Wenn Eltern zur Gefahr werden … Zahl der Inobhutnahmen der Jugendämter erreicht neuen Höchststand

Im Jahr 2012 haben die Jugendämter in Deutschland 40.200 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Das waren gut 1.700 oder 5 % mehr als 2011. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, hat die Zahl der Inobhutnahmen in den letzten Jahren stetig zugenommen, gegenüber 2007 (28.200 Inobhutnahmen) ist sie um 43 % gestiegen.

Mit diesen trockenen Worten beschreibt des Statistische Bundesamt in seiner Pressemitteilung „Zahl der Inob­hut­nah­men im Jahr 2012 auf neuem Höchst­stand“ eine höchst bedenkliche gesellschaftliche Entwicklung.

Eine Inobhutnahme ist eine kurzfristige Maßnahme der Jugendämter zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, die sich in einer akuten, sie gefährdenden Situation be­finden. Jugendämter nehmen Minderjährige auf deren eigenen Wunsch oder auf Grund von Hinweisen Anderer – beispielsweise der Polizei oder von Erzieherinnen und Erzie­hern – in Obhut und bringen sie in einer geeigneten Einrichtung unter, zum Beispiel in einem Heim, so die Beschreibung des Statistischen Bundesamtes.
Betrachtet man die Entwicklung der Inobhutnahmen – also der Herausnahme von Kindern und Jugendlichen aus ihren Familien und die zeitweise oder auch längere Unterbringung beispielsweise bei Pflegeeltern oder in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe („Heime“), dann erkennt man seit dem Jahr 2005 eine beständige Zunahme der Fälle. Von 2005 bis 2012 ist die Zahl der Inobhutnahmen um 57% angestiegen.

Schaut man sich die detaillierten Werte an (vgl. hierzu Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Vorläufige Schutzmaßnahmen 2012, Wiesbaden 2013), dann kann man anhand der Relation der Zahl der vorläufigen Schutzmaßnahmen je 10.000 Kinder und Jugendliche im Alter bis 18 Jahre erkennen, dass es eine erhebliche Zunahme der Eingriffsintensität in den vergangenen Jahren gegeben hat: Lag dieser Wert beispielsweise im Jahr 2005 noch bei 17, ist er im vergangenen Jahr bei 30. Damit belief sich dieser relative Anteilsanstieg von 2005 bis 2012 sogar auf über 76%.

Schaut man sich die Altersverteilung der von einer Inobhutnahme betroffenen Kinder und Jugendlichen im vergangenen Jahr an, dann kann man erkennen, dass zum einen sehr kleine Kinder überproportional vertreten sind, also in der Altersgruppe bis 3 Jahre sowie die Jugendlichen ab dem 14. Lebensjahr.

Mit einem Anteil von 43 % war die Überforderung der Eltern beziehungsweise eines Elternteils der häufigste Anlass für die Inobhutnahme – insgesamt waren davon 17.300 Kinder und Jugendliche betroffen. An dieser Stelle kann man vermuten, dass die seit einigen Jahren zu beobachtende Thematisierung, Problematisierung und Sensibilisierung für Fragen der Kindeswohlgefährdung in den steigenden Fallzahlen bei den Inobhutnahmen ihren Niederschlag gefunden hat, vor allem bei den unter dreijährigen Kindern.

Außerdem weist das Statistische Bundesamt auf einen Zusammenhang mit der Flüchtlingsproblematik hin, denn weiter stark zugenommen hat die Zahl der Minderjährigen, die auf Grund einer unbegleiteten Einreise aus dem Ausland in Obhut genommen wurden. Insgesamt kamen 2012 rund 4800 Kinder und Jugendliche ohne Begleitung über die Grenze nach Deutschland, gut fünfmal mehr als im Jahr 2007, wo das 900 Minderjährige waren.

39 Prozent der betroffenen Minderjährigen kehrten nach der Betreuung wieder zu den Sorgeberechtigten zurück. Für ein knappes Drittel schlossen sich ambulante oder stationäre Hilfen an, etwa in einer Pflegefamilie, einem Heim oder einer betreuten Wohngemeinschaft.
Bei 13 Prozent waren stationäre Hilfen notwendig, beispielsweise in einem Krankenhaus oder der Psychiatrie. Die anderen wurden entweder ins Ausland zurückgeschickt – oder sie kamen wieder in ihre Pflegefamilie, ihr Heim oder eine stationäre Einrichtung, aus der sie weggelaufen waren.

