Glückliche Kühe für die Kunden, aber unglückliche Mitarbeiter? Wieder einmal werden Dumpinglöhne auch in der Bio-Branche thematisiert

In den vergangenen Jahren gab es regelmäßig eine Vielzahl an Berichten über problematische Arbeitsbedingungen und Lohndumpingversuche der Arbeitgeber im großen weiten Feld des Einzelhandels. Und nicht nur Namen wie der mittlerweile vom Markt verschwundene Schlecker tauchen dabei auf, auch Netto und andere Discounter schaffen es regelmäßig in die Medien. Hinter den vielen Berichten steht ein grundsätzliches, strukturelles Problem des Einzelhandels – und warum soll das nicht auch für ein besonderes Segment gelten, das aber immer noch mit dem Etikett des „alternativen“ – und das meint für viele: des „guten“, „besseren“ – Einzelhandels herumläuft? Gemeint sind hier die Biomärkte und vor allem die expandierenden Bio-Supermärkte.

Bereits im März 2010 geriet die Firma „Alnatura“ ins Visier der kritischen Berichterstattung. Die Süddeutsche Zeitung griff damals einen Bericht der taz auf und schrieb unter dem Titel „Yoga statt Tariflohn„: »Sie pochen auf umweltschonende Landwirtschaft und fairen Handel – doch niedrige Löhne gibt es auch bei Öko-Supermärkten. Alnatura bezahlt einige Beschäftigte unter Tarif.« Der Fall Alnatura war vor allem deshalb ein Einschnitt, weil die meisten Kunden der Bio-Branche bis dato davon ausgingen, dass Lohndumping ein Problem der Billiganbieter des konventionellen Einzelhandels sei.

Zudem, darauf hatte die taz damals hingewiesen: »Anders als viele Firmen der Alternativwirtschaft – etwa die taz – schreibt Alnatura hohe Gewinne: dem letzten veröffentlichten Jahresabschluss aus dem Geschäftsjahr 2007/2008 zufolge 9,3 Millionen Euro.« Die damaligen Vorwürfe entzündeten sich an dem Befund, »dass die Kette einige Mitarbeiter weit unter dem im Handel üblichen Tarifniveau entlohnt. Der niedrigste Stundenlohn lag bei 7,50 Euro. Ein Betrag, der um mehr als 15 Prozent unter dem Lohnniveau liegt, das beispielsweise die Tarifverbände für die Beschäftigten im Berliner Handel festgelegt haben«, so die Süddeutsche Zeitung in ihrem Artikel. Allerdings: Gegen geltende Gesetze hatte Alnatura nicht verstoßen, denn das Unternehmen ist nicht Mitglied im Arbeitgeberverband und daher auch nicht tarifgebunden. Unter Druck geriet damals auch Firmenchef Götz Rehn, einer der Pioniere und renommiertesten Unternehmer in der deutschen Bioszene. Der bekennende Anthroposoph, 60 Jahre alt, ist Gründer, Geschäftsführer und alleiniger Eigentümer von Alnatura. Zum damaligen Zeitpunkt war die Situation so, dass Alnatura Marktführer vor den Bioketten Denn’s Bio und Basic war. Der Umsatz belief sich auf 360 Millionen Euro und die Zahl der Beschäftigten auf 1.300. Aufgrund der Berichterstattung gab es dann allerdings eine schnelle Reaktion des Unternehmens in Form von teilweise kräftigen Lohnerhöhungen für bestimmte Mitarbeiterinnen und der Zusage, dass die Biomarkt-Kette mindestens Tarifgehälter zahlen wird und künftig auch bei Tariferhöhungen mitziehen will. Einen Rechtsanspruch haben die Mitarbeiter aber nicht.

