualifizieren und schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren.«

Das hört sich richtig an – zugleich aber auch einfacher, als es in Wirklichkeit ist. Gerade die Erfahrungen der vergangenen Jahre verdeutlichen, dass es eine Gewissheit früherer Zeiten nicht mehr in der bekannt engen Korrelation gibt: Wenn die Beschäftigung steigt, dann schlägt das unmittelbar durch in Form einer entsprechend sinkenden Einkommensarmut. Das hat unterschiedliche Ursachen, eine ist verbunden mit dem Charakter des relativen Armutsbegriffs, der nach international gängiger Konvention der Armutsmessung zugrundeliegt. Nach diesem Konzept wird die Einkommensarmut am Durchschnitt der jeweiligen Bevölkerung gemessen: Die Armutsrisikoschwelle liegt bei 60 Prozent des mittleren Einkommens, wobei dieses zur Vermeidung von Ausreißereffekten nicht am arithmetischen Mittel, sondern am Median gemessen wird (also die eine Hälfte hat weniger, die andere mehr als den Median-Wert). Wer weniger als 60 Prozent des Median-Einkommens hat, gilt als armutsgefährdet. Im Jahr 2016 lag die Einkommensschwelle für einen Single-Haushalt netto bei 969 Euro. Mit diesem Betrag muss man alle Ausgaben bestreiten – von der Miete bis zum Essen und anderen Aktivitäten. Wer die Preise in unserem Land kennt, der weiß: Wenn man weniger als einen solchen Betrag zur Verfügung hat, dann ist man arm.

Nun haben Durchschnitte immer das Problem, dass man sie erst dann richtig interpretieren kann, wenn man die Streuung der Werte um den Durchschnitt kennt, denn natürlich macht es einen Unterschied, ob die Menschen alle eng um den Durchschnitt herum liegen mit ihren Geldbeträgen – oder ob es eine große Spannweite zwischen unten und oben gibt.

Die ambivalente Bedeutung des Arbeitsmarktes und damit einer (Nicht-)Beschäftigung resultiert aus der eben nicht trivialen Frage, wie hoch denn die auf dem Arbeitsmarkt realisierten Löhne und die Transferleistungen sind (hier kann man dann auch die Debatte über einen „Lohnabstand“ zwischen der Sozialhilfe und den unteren Lohneinkommen verorten, auch wenn es offensichtlich viele noch nicht mitbekommen haben, dass das früher mal vorhandene „Lohnabstandsgebot“ im Sozialhilferecht nicht mehr existiert, weil es gestrichen wurde). Wenn also mehr Menschen erwerbsarbeiten, zugleich aber die Löhne vieler Arbeitnehmer anders als in den 1970er oder 1980er Jahren deutlich unter dem allgemeinen Verdienstdurchschnitt liegen, parallel vor allem die Erwerbseinkommen im oberen Drittel steigen und zugleich die Sozialleistungen abgesenkt wurden, was man alles beobachten konnte in den vergangenen Jahren, dann kann es durchaus sein, dass eine steigende Erwerbsbeteiligung eben nicht mehr automatisch zu einer absinkenden Einkommensarmutsquote führt.

Vor diesem Hintergrund muss man dann auch solche Meldungen lesen: »Trotz des Rekordstands bei der Beschäftigung und acht guten Konjunkturjahren ist das Armutsrisiko für Geringverdiener in Deutschland nicht geringer geworden. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen hervor.« Und weiter erfahren wir: »Demnach stagnierte die Armutsrisikoquote nach den zuletzt verfügbaren Daten von 2016 bei 7,7 Prozent der Erwerbstätigen. Sie stagniert damit seit 2011 … Die Zahlen machen deutlich, dass etwa jeder zwölfte Arbeitnehmer vom Konjunkturaufschwung und steigenden Einkommen nicht profitieren konnte. Häufig trifft dies gering Qualifizierte und Menschen ohne Berufsausbildung. Besser Qualifizierte konnten dagegen in den vergangenen Jahren teils erhebliche Einkommenszuwächse erzielen.« Und auch das muss man zur Kenntnis nehmen: »Der Antwort zufolge waren zuletzt 1,16 Millionen Erwerbstätige zusätzlich auf Arbeitslosengeld II angewiesen. Hinzu kommt eine Dunkelziffer von Menschen, die zwar Anspruch auf aufstockende Hilfe hätten, diese aber nicht beantragen. Die Regierung verweist in ihrer Antwort auf wissenschaftliche Studien, die von weiteren ein bis zwei Millionen Erwerbstätigen ausgehen, die kein ergänzendes Hartz IV beziehen, obwohl sie es könnten.«