Wer sich für weiterführende und vertiefende Analysen interessiert, der wird fündig in der Berichterstattung der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik an der TU Dortmund, die im Forschungsverbund mit dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) arbeitet. Die Arbeitsstelle gibt als Periodikum die Zeitschrift „KOMDAT“ (Kommentierte Daten der Kinder- & Jugendhilfe) heraus. Dort findet man – mit Blick noch auf die Daten des Jahres 2011 – eine fachliche Gesamteinordnung beisppielsweise in dem Beitrag von Sandra Fendrich und Agathe Tabel: Konsolidierung oder Verschnaufpause? Aktuelle Entwicklungen bei den Hilfen zur Erziehung, in: KOMDAT, Heft 3/2012, S. 11-13. In diesem Beitrag wird parallel zum Anstieg der Inobhutnahmen – die ja erst einmal „nur“ eine kurzfristige Maßnahme der Herausnahme eines Kindes oder eines Jugendlichen aus seinem familialen Setting darstellt – herausgearbeitet, dass es insbesondere bei der Fremdunterbringung und hierbei bei der Heimunterbringung starke Zunahmen gegeben hat. Und auch in diesem Beitrag wird auf die Zunahme der unbegleitet eingereisten Minderjährigen hingewiesen: »So werden in der Heimerziehung verstärkt männliche Jugendliche aufgrund einer „unzureichenden Grundversorgung“ untergebracht. Einiges deutet hier auf unbegleitete Flüchtlinge hin, die in Heimen und betreuten Wohneinrichtungen eine Bleibe finden. Die damit verbundenen Herausforderungen mit Blick auf adäquate Unterbringungssettings sind nicht zu unterschätzen. Es zeigen sich bei vielen Jugendlichen komplexe Problemlagen, bedingt durch das Verlassen ihres Herkunftslandes, ihrer Heimat mit womöglich unter- schiedlichen kulturellen Hintergründen und vor allem dort erfahrene Traumata, etwa durch Kriegserlebnisse.«

Auch freiberufliche Künstler und Publizisten in Deutschland haben ein Stück Bismarck – die Künstlersozialkasse. Und da gibt es ein schwarzes Loch

Ach, früher war alles irgendwie einfacher. Da gab es die vielen Arbeiter, einige Angestellte und ein paar Selbständige – vom eher armen Handwerker über den schon eher reichen Unternehmensinhaber aus dem Mittelstand bis hin zu den ganz reichen großbürgerlichen Familien. Und Beamte natürlich. Die gibt es heute auch noch, aber ansonsten ist alles irgendwie viel komplizierter geworden. Das hat sich natürlich auch niedergeschlagen in der sozialen Sicherung der Menschen. Die sich auf immer mehr ausgedehnt hat, wo doch Bismarck angefangen hat mit den Arbeitern und dann auch noch in einem so hohen Alter, dass nur wenige biblische Exemplare am Anfang überhaupt in den Genuss von Leistungen beispielsweise der Rentenversicherung gekommen sind. Irgendwann einmal hat man in diesem Land sogar die Lehrbuchexemplare für das, was man handfest-volkstümlich auch als „Hungerleider“ bezeichnet, unter den Schutzschirm dessen bringen wollen, was in Deutschland als Sozialversicherung eine eigene Wesenheit darstellt. Also hat man bereits 1983 eine neue Spielwiese der Sozialversicherung eingerichtet, die es allerdings hinsichtlich ihrer Klientel mit einer echten Herausforderung zu tun hat: die Künstlersozialkasse. Denn diese Einrichtung soll sich um eine an sich schon sehr heterogene Personengruppe kümmern, die zudem noch als freiberuflich tätige Selbständige agieren, also eben nicht in einem Arbeitnehmerstatus sind, aber in der Mehrzahl der Fälle so geringe Einnahmen haben, dass sie mindestens genau so, wenn nicht noch mehr schutzbedürftig sind, als viele „konventionelle Arbeitnehmer“. Etwa 177.000 Selbständige mit mehr als 100 verschiedenen Berufen sind in der Künstlersozialkasse (KSK) versichert. Es handelt sich tatsächlich in der Mehrzahl der Fälle um „arme Schlucker“: Das Jahreseinkommen eines Mitglieds in der KSK beläuft sich im Durchschnitt auf gerade einmal gut 14.500 Euro.