Und nun berichtet die taz erneut von einem solchen Fall in der boomenden Bio-Branche, der sich auf den neuen Marktführer bezieht, der an Alnatura vorbeigezogen ist: »Deutschlands größte Öko-Supermarktkette denn’s expandiert rasant – auch auf Kosten der Mitarbeiter. Vielen zahlt Konzernchef Thomas Greim Dumpinglöhne. Oft müssen die Beschäftigten länger arbeiten als erlaubt,« so kann man in dem Artikel „Der Bio-Schlecker“ lesen. Immer geht es bei diesen Geschichten auch um Unternehmerpersönlichkeiten – bei Alnatura Götz Rehn, bei denn’s ist es Thomas Greim. Er ist der Chef von Deutschlands größter Öko-Supermarktkette und einige seiner Filialen nehmen zu wenig ein. Trotzdem eröffnet er in atemberaubenden Tempo einen Supermarkt nach dem anderen. Warum man bei diesem Unternehmen genau hinschauen sollte: Greim hat die meisten Biosupermärkte Deutschlands, eine Ladengattung, die immer mehr kleinere Geschäfte verdrängt. Mit seiner Marktmacht setzt er Standards für die Öko-Branche. Derzeit arbeiten 1.300 Mitarbeiter bei denn’s.
Worauf beziehen sich nun die aktuellen Vorwürfe, wie sie in der taz vorgetragen werden? Zum einen geht es um zu lange Arbeitszeiten und zu kurze Pausenzeiten. Gerade Filialeiter berichten von täglichen Arbeitszeiten von elf und mehr Stunden, was die Etikettierung des Unternehmens als „Ausbeuterladen“ verständlich werden lässt. Und natürlich geht es auch um die Bezahlung – nach den Aussagen der Gewerkschaft ver.di zahlen konventionelle Discounter wie Lidl besser aus die Öko-Supermarktkette. Hierzu zitiert Jost Maurin ein Beispiel in seinem Artikel:

»denn’s-Verkäuferin Schneider bekommt trotz mehr als zehn Jahren Berufserfahrung nach eigenen Angaben für 35 Stunden Arbeit pro Woche nur rund 1.500 Euro im Monat brutto und zusätzlich einmal jährlich Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Obwohl sie alle zwei Wochen fünf Tage hintereinander auch von 18.30 Uhr bis 20.15 Uhr im Laden steht, zahlt denn’s ihr keine Spätzuschläge. Das macht rund elf Euro pro Stunde – ein Drittel weniger als der Tarif, den Ver.di als Untergrenze mit den Arbeitgebern für den Einzelhandel in Hamburg vereinbart hat. denn’s hat die Tarifverträge der Branche nicht anerkannt – ganz so wie lange Schlecker.«

Natürlich wurde der Unternehmenschef mit den Vorwürfen konfrontiert und anders als andere Unternehmen hat er sich einem Gespräch gestellt. Auf die untertarifliche Bezahlung angesprochen wird er mit einer interessanten Argumentation zitiert:

»“Die Tarifverträge werden für den Mainstream gemacht“, antwortet Greim. Für die Discounter zum Beispiel, die viel mehr Umsatz pro Mitarbeiter machten als die Biobranche. Die Normierung durch die Tarifverträge würde „unsere Branche total diskriminieren“. Sein Argument lautet also: denn’s ist zu arm, um Tarif zu zahlen.«

Nach den eigenen Angaben des Unternehmens ist die wirtschaftliche Lage tatsächlich nicht berauschend, denn im Jahr 2012 hat denn’s etwa 180.000 Euro Gewinn erwirtschaftet – gerade mal 0,1 Prozent des Umsatzes. Hätte die Kette alle Gehälter auf Tarifniveau gehoben, wäre es wohl zu einem Verlust gekommen. Auch hier sind wir wieder mit einem strukturellen Problem der Branche konfrontiert: Die Kette hat zu viele Märkte, die zu wenig einspielen. Zitiert wird der Handelsexperte Thomas Roeb von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg: »Supermärkte dürften „nicht sehr viel weniger“ als zwei Millionen Euro im Jahr einnehmen, um rentabel zu sein.« Bei denn’s wird allerdings eingeräumt, dass ein erheblicher Teil der eigenen Märkte unter dieser Umsatzschwelle liegen.
Bleibt natürlich die Frage, warum das Unternehmen trotz dieser Restriktionen einen so markanten Expansionskurs fährt? Weil das Geschäftsmodell Biosupermarkt reif sei und man jetzt die Claims besetzen und abstecken müsse, sonst komme man zu spät und alles ist aufgeteilt, so die Argumentation des Firmenchefs. Getrieben wird die Expansion auch durch den Wettbewerb mit der Alnatura-Kette, die man mittlerweile hinsichtlich der Zahl der Märkte überholt hat, nicht aber mit Blick auf den Umsatz:

»Nach taz-Schätzungen lag der Umsatz pro Alnatura-Filiale im Geschäftsjahr 2011/2012 im Schnitt bei 3,7 Millionen Euro. Teilt man dagegen den denn’s-Umsatz durch die Zahl der von Thomas Greim betriebenen Märkte, kommt man auf weniger als die Hälfte: lediglich 1,6 Millionen Euro.«

Aus der Tatsache, dass der Umsatz pro Markt deutlich höher liegt, resultiert dann auch der Tatbestand, dass Alnatura genug Geld hat, um seinen Beschäftigten Löhne wenigstens auf Tarifniveau zu zahlen. »Das Beispiel Alnatura beweist also: Auch Biosupermärkte können Tariflöhne zahlen«, so Maurin in der taz. Letztendlich finanzieren die Beschäftigten über die niedrigeren Löhne die Expansionsstrategie des Unternehmens mit, der dann die niedrigeren Löhne rechtfertigt mit den zu geringen Umsätzen durch Expansion auch in umsatzschwache Lagen – eine Strategie, die tatsächlich einige Parallelen zu der Expansionsgeschichte von Schlecker aufweist. So auch die Schlussfolgerung von Maurin:

»Wenn denn’s der Bio-Schlecker ist, ist Alnatura der Bio-dm. Die Karlsruher Drogeriemarktkette zahlte ebenfalls früher als Schlecker Löhne auf Tarifniveau. Schlecker eröffnete Filialen in jedem noch so kleinen Dorf und kämpfte dann mit mickerigen Umsätzen. dm dagegen konzentrierte sich auf profitablere Standorte mit größerem Einzugsbereich. Dann ging Schlecker pleite. Kein gutes Omen.«

Da erscheint ein weiteres strukturelles Dilemma im Einzelhandel fast schon zwangsläufig: Ein kaum vorhandener Organisationsgrad der Gewerkschaft ver.di unter den Mitarbeitern bei denn’s und eine ausgeprägte Abneigung des Firmeninhabers gegen Betriebsräte, die es folgerichtig auch nicht gibt in seinem Reich.

Die Thematik hat es auch in die etablierte Wirtschaftspresse geschafft. So berichtet das Handelsblatt in einem längeren Artikel unter der Überschrift „Glückliche Kühe statt glückliche Mitarbeiter“ über die Vorgänge. In diesem Beitrag wird ebenfalls der bereits erwähnte Handelsexperte Roeb zitiert mit einer positiv gehaltenen Perspektive, die am Schluss dieses Beitrags zitiert werden soll:

»Deswegen glaubt Thomas Roeb von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, dass die Aussichten für die Angestellten in der Bio-Branche mittelfristig gar nicht so schlecht sind. Denn: „Der Image-Schaden für die Bio-Ketten wäre einfach zu groß“, so der Handelsexperte. Die öffentliche Berichterstattung dränge die Bio-Ketten-Chefs regelrecht zu einer angemessenen Bezahlung. „Die Löhne werden sich wohl eher ein wenig nach oben entwickeln.“«

Hoffen wir mal, dass er Recht bekommt mit seiner Einschätzung.