Oder nehmen wir als ein anderes Beispiel den gesetzlichen Mindestlohn, den wir nun seit 2015 in diesem Land haben. Die Linksfraktion im Deutschen Bundestag wollte vom Bundesarbeitsministerium wissen, wie hoch der Mindestlohn in verschiedenen Regionen sein müsste, um mit einem Vollzeitjob auf ein Einkommen oberhalb des Hartz-IV-Anspruchs zu kommen. Henrike Roßbach fasst in ihrem Artikel Wenn der Mindestlohn nicht zum Leben reicht einen wichtigen Befund so zusammen: »In 63 von 401 Kreisen und kreisfreien Städten reichen für einen Single die heutigen 8,84 Euro Mindestlohn nicht, um über diese Schwelle zu kommen.« Wohlgemerkt, wir reden hier von alleinstehenden Personen in Vollzeitarbeit zu den Bedingungen der gesetzlichen Lohnuntergrenze. Die Mieten (vor allem angesichts der erheblichen Mietsteigerungen gerade im unteren Mietsegment aufgrund des in vielen Gegenden eklatanten Angebots-Nachfrage-Dilemmas) sind ein wesentlicher Faktor, selbst mit einer Vollzeitarbeit zu Mindestlohn als Alleinstehender unter das Existenzminimum zu fallen. Aber auch hier kann man eine erhebliche Streuung beobachten: »Besonders hoch müsste der Mindestlohn für ein Einkommen jenseits der Grundsicherung in Städten ausfallen, in denen auch die Mieten hoch sind: In Frankfurt etwa wären der Antwort der Bundesregierung nach 10,19 Euro notwendig, in Berlin 9,12 Euro. Besonders viele bayerische Städte und Kreise rangieren weit oben; etwa der Landkreis München mit 10,37 Euro, Ebersberg mit 10,19 Euro oder Kelheim mit 10,12 Euro. Am anderen Ende finden sich Kreise wie Freyung-Grafenau in Niederbayern, wo statistisch 7,52 Euro in der Stunde reichen für ein Einkommen über der Hartz-IV-Schwelle, oder das thüringische Gotha mit 7,75 Euro.« Das Original der Antwort der Bundesregierung findet man hier: Erforderliche Höhe des gesetzlichen Mindestlohns zur Armutsbekämpfung, Bundestags-Drucksache 19/3415 vom 16.07.2018.

Aber wieder zurück zu der Kernaussage der neuen Datenauswertung des WSI die Einkommensarmutsentwicklung betreffend. An den Zuwanderern hängt’s, zumindest was den Anstieg betrifft. Und an deren Arbeitsmarktintegration. Zu der Frage nach deren Stand gibt es ein typisches Wellenmuster, zumindest hinsichtlich der Flüchtlinge, die vor allem seit 2015 nach Deutschland gekommen sind. Waren anfangs trotz aller Warnungen von Arbeitsmarktexperten sehr hoffnungsvolle, teilweise extrem übertriebene Annahmen eine schnelle Arbeitsmarktintegration betreffend im öffentlichen Raum virulent, ist seit einiger Zeit die Berichterstattung gekippt und viele negative und frustrierende Botschaften werden unters Volk gebracht. Wie immer bei derart komplexen Fragen liegt die Wahrheit in der Mitte, deren Darstellung allerdings differenziert erfolgen muss, was schon immer ein Problem war.

Auf der einen Seite wird man mit solchen Meldungen konfrontiert: Erfolgreiche Integration – Immer mehr Flüchtlinge finden einen Job. Das hört sich gut an. Ende Mai wurde berichtet, dass »nach Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) rund 216.000 Menschen aus den acht Hauptasylländern inzwischen einen sozialversicherungspflichtigen Job (haben) – 60 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Zahl der arbeitslos gemeldeten Flüchtlinge stagniert seit Anfang 2017, von kleineren Schwankungen abgesehen, bei rund 180.000. Das liegt daran, dass weniger Flüchtlinge kommen und sich viele nach wie vor in Integrationskursen befinden, aber auch an der gestiegenen Erwerbstätigkeit.« Und weiter: »Gerade Branchen mit vielen Helferjobs wie das Gastgewerbe bieten Flüchtlingen gute Einstiegschancen, solange die Voraussetzungen stimmen: „Die Sprache ist eine große Herausforderung, gerade beim Thema Ausbildung“, sagt die Hauptgeschäftsführerin des Branchenverbands Dehoga, Ingrid Hartges. Zwölf Prozent der 70.000 arbeitslos gemeldeten Flüchtlinge, die zwischen Februar 2017 und Januar 2018 einen Job fanden, landeten im Gastgewerbe. Größte Aufnahmebranche bleibt mit knapp einem Drittel die Zeitarbeit.«