Schauen wir uns die Selbstbeschreibung dieser Künstlersozialkasse genauer an:

»Das Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) und die vom Gesetzgeber mit der Umsetzung dieses Gesetzes beauftragte Künstlersozialkasse (KSK) sorgen dafür, dass selbständige Künstler und Publizisten einen ähnlichen Schutz der gesetzlichen Sozialversicherung genießen wie Arbeitnehmer. Sie ist selbst kein Leistungsträger, sondern sie bezuschusst die Beiträge ihrer Mitglieder zu einer Krankenversicherung freier Wahl und zur gesetzlichen Renten- und Pflegeversicherung. Selbständigen Künstlern und Publizisten, die in der KSK sind, steht der gesamte gesetzliche Leistungskatalog zu. Sie müssen dafür aber nur die Hälfte der jeweils fälligen Beiträge aus eigener Tasche zahlen, die KSK stockt die Beträge auf aus einem Zuschuss des Bundes (20 %) und aus Sozialabgaben von Unternehmen (30 %), die Kunst und Publizistik verwerten. Welchen Monatsbeitrag ein Künstler/Publizist im Einzelnen an die KSK zahlt, hängt von der Höhe seines Arbeitseinkommens ab.« (Quelle: Künstlersozialkasse – Kurzcharakteristik)

Das hört sich gut an und ist auch gut gedacht – aber wie immer stecken die Probleme des Teufels im Detail. Und das Detail findet sich in der Kurzbeschreibung unter dem Stichwort „Sozialabgaben von Unternehmen (30%), die Kunst und Publizistik verwerten“, eine Formulierung, die so unschuldig neben dem Zuschuss des Bundes steht, dass man sie glatt überlesen könnte. »Vom Bund beziehungsweise Steuerzahler gab es … 2012 immerhin 160 Millionen Euro, das ist ein Fünftel des Etats der Künstlersozialkasse. Weitere 30 Prozent stammen von Verlagen, Theatern, Galerien, Werbeagenturen, Museen oder gar Zirkus-Unternehmen«, so Thomas Öchsner in einem Anfang Juni in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikel „Soziale Absicherung für Kreative ist in Gefahr„. Er schreibt weiter und zum Kern des aktuellen Problems vorstoßend: »Wer regelmäßig selbständigen Künstlern einen Auftrag erteilt, muss eine Künstlersozialabgabe in Höhe von 4,1 Prozent auf die entsprechenden Honorare entrichten. Etwa 150.000 sogenannte Verwerter tun dies bereits. Tausende Unternehmen zahlen allerdings nicht oder wissen gar nicht, dass sie zahlen müssen.«

Das europaweit einmalige System der Sozialversicherung von freien Künstlern und Autoren, eingeführt von der früheren sozial-liberalen Koalition, droht in eine finanzielle Schieflage zu geraten, weil die gegenwärtige Bundesregierung es nicht geschafft hat, entgegen den Wünschen der Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsminister Bernd Neumann (CDU), schärfere Kontrollen an dieser Stelle gesetzlich zu verankern. Was genau ist das Problem? Hierzu Thomas Öchsner:

»Seit 2007 soll die gesetzliche Rentenversicherung prüfen, ob sich Unternehmen vor der Abgabe drücken – zunächst recht erfolgreich. Binnen zweier Jahre trieben die amtlichen Kontrolleure 62 Millionen Euro zusätzlich ein. Seit 2010 wird aber wesentlich lascher geprüft. 2011 kamen lediglich etwa 560.000 Euro an Nachforderungen zusammen – bei Umsätzen von 137 Milliarden in der Branche, die Kreativwirtschaft genannt wird. Der Grund: Die Rentenversicherung fordert fürs Nachhaken extra Geld, hat dafür aber nichts bekommen.«