„Die“ Ärzte, das liebe Geld und die Angst der Funktionäre vor der Atomisierung der privaten Krankenversicherung und einer „Bürgerversicherung“ ante portas

Der Bundestagswahlkampf rückt immer näher und alle möglichen Akteure positionieren sich in sozialpolitischen Fragen. Derzeit haben sich Ärztefunktionäre zum 116. Deutschen Ärztetag in Hannover versammelt – und da geht es natürlich um das liebe Geld. Hinsichtlich der Finanzierung des Gesundheitswesens war in der nun auslaufenden Legislatur nichts Neues zu vermelden. Nur die Oppositionsparteien hängen weiter an ihrer Umbauidee einer „Bürgerversicherung“, über die nun wieder in vielen Medien berichtet wird – so beispielsweise in dem etwas einseitigen Artikel „Leider bürgerversichert?“ in der Online-Ausgabe des Handelsblatts. Dabei geht es nicht nur um die Art und Weise der Finanzierung, sondern auch um die sukzessive Auflösung des im internationalen Vergleichs mittlerweile einmaligen Modells einer dualen Krankenversicherungsstruktur mit gesetzlichen Kassen und privaten Krankenversicherungsunternehmen.

Vor kurzem hat die Bertelsmann-Stiftung gemeinsam mit dem Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) hierzu das Reformmodell einer „integrierten Krankenversicherung“ der Öffentlichkeit vorgestellt: Auch hier wird die Systemfrage gestellt, denn das Modell sieht die Zusammenführung der gesetzlichen (GKV) und privaten (PKV) Krankenversicherung vor. „Die Aufspaltung der Krankenversicherung ist ineffizient und problematisch für Selbstständige und Geringverdiener. Deutschland ist das letzte Land der Erde, wo dieses Modell besteht“, so wird Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung, zitiert. Bertelsmann Stiftung und vzbv haben einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt, um der Zweiteilung durch eine „integrierte Krankenversicherung“ ein Ende zu bereiten. Dazu gehört die Angleichung der ärztlichen Vergütung, die für die Ärzte insgesamt aufkommensneutral erfolgen solle. Leistungen sollen künftig gleich vergütet werden – unabhängig von der Krankenversicherung, die der Versicherte hat. Eine Differenzierung von Krankenversicherungsbeiträgen nach Alter oder individuellem Gesundheitsrisiko soll künftig ausgeschlossen sein. Die Finanzierung der Krankenversicherung soll aus drei Säulen gespeist werden: den Beiträgen von Arbeitnehmern, Arbeitgebern sowie aus Steuermitteln. Zu dem ganzen Modell gibt es eine ausführliche Studie:

Albrecht, M. et al.: Gerecht, nachhaltig, effizient. Studie zur Finanzierung einer integrierten Krankenversicherung, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, 2013 >> PDF-Datei

Und dann auch noch die Opposition mit ihrer Forderung nach einer „Bürgerversicherung“. Da muss man natürlich etwas entgegen halten und genau diese Rolle übernehmen einige Ärztefunktionäre derzeit in Hannover. Und raus kommt dann beispielsweise eine Schlagzeile bei „Spiegel Online“, die gelinde gesagt eine Zumutung darstellt: „Mediziner wettern gegen die Bürgerversicherung„. Im Untertitel heißt es dann: »Deutschlands Mediziner stützen Union und FDP. Beim Ärztetag warnen sie in drastischen Worten vor dem Ende der freien Medizin, sollten SPD und Grüne die Bürgerversicherung durchsetzen. Schwarz-gelb favorisiert stattdessen Zusatzbeiträge zu Lasten gesetzlich Versicherter.« Man möchte dann schon der Redaktion zurufen, dass es nun keineswegs „die Mediziner“ sind, die das fordern und wen auch immer stützen, sondern eine Gruppe von überwiegend männlichen Standesvertretern. Man kann sicher sein, dass es sicher so einige Ärztinnen und Ärzte vor Ort gibt, die das ganz anders sehen. Zumindest erfahren wir jetzt, wohin die Reise gehen sollte, wenn die bisherige Regierungskoalition weiter machen darf: »Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) kündigte an, stattdessen für einen Ausbau der Zusatzbeiträge einzutreten. Die CDU unterstützte die Forderung. Absehbare Kostensteigerungen im Gesundheitswesen gingen dann vor allem zu Lasten der Versicherten und Steuerzahler.«

Allerdings gibt es auch Dissens zwischen den Regierungsparteien und der Bundesärztekammer hinsichtlich der zukünftigen Finanzierung des Gesundheitswesens. Während der Bundesgesundheitsminister die bestehende Kassenfinanzierung im Grunde verteidigt (mit der erwähnten Verschiebung der Kostensteigerungen alleine auf die Schultern der Versicherten und Patienten), plädiert die Bundesärztekammer  für eine Systemwechsel hin zu einer „Kopfpauschale“ und hat hierfür eine „Reformskizze“ veröffentlicht, über die noch mit Gesundheitsökonomen gesprochen werden müsse.