Und Nadine Oberhuber hat ihren Beitrag dazu unter diese Überschrift gestellt: Besser als gedacht. Sie arbeitet sich an einigen Zahlen ab: 260.000 Flüchtlinge dürfen seit 2017 arbeiten. 500.000 Flüchtlinge suchen Arbeit: »187.000 Menschen mit Schutzstatus sind derzeit offiziell als arbeitslos gemeldet. Diese Zahl hat sich seit Sommer 2017 nicht groß verändert. Die Zahl der unterbeschäftigten Flüchtlinge ist jedoch etwa doppelt so hoch – es sind 395.000 Geflüchtete. Zu ihnen zählt die Statistik der Arbeitsagentur jene, die gern mehr arbeiten würden, die, die in Umschulungen stecken oder zeitweilig durch Krankheit und Traumatisierung nicht arbeitsfähig sind. Die Zahl sinkt seit ihrem Höchststand von 2017 jedoch wieder. Vor einem Jahr gab es noch etwa 420.000 unterbeschäftigte Flüchtlinge. Eine halbe Million Flüchtlinge gelten laut Bundesagentur für Arbeit offiziell als arbeitssuchend. Dazu zählen jedoch auch jene Menschen, die noch Integrations- und Sprachkurse besuchen.« Aber auch solche Hinweise sollte man zur Kenntnis nehmen: »Allein in Bayern beenden in diesem Jahr außerdem rund 10.000 Geflüchtete einen Berufsvorbereitungskurs in den Berufsschulen, weil sie eine Ausbildung oder Arbeit antreten wollen. Bei vielen von ihnen läuft allerdings noch das Asylverfahren, deshalb kann es passieren, dass sie später noch abgeschoben werden. Das ist für sie – und ihre späteren Arbeitgeber – eine große Unsicherheit, mahnen die Industrie- und Handelskammern an.« 307.000 Flüchtlinge aus dem Irak, Syrien und Afghanistan haben Arbeit: »Davon haben knapp 240.000 eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen, weitere 69.000 Personen sind geringfügig beschäftigt. Allein von August 2017 bis Juli 2018 wurden 101.000 Flüchtlinge in Jobs vermittelt, sagt die Arbeitsagentur. Davon 80 Prozent am ersten Arbeitsmarkt.« Die Beschäftigungsquote der Flüchtlinge liegt damit aktuell bei 27,2 Prozent (Stand Ende Juni 2018). Für alle Ausländer (auch die aus EU-Ländern), liegt sie bei 49,3 Prozent, für Deutsche bei 68,3 Prozent. Das zeige, dass die Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge „einen langen Atem“ brauche. Und wo landen die meisten? 23.300 Flüchtlinge arbeiten in der Zeitarbeitsbranche: »Die beiden Branchen, in denen Flüchtlinge am häufigsten unterkommen, sind die Zeitarbeit – hier findet fast jeder Dritte Vollzeitbeschäftigte eine Anstellung – und das Gastgewerbe. Das meldete die Bundesagentur für Arbeit Ende Juni 2018. Auch das Baugewerbe, Wach- und Reinigungsdienste sowie der Handel stellten zuletzt viele Flüchtlinge ein. Jeder sechste Syrer und Iraker arbeitet bei einer Zeitarbeitsfirma, aber nur jeder fünfzigste Deutsche. Im Gastgewerbe finden 17 Prozent der Syrer und Iraker Beschäftigung, aber nur 3 Prozent der Deutschen arbeiten hier. In beiden Branchen sei die Fluktuation hoch, was die Aufnahme neuer Arbeitskräfte erleichtere. Zudem erforderten viele Jobs als Küchen-, Reinigungs- oder Montagepersonal keine guten Sprachkenntnisse, sagen Arbeitsmarktforscher des IAB.«

Aber man sollte weiter bei allen scheinbaren oder tatsächlichen Erfolgsmeldungen skeptisch bleiben: Der lange Weg der Integration auf dem Arbeitsmarkt, so hat Claudia van Laak ihren Hintergrund-Beitrag für den Deutschlandfunk überschrieben: »Viele Geflohene beziehen Sozialleistungen oder arbeiten im Niedriglohnbereich.« Thomas Liebig, Migrationsexperte der OECD, wird mit diesen Worten zitiert: „Also die robuste Arbeitsmarktsituation in Deutschland wirkt sich sehr positiv auf die Integration der Zuwanderer aus. Davon profitieren auch die Flüchtlinge, auch wenn die einen langen Weg in den Arbeitsmarkt haben, da dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben.“ Aber aus das gehört zur Bestandsaufnahme: Zwei von drei Menschen im Hartz-IV-Bezug sind Ausländer, sie leben entweder komplett oder als Aufstocker von der Grundsicherung.