Und weil die nichts dafür bekommen, wollen sie jetzt nicht mehr prüfen, könnte man vermuten – was institutionenegoistisch durchaus nachvollziehbar wäre, kann man sich doch gut vorstellen, dass es bei den vielen kleinen Krautern, die in diesem Bereich als Auftraggeber unterwegs sind, ziemlich aufwendig sein muss, zu prüfen und dann relativ bescheidene Beträge einzufordern. Die Rentenversicherung selbst hat den Aufwand auf 50 Millionen Euro taxiert, während das BMAS nur von fünf Millionen Euro ausgeht. Eigentlich sollte die regelmäßige Prüfung der Abgabepflicht der Unternehmen gesetzlich festgeschrieben werden als Pflichtaufgabe der Deutschen Rentenversicherung. Hiergegen gab es aber Widerstand – von Seiten der Wirtschaftsfunktionäre, denn die Wirtschaftsverbände protestierten gegen das Vorhaben, angeführt von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) und des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), assistiert vom Bund der Steuerzahler. Aus den Plänen eines Teils der Bundesregierung wurde nichts:
»Die FDP hatte Einwände, Wirtschaftspolitiker der Union opponierten, sodass es in den Ausschüssen des Bundestags keine Mehrheit für die Pläne gab. Eine ausgeweitete Prüfpflicht hätte „einen bürokratischen Rattenschwanz nach sich gezogen. Jeder Metzger, jeder kleine Einzelhändler, der Geld für Werbung oder eine Internetseite ausgibt, wäre prüfpflichtig geworden“, sagt Gitta Connemann, Mitglied im Parlamentskreis Mittelstand der Unionsfraktion.«

Die Folgen könnten erheblich sein, denn das Bundesarbeitsministerium befürchtet, dass der Künstlersozialkasse so jährlich bis zu 50 Millionen Euro an Einnahmen verloren gehen. Das Ministerium rechnet vor, dass der Abgabesatz für die zahlenden Unternehmen 2014 bereits auf 5,2 Prozent und bis 2016 auf über sechs Prozent anziehen wird aufgrund dieser Ausfälle an Beitragseinnahmen. Staatsminister Neumann wird zitiert mit der zutreffenden ordnungspolitischen Problematisierung: „Dann müssen die abgabeehrlichen Arbeitgeber für die anderen mitbezahlen. Das ist mit dem Grundsatz der Abgabegerechtigkeit nicht vereinbar“. Faktisch bedeutet der Kontrollverzicht  ein Schutz von Sozialversicherungsbetrügern durch Untätigkeit. Logisch zu Ende gedacht, könnte die Abgabepflicht degenerieren zu einer freiwilligen Spende.

Mittlerweile geht die Entwicklung genau in die angedeutete Richtung: Ende Juli berichtete wieder die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift „KSK will höhere Abgaben von den Unternehmen„: Die Künstlersozialabgabe ist bereits von 3,9 auf 4,1 Prozent im Jahr 2013 gestiegen. »Bald wird es für die zahlenden Auftraggeber noch teurer: Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung wird die Abgabe von 2014 an auf 5,2 Prozent klettern. Sie erhöht sich damit innerhalb von gut einem Jahr um mehr als 30 Prozent.« Um mehr Geld einzutreiben, wird nun erneut an der Künstlersozialabgabe geschraubt – was aber nichts anderes ist als eine Notlösung.

Unter der Nummer 43188 gibt es eine bis zum heutigen 6. August laufenden Petition „Prüfung der Abgabepflicht zur Künstlersozialversicherung durch Rentenversicherung vom 10.06.2013“, mit der der Deutsche Bundestag aufgefordert wird, die »Deutsche Rentenversicherung gesetzlich dazu (zu) verpflichten, im Rahmen ihrer Betriebsprüfungen – spätestens alle vier Jahre – zu kontrollieren, ob die Unternehmen, die freischaffende Künstler und/oder freischaffende lehrende Künstler beschäftigen, ihrer Abgabeverpflichtung nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz nachgekommen sind.« Die notwendigen 50.000 Unterschriften, damit sich der Bundestag nochmals mit der Angelegenheit beschäftigen muss, sind zwar erreicht worden, aber es gilt als unwahrscheinlich, dass sich in absehbarer Zeit noch etwas verändern lässt.

Der Initiator der Petition, Hans-Jürgen Werner, Syndikus des Präsidiums des Deutschen Tonkünstlerverbandes, wurde zu der Thematik interviewt: „Viele Unternehmen drücken sich einfach„, so ist das Gespräch überschrieben. An einem Beispiel wird eingangs deutlich, dass die Problematik auch viele kleine Unternehmen betrifft: Auf die Frage »Ein freier Webdesigner entwirft eine Homepage für den Fahrradladen um die Ecke und aktualisiert sie dreimal im Jahr. Muss der Laden dafür zahlen?«, antwortet Werner: »Ja, hier wird die Abgabe in Höhe von derzeit 4,1 Prozent des Honorars fällig.« Das Beispiel verdeutlicht sicher – auch wenn Werner das im weiteren Verlauf als Nebenproblem bezeichnet – die Problematik, dass es sicher viele kleine und sehr kleine Unternehmen gibt, die schlichtweg nicht wissen, dass sie abgabepflichtig sind.