Ulrike Henning hat ihren Beitrag dazu überschrieben mit „Kopfpauschale light„.

»Laut BÄK-Konzept sollen die gesetzlichen Krankenkassen wieder unterschiedliche Tarife festlegen können – allerdings als einheitlichen »Gesundheitsbeitrag« unabhängig vom Einkommen der Versicherten. Die Höhe des monatlichen Beitrags würde im Schnitt über alle Krankenkassen hinweg bei 135 Euro bis 170 Euro liegen. Nach unten abgefedert werden soll diese Variante der Kopfpauschale mit einer Belastungsgrenze von neun Prozent des »gesamten Haushaltseinkommens«. Wer darüber hinaus zahlen müsse, soll einen Sozialausgleich aus dem Gesundheitsfonds erhalten. Dieser würde aus Steuereinnahmen, Mitteln der Rentenversicherung und einem stabilen Arbeitgeberanteil gefüttert … Über ein steuerfinanziertes Gesundheits-Sparkonto für Kinder soll bis zum 18. Lebensjahr eine Reserve aufgebaut werden, mit der die BÄK offensichtlich auch für die gesetzlichen Krankenkassen Altersrückstellungen einführen will, die es bislang nur in der PKV gibt. Laut Montgomery würde es so zu einer Annäherung des bislang gespaltenen Versicherungssystems in der Bundesrepublik kommen. Allerdings könnten die 18-Jährigen dieses Geld dann auch mit in eine Privatversicherung nehmen.«

Es ist schon mehr als durchsichtig, in welchem Kontext diese Diskussionen stehen. Deshalb soll an dieser Stelle in einen anderen Bereich des Gesundheitswesens geschaut werden, in dem sich die Probleme zunehmend entfalten: den Krankenhäusern. Hierzu gibt es unter der Überschrift „Die Krise im deutschen Gesundheitswesen heißt Fallpauschale“ ein lesenswertes Interview mit der Medizinsoziologin Nadja Rakowitz über die fatalen Folgen der Ökonomisierung der Krankenhäuser für Patienten und Personal. Nadja Rakowitz, Geschäftsführerin beim Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ). »Der VDÄÄ sieht das Fallpauschalen-System seit Jahren im Zusammenhang mit dem stetigen Personalabbau und der Arbeitsverdichtung, die die eigentliche Krise für das deutsche Gesundheitswesen bedeuten.«

Eine aus den Fugen geratene Autostadt als Gesellschaftslabor, als „wilder Westen“ der Kreativität?! Auch bei uns gibt es soziale Gründer, die die Welt besser machen und Geld verdienen wollen

Bekanntlich dominieren Problembeschreibungen oftmals die Berichterstattung über soziale und sozialpolitische Themen. Immer wieder wird dann die Frage aufgeworfen, was denn mögliche Alternativen wären und wo man die finden und besichtigen könne. Da wird das Material schon erheblich dünner. Insofern ist die Erwähnung der Stadt Detroit als „Gesellschaftslabor“ etwas, was Interesse auslösen muss – steht doch Detroit als Synonym für das Zentrum der US-amerikanischen Automobilindustrie, insofern wird diese Metropolregion konsequenterweise auch als „Motor City“ bezeichnet: Der Hinweis auf Detroits „Big Three“ – Ford, General Motors und Chrysler – mag genügen. Der Name der Stadt ist gleichsam begriffsgeschichtlich aufgeladen, denn 1909 begann die Massenproduktion von Automobilen mit dem Ford Modell T in Detroit/Highland Park – und damit eine Phase, die jeder Soziologie- und Ökonomie-Student unter dem Begriff des „Fordismus“ in Verbindung mit dem „Taylorismus“ kennen sollte – charakterisiert durch Massenproduktion und Massenkonsum, Fließbandfertigung – für deren Einführung Ford und sein Modell T stehen – sowie kleinteilige Zerlegung von Arbeitsprozessen.