Aber selbst wenn man angesichts der vorliegenden Daten und Berichte einen verhalten positiven Blick hat auf die schrittweise Arbeitsmarktintegration, muss man hinsichtlich des hier relevanten Themas Einkommensarmut davon ausgehen, dass nicht wenige der so Integrierten dennoch unter der Einkommensarmutsschwelle bleiben werden, zumindest für längere Zeit, wenn man sich die Verdienste in den für sie relevanten Branchen anschaut und vor allem berücksichtigt, dass nicht wenige von ihnen in Bedarfsgemeinschaften leben, wo Partner (mit einer oftmals sehr niedrigen Erwerbsbeteiligungsquote) und Kinder leben, so dass der Haushalt als solcher auch weiterhin auf aufstockende Leistungen angewiesen sein wird, was aber auch dann den Defiziten der familienbezogenen Leistungen in anderen Systemen liegt.

Schlussendlich noch der Hinweis, dass die Botschaft über die „Zuwanderungsabhängigkeit“ des Anstiegs der Einkommensarmutsquote natürlich nicht im luftleeren Raum gelesen werden kann und darf, sondern in einem gesellschaftlichen Klima, in dem die Skepsis bis hin zur Ablehnung von Zuwanderung stark zugenommen hat und in dem denjenigen, die von außen kommen, eine „Schuld“ an den sozialen Verwerfungen zugeschrieben wird. Das hat auch politische Übersetzungen gefunden: Die Abgrenzung nach außen wird zum globalen Trend, meint beispielsweise Stephan Kaufmann in seinem Beitrag Das nationale Kollektiv: »Das nationale Kollektiv schließt sich. Neu bewertet wird, wer zu „uns“ darf, und wer von denen, die schon hier sind, überhaupt zu „uns“ gehört. Die Abgrenzung nach außen wird radikaler ebenso wie die Forderung nach Gefolgschaft im Inneren. Das ist keine deutsche Besonderheit. Ähnliches findet in vielen Ländern statt. Ausländer- und Integrationsdebatten stehen auf der Agenda in Österreich, Ungarn, den USA, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Australien und in anderen Staaten.« Und Kaufmann sieht die deutsche Debatte gerade nicht als ein Werk der AfD an. Naheliegender sei, dass die AfD ein Produkt einer allgemeinen Bewegung ist, die sie trägt. Aber Teile in dieser Partei greifen das sozialpolitisch höchst relevant durchaus geschickt und gefährlich auf: »Die „neue soziale Frage“ sei nicht mehr die der „Verteilung des Volksvermögens zwischen oben und unten, sondern zwischen innen und außen“, so formuliert AfD-Mann Björn Höcke einen international weit geteilten Standpunkt.« Gerade die Instrumentalisierung sozialpolitischer Fragen durch den national-sozialen Höcke-Flügel der AfD wurde in diesem Blog bereits ausführlich am Beispiel der Rentenfrage thematisiert, vgl. dazu die Beiträge Die Rentenfrage als Lackmustest? Die AfD und ihre weiter ungeklärte sozialpolitische Ausrichtung vom 2. Juli 2018 sowie Von neoliberaler Kritik am „Rentensozialismus“ bis hin zu einem „völkischen“ Rentenkonzept des national-sozialen Flügels: Anmerkungen zum rentenpolitischen Nebel in der AfD vom 7. Juni 2018.
»Wie bei jeder Mobilisierung entspricht der Abgrenzung nach außen die Schließung des nationalen Kollektivs nach innen. Der Status des Inländers wird zum Privileg, für das man Gefolgschaft schuldet«, so Kaufmann in seinem Artikel. Und die „Schuld“-Zuweisung bei der Armutsentwicklung auf die Zuwanderer passt sich in dieses Modell für viele Menschen auch ganz offensichtlich und nachvollziehbar ein in die Wahrnehmung der Wirklichkeit, gleichsam „belegt“ durch Zahlen, wie sie auch in diesem Beitrag referiert wurden.

Aber zwischen Betroffenheit und „Schuld“ gibt es große, sehr große Unterschiede. Auf diese – eigentlich – Selbstverständlichkeit muss die Armutsforschung in Zukunft stärker hinweisen und zugleich darf sie die Fakten und differenzierte Befunde niemals unterschlagen.