Auch ein weiteres Problem wird in dem Interview angesprochen: Die Künstler müssen ihr erwartetes Einkommen nur schätzen, um die Höhe der Beiträge festzusetzen. Auch daraus resultiert natürlich ein gewisses Potenzial für zu geringe Beitragseinnahmen. Werner verweist hier auf die Kontrollen bei den Mitgliedern der Künstlersozialkasse, verlangt an dieser Stelle aber keineswegs mehr Kontrollen wie bei den Unternehmen.

Wie dem auch sei – die Zukunftsfähigkeit der Künstlersozialkasse ist von großer Bedeutung weit über den sehr heterogenen Bereich der Künstler und Publizisten im engeren Sinne hinaus: Denn diese Form der Absicherung wird durchaus auch explizit als Vorbild für eine mögliche Lösung des Sicherungsproblems einer wachsenden Gruppe genannt, bei der ein erheblicher Handlungsbedarf besteht: den digitalen Tagelöhnern (vgl. hierzu den Artikel „Davon kann niemand leben“ von Caspar Dohmen). Und auch hier wird die Frage, ob und dann wie es gelingen kann, Auftraggeber zu verbeitragen, die entscheidende sein.

Im Schneckentempo durch ein gesellschaftspolitisches Minenfeld: Pflegepolitik im Dickicht der Expertenbeiräte, wohlfeiler Forderungen und den Niederungen ihrer Realität

In den Anfangszeiten des Internets wurde „www“ gerne auch mal übersetzt mit „warten, warten, weiterwarten“. Mit Blick auf die deutsche Pflegepolitik könnte man dies abwandeln in „warten, weiterwarten, Pflegereform“, wobei an dieser Stelle darauf Wert gelegt wird, dass Reform hier in seinem ursprünglichen Sinne verstanden wird, also als eine Verbesserung eines Handlungsfeldes, nicht als Abbau sozialstaatlicher Leistungen, was mittlerweile aber leider die vorherrschende Verständnisvariante von „Reform“ in der Sozialpolitik geworden ist.

Nehmen wir als Beispiel das – es lässt sich leider nicht in weniger drastischen Worten formulieren – „Gewürge“ um eine Weiterentwicklung des von allen Seiten als defizitär und kontraproduktiv gebrandmarkten Pflegebedürftigkeitsbegriffs als Grundlage für Leistungen nach dem SGB XI, also der Pflegeversicherung. Bereits die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hatte noch zu Zeiten der Großen Koalition die Erarbeitung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs bei einem dafür eingesetzten Pflegebeirat in Auftrag gegeben. Im Jahr 2009 hatte dann dieser Pflegebeirat, damals noch unter dem Vorsitz von Dr. Jürgen Gohde, einen ersten Bericht veröffentlicht (im Januar 2009 den Abschlussbericht und im Mai 2009 einen Umsetzungsbericht).

Leider in einem Jahr, in dem eine Bundestagswahl stattgefunden hat, was dann dazu führte, dass man die Umsetzung auf die sich anschließende Legislaturperiode verschoben hat. Das nun war die derzeit gerade zu Ende gehende Legislaturperiode der schwarz-gelben Koalition, die am Anfang ihrer Regierungszeit ja eigentlich die Ergebnisse des Pflegebeirats hätte umsetzen sollen. Statt das zu tun, wurde ein neuer Pflegebeirat berufen mit dem gleichen Arbeitsauftrag wie der erste. Der bisherige Vorsitzende des Gremiums, Jürgen Gohde, lehnte nach einigen Gesprächen die Übernahme des Vorsitzes des neu-alten Gremiums ab, war ihm doch schnell klar geworden, dass hier erneut hinsichtlich der dringend notwendigen Reform der Pflegeversicherung auf Zeit gespielt werden sollte, um gerade nichts tun zu müssen, weil man immer auf den Beirat verweisen konnte. Insofern war es auch „konsequent“, dass der neue „Expertenbeirat zur konkreten Ausgestaltung eines neuen Pflegebedürftig­keitsbegriffs“ erst im Frühjahr 2012 seine Arbeit aufnehmen konnte – wohl wissend, dass damit die Ergebnisse des Gremiums genau in dem nächsten Wahljahr veröffentlicht werden, so dass man erneut die konkrete Umsetzung von was auch immer in die dann kommende Legislatur verschieben kann. So ist es ja jetzt auch gekommen.