Detroit steht allerdings auch für den Niedergang dieser gesellschaftlich so prägenden Phase und vor allem der US-amerikanischen Auto-Industrie und bereits seit den 1960er Jahren befindet sich die Stadt in einem Prozess des Zerfalls und des Rückzugs.

Unter der bezeichnenden Überschrift „Willkommen in Reformmotor City!“ beschreibt nun Lu Yen Roloff interessante Bewegungen des Widerstands gegen den Zerfall und der Ausformung kreativer Strategien des Überlebens und Neuerfindens in einem hoch belasteten Umfeld.

Da gibt es beispielsweise die Non-Profit-Organisation „Motor City Blight Busters„, deren Freiwillige aufgegebene Häuser und Grundstücke bereinigen und neben anderen Dingen auch Gemeinschaftsgärten anlegen. In dieser Organisation kristallisieren sich durchaus uramerikanische Werte – »große Visionen gepaart mit hemdsärmeligem Do-it-yourself-Geist und Gemeinschaftssinn«, wie Roloff das ausdrückt. „Aufräumen, stabilisieren, verschönern und die Leute ins Boot holen. Das ist der einzige uns bekannte Weg, wie man eine Stadt neu erfinden kann“, mit diesen Worten wird John George zitiert, der Gründer und Kopf der „Motor City Blight Busters“-Organisation. Man muss sich die Ausgangssituation verdeutlichen, mit der diese Stadt konfrontiert ist: »Von den 700.000 Menschen in der Stadt Detroit – 85 Prozent von ihnen Afroamerikaner – leben ein Drittel der Erwachsenen und über die Hälfte der Kinder an der Armutsgrenze, abhängig von staatlichen Lebensmittelmarken. Noch mehr sind arbeitslos, in einigen Blocks sind es bis zu 70 Prozent, viele haben Probleme mit Alkohol und Drogen. Durch den Verlust von Steuern hatte die Stadt 2011 ein Haushaltsdefizit von 196 Millionen Dollar, musste Schulen und Polizeistationen schließen, Buslinien kappen und Obdachlosenheime schließen.«

Eine Reaktion auf diese Verhältnisse ist das Gründen sozialer Unternehmen. Als ein Beispiel wird die Firma „Empowerment Plan“ genannt. Die Non-Profit-Firma bildet »obdachlose Mütter zu Näherinnen aus und stellt sie nach drei Monaten zum Stundenlohn von zehn Dollar an. Die Firma hilft den ehemaligen Heimbewohnern auch, eigene Häuser zu mieten und organisiert mit Hilfe von befreundeten NGOs die komplette Einrichtung … Noch finanziert sich das Unternehmen durch Geld- und Sachspenden – unter anderem stammt das Futtermaterial aus recycelten Abfällen der Autoproduktion von General Motors. Doch bald sollen nach einem „Buy one, give one“-Modell hippe Großstädter ihre Wintermäntel kaufen und damit je einen Obdachlosenmantel mitfinanzieren.«
Veronica Scott, die Gründerin von „Empowerment Plan“, wird mit den Worten zitiert: „Woanders gründen Uniabsolventen Tech-Startups – wir in Detroit gründen Nonprofits und soziale Unternehmen.

Bemerkenswert ist auch die von der Knight Foundation geförderte Website „Urban Innovation Exchange„.  Hier werden die Sozialunternehmer der Stadt vorgestellt. »Etwa die Detroit Bus Company, die erste private Buslinie der Stadt, die touristisch interessante Ziele rund um Downtown abfährt. Die Touristen finanzieren mit ihrem 5-Dollar-Ticket den kostenlosen Transport für Arme mit. Oder das Restaurant Colors, das ehemalige Sträflinge zu Unternehmern ausbildet und alle Mitarbeiter vom Tellerwäscher bis zum Chefkoch genossenschaftlich beteiligt. Das Gemüse stammt von den urbanen Gärtnern der Stadt, die auf dem gemeinnützigen Eastern Market ihre auf Brachen angebauten Salatköpfe verkaufen.« Roloff schreibt dazu: »Die Stadt quillt über vor kreativen Machern, die ihre Community stärken wollen.«

Faszinierend ist auch die Urban-Gardening-Bewegung in Detroit (eine Bewegung, die neuerdings auch bei uns identifiziert wird, zumindest in einer Buchpublikation: www.urban-gardening.eu): »Überall in Detroit haben Privatpersonen, Kirchen, Schulen und Organisationen wie die Blight Busters Brachland in kleine Gemüsebeete und Gemeinschaftsgärten verwandelt. Mit geschätzten 1500 Anbauflächen und 185 Organisationen in diesem Bereich ist die Stadt nationaler Vorreiter … Schon jetzt schließen die Gärten eine wichtige Versorgungslücke in der Stadt. Weil zahlungskräftige Kunden fehlten, hatte 2006 die letzte große Supermarktkette die Stadt verlassen. 500.000 Menschen gelten seitdem als Bewohner einer sogenannten Food Desert, haben kaum Zugang zu frischem Obst und Gemüse und sind deswegen auf das Fertignahrungsangebot in den Liquor Stores angewiesen. In diese Lücke stoßen jetzt die rund 50 Marktgärten, die ihr Gemüse auf Detroits Frischemärkten unter dem Label „Grown in Detroit“ verkaufen. Insgesamt 170 Tonnen Lebensmittel produzieren sie im Jahr – mit einem Wert von einer halben Million Dollar.«

Faszinierend ist diese Entwicklung auch deshalb, weil das nichts Neues ist, sondern hier werden Bewältigungsmuster von Krise aktiviert, die wir beispielsweise in den 1920er und 1930er Jahren in Teilen Deutschlands in einer sehr ausgeprägten Form schon mal gehabt haben.

Nun wird der eine oder die andere sagen – Detroit ist aber weit weg und die Kultur und Mentalität der Amerikaner ist nun wirklich eine ganz andere als bei uns. Also werfen wir einen Blick auf die „Sozialunternehmer“ in Deutschland, was Jens Tönnesmann in der Online-Ausgabe WirtschaftsWoche unter dem etwas reißerischen Titel „Womit soziale Gründer Geld verdienen“ gemacht hat: »Klimawandel, Pflegenotstand, ungleiche Bildungschancen: wie Jungunternehmer zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme beitragen und damit Profit machen.« In diesem Artikel werden zahlreiche Beispiele vorgestellt von Menschen und Projekten, die als „Social Entrepreneurs“ bezeichnet werden – durchaus in einem bestimmten Maße angesichts des doch noch relativ geringen Umfangs dieses Bereichs innerhalb der Wirtschaft ein „Hype“-Thema in Wissenschaft und Teilen der Medien, die darüber berichten. „Es ist zwar eine kleine Szene, aber eine wachsende“, wird Steven Ney, Professor für Entrepreneurship an der Bremer Jacobs University, in dem Artikel zitiert.
„Wir wollen von unserem Unternehmen natürlich leben können, aber vor allem wollen wir etwas Sinnvolles tun“, mit diesen bezeichnenden Worten wird am Ende des Artikels Clemens Meyer-Holz, Mitgründer der Pflegeschule.de in Oldenburg zitiert. Aktuell verhandeln sie mit Krankenkassen darüber, die ihren Versicherten für ein paar Cent Zugang zu der Plattform verschaffen wollen.

Mit den „Social Entrepreneurs“ beschäftigen sich seit einigen Jahren zunehmend auch Wissenschaftler. Die Stiftung Mercator hat hierzu ein größeres Verbundprojekt gefördert („Innovatives Soziales Handeln – Social Entrepreneurship„), dessen Arbeitsergebnisse im vergangenen Jahr der Öffentlichkeit vorgestellt worden sind und die im Juli dieses