Nach vielen Querelen wurde Ende Juni 2013 der „Bericht des Expertenbeirats zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ vom Bundesgesundheitsministerium veröffentlicht – begleitet von viel Kritik vor allem angesichts der relativen Unverbindlichkeit der finanziellen Konsequenzen der Vorschläge, was aber vom Gremium mit den fehlenden Vorgaben über den finanziellen Rahmen für eine Reform seitens der Politik begründet wurde. Abkehr von der Minutenpflege und dem engen Verrichtungsbezug, fünf Pflegegrade statt bislang drei Pflegestufen, so wichtige inhaltlich Punkte. Vor allem sollen künftig kognitiv und psychisch beeinträchtigte Menschen noch stärker von Pflegeleistungen profitieren als heute.

»Inoffiziell empfiehlt der Beirat, mindestens zwei Milliarden Euro im Jahr mehr ins System zu stecken. Im Bericht taucht diese Zahl nicht auf«, so Sunna Gieseke in ihrem Artikel „Die Krux mit den zwei Milliarden„. Wobei man diese zwei Milliarden Euro eher als eine untere Untergrenze zu verstehen ist: »Wenn mit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs viele besser und niemand schlechtergestellt werden solle, koste das Berechnungen des Pflegebeirats von 2009 etwa 4,2 Milliarden Euro im Jahr mehr«, so wird in dem Artikel SPD-Politikerin Hilde Mattheis zitiert. Jetzt ahnt man auch schon, warum viele in der Politik kalte Füße bekommen, wenn es um solche und dann auch noch zusätzlich zu mobilisierenden Beträge geht.

Insgesamt ist das also angesichts der erheblichen Probleme in der pflegerischen Versorgung der Menschen eine wunderbare Vorlage in Zeiten des Wahlkampfs – man muss an dieser Stelle aber sofort ein „eigentlich“ einfügen: Eigentlich eine gute Vorlage, wenn man denn mit diesem Thema punkten könnte. Aber man kann es drehen und wenden wie man will – obgleich Millionen Menschen und ihre Familie von Pflege betroffen sind in ihren unterschiedlichen Konfigurationen, eiern viele Politiker um dieses Themenfeld herum, als handelt es sich um ein Minenfeld, das man meiden sollte. Ehrliche Politiker sagen einem auch – wie heißt das heute neudeutsch: off-the-record – warum: Weil man mit Pflege angesichts der Komplexität der dort relevanten Fragen und vor allem angesichts der eigentlich erforderlichen (und dann auch zu finanzierenden) Ressourcen angesichts der Begrenzungen der Handlungsspielräume keine großen Blumentöpfe gewinnen kann, weil die oftmals berechtigten Forderungen aus dem Alltag immer größer sein werden als das, was die Politik real zu gestalten in der Lage zu sein scheint, um das mal etwas umständlich zu formulieren. Ein Politiker hat das mal auf den Punkt gebracht, als er sagte: Pflege ist ein „Verliererthema“, da kann man als Politiker nur verlieren.

Auch wenn es dem einen oder der anderen in der Politik nicht zusagt – damit erledigen sich ja nicht die realen Probleme und die zunehmende Zahl an Berichten über „Pflegemissstände“ oder „Pflegenotstand“ mag als Indiz angeführt werden, dass der Problemdruck im System steigt. Man muss an dieser Stelle in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, dass das nicht nur Probleme sind, die den stationären Altenpflegebereich betreffen, obgleich die Heime immer im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen – dort finden sich eben am ehesten die Beispiele, während über die Probleme im ambulanten und erst recht im häuslich-privaten Pflegebereich schlichtweg schwieriger zu berichten ist, was aber nicht heißt, dass dort keine oder deutlich weniger Probleme vorhanden sind.

Aber zurück zum Wahlkampf. Trotz der einschränkenden Ausführungen über das „Verliererthema“ Pflege hat sich die SPD in Person ihres Kanzlerkandidaten Steinbrück dem Thema angenommen und recht konkrete Forderungen formuliert: „Mehr Geld für mehr Pflegekräfte„, so Guido Bohsem in der Süddeutschen Zeitung. Anlass dafür ist der Versuch eines Schulterschlusses zwischen der SPD und der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Beide kritisieren, dass sich Schwarz-Gelb bisher nicht zu einer Reform der Pflegeversicherung durchgerungen hat. Das will Kanzler-Kandidat Steinbrück jetzt nachholen. Der Gewerkschaft ver.di geht es vor allem die Bezahlung der Pflegekräfte: Die Löhne müssten zwischen zehn und zwanzig Prozent steigen, um die in den kommenden Jahren benötigte Zahl an Fachkräften anzulocken, so ver.di-Chef Frank Bsirske. Laut Bsirske verdienen Pflegefachkräfte derzeit im Durchschnitt etwa 2.130 Euro im Monat. In der Krankenpflege lägen die Gehälter etwa 200 Euro höher. Die SPD fordert zusätzlich 125.000 Mitarbeiter für die Betreuung pflegebedürftiger Menschen zu gewinnen. Nun ist schon ein höhere Bezahlung ein heißes Eisen in diesem Bereich, aber auch wenn man die in der Pflege arbeitenden Menschen besser vergüten würde, man müsste erst einmal 125.000 zusätzliche Fachkräfte finden – nach allem, was wir bereits derzeit im System sehen, gibt es diese zusätzliche Zahl an Fachkräften gar nicht. Insofern ist es richtig und wichtig, dass der SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück auch und gerade die Ausbildung anspricht und dabei auf eine leider nur scheinbare Skurrilität hinweist – dass man trotz des doch von allen Seiten beschworenen Bedarfs an Fachkräften für die Ausbildung in der Altenpflege meistens sogar noch Geld mitbringen soll. In dem Artikel wird Steinbrück mit den Worten zitiert, »dass er das bislang fällige Schulgeld für die Ausbildung der Pflegekräfte abschaffen wolle. Es sei ein Skandal, dass die Azubis auch noch Geld zahlen müssten. In den meisten Bundesländern gibt es diese monatliche Gebühr, die im Schnitt bei 125 Euro liegt. Bayern und Niedersachsen haben das Schulgeld bereits abgeschafft … Steinbrück kündigte erneut an, den Beitrag zur Pflegeversicherung um 0,5 Prozentpunkte anheben zu wollen. Derzeit sind 2,05 Prozent vom Bruttolohn fällig, für Kinderlose 2,3 Prozent. Dadurch würden etwa sechs Milliarden Euro im Jahr zusätzlich ins System fließen. Diese Mittel reichten aus, um Demenzkranke besser zu betreuen, die künftigen Pflegekräfte kostenlos auszubilden und die derzeit Beschäftigten besser zu bezahlen, sagte Steinbrück.«

Vor dem Hintergrund dieser Vorschläge passt es dann auch, dass zeitgleich seitens der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung ein Positionspapier zum Thema veröffentlicht wurde, für das der Vorsitzende des Kuratoriums Deutsche Altenhilfe, Jürgen Gohde, maßgeblich verantwortlich ist:

Dirk Engelmann, Jürgen Gohde, Gerd Künzel und Severin Schmidt: Gute Pflege vor Ort. Das Recht auf eigenständiges Leben im Alter. Positionspapier im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin, August 2013

Das KDA zitiert in der Pressemitteilung „Deutschland braucht ein neues Verständnis von Pflege“ die Forderung des 25köpfigen Expertengremiums »einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff so rasch wie möglich einzuführen, die Teilhabemöglichkeiten älterer Menschen am gesellschaftlichen Leben zu verbessern, neue Wohnformen zu fördern und der Pflege eine Bedeutung zu geben, die nicht mehr ignoriert werden kann – in den Kommunen, in der Infrastruktur sowie in den Sozialgesetzen. Die Arbeitsgruppe hat die Probleme im derzeitigen System identifiziert. So sei das heutige Sozialrecht noch nicht ausreichend auf die Pflege ausgerichtet. Leistungen seien nicht genügend aufeinander abgestimmt, es fehle mit wachsender Dramatik an Fachpflegekräften. Die Arbeitsbedingungen in der Pflege seien häufig deshalb schlecht, weil sich die Pflegenden wenig Zeit für ihre Kunden nehmen könnten. Familien müssten besser unterstützt werden, wenn sie einen Pflegefall betreuten. Die Experten sahen faktisch keine Stellschraube im Pflegesystem, die nicht neu justiert werden müsse. Dazu  zähle auch eine deutlich bessere Finanzausstattung.«

Auch die KDA- und FES-Expertengruppe bezieht sich auf eine Erweiterung des bisherigen dreistufigen hin zu einem aus fünf Stufen bestehenden Pflegebedürftigkeitsbegriffs, wie er im neuen Bericht des Pflegebeirats – aufbauend auf die Vorarbeiten des Berichts aus dem Jahr 2009 – entfaltet worden ist. Als neu wird herausgestellt, dass auch Fragen der kommunalen Infrastruktur und eines fachübergreifenden Gesamtkonzeptes in dem Positionspapier angerissen worden sind. „Die Zukunft der Pflege liegt im Quartier“, so wird Jürgen Gohde in dem Artikel „Experten wollen mehr häusliche Pflege„von Anno Fricke zitiert. Die Experten sehen »ihr Programm als Blaupause eines zig Milliarden Euro schweren Investitionsprogramms, mit dem in den kommenden 15 Jahren ausreichend altersgerechte Wohnungen entstehen sollen, damit so viele Menschen wie möglich zu Hause gepflegt werden könnten.«

Letzendlich geht es um die Rückübertragung der Pflege in die Verantwortung der Kommunen.

Nichts in diesem Handlungsfeld ist wirklich neu, wenn man ehrlich ist, so auch die Behauptung, dass nunmehr die Fragen kommunaler Infrastruktur angerissen worden sind. Diese Fragen werden natürlich schon seit Jahren verhandelt und viele Kommunen und auch Träger haben hier versucht, neue Akzente zu setzen, ob das nun „Bielefelder Modell“ oder wie auch immer genannt wird. Wenn man zuspitzen muss, dann zeigen sich drei zentrale Probleme in diesem Feld: Zum einen die erhebliche kommunale Varianz (also wir haben ganz aktive und innovative Kommunen und gleichzeitig natürlich auch solche, die sich durch einen Totstell-Reflex charakterisieren lassen), zweitens sind die zahlreichen versäulten sozialrechtlichen Regelungen und die daran hängenden unterschiedlichen institutionellen Interessen eine echte strukturelle Barriere für eine im positiven Sinne wirkenden Kommunalisierung und drittens geht es wie immer um das liebe Geld und da fristet die bisherige kommunale Altenhilfe ein Mauerblümchendasein. Gerade zu diesem letzten Aspekt wurde vor kurzem eine interessante Publikation des Diakonischen Werks vorgelegt, die sich explizit mit dieser unangenehmen Frage befasst:

Diakonie Deutschland: Finanzierung von Altenarbeit im Gemeinwesen (= Diakonie-Texte 04.2013), Berlin, 2013.

Zurück zu dem neuen Positionspapier. Anno Fricke schreibt hierzu in senem Kommentar „Steinbrück im Pflegestellen-Dilemma„, die »Vorschläge des Kuratoriums Deutsche Altershilfe und der Friedrich-Ebert-Stiftung (sehen) vor, über Prävention und Rehabilitation Pflegebedürftigkeit so lange wie möglich hinauszuschieben oder ganz zu vermeiden. Zudem sollen die vorhandenen medizinischen, pflegerischen und sozialen ambulanten und stationären Versorgungseinrichtungen zu „integrierten medizinisch-pflegerischen Versorgungszentren“ weiterentwickelt werden. Das klingt gut. Nur: In der jüngeren Vergangenheit hat die Entwicklung einer wie immer gearteten integrierten Versorgung eher stagniert als Fortschritte gemacht. Auch die think tanks der Sozialdemokraten gehen mit ihrem richtigen Vorschlag den zweiten Schritt vor dem ersten.«

Das ist richtig, aber sie machen – so möchte man ergänzend anfügen – wenigstens überhaupt einen Schritt, während die derzeit regierenden Parteien durch eine – wenn überhaupt – nebulöse Inaussichtstellung einer besseren Welt natürlich nach der Wahl auffallen, selbst aber keine konkreten Vorschläge zur Abstimmung stellen. Vor dem Hintergrund der Ausführungen zum „Verliererthema“ Pflege aus Sicht wahlkämpfender Politiker verhalten sich die Regierungsparteien also durchaus „rational“ und die Kommentar-Überschrift „Steinbrück im Pflegestellen-Dilemma“ scheint dieses Verhalten auch noch zu bestätigen, denn kritisiert wird der, der konkrete Vorschläge gemacht hat, während die Wegducker und Abtaucher wieder einmal ungeschoren davon zu kommen scheinen. Das ist das eigentlich wirklich traurige an dieser Geschichte. Über alles andere könnte man diskutieren und streiten, beispielsweise über das neue Positonspapier, aber nicht über Nichts. Man kann nur hoffen, dass die Realitäts- und letztendlich Arbeitsverweigerung den Verantwortlichen auf die Füße fällt und dann richtig weh tut. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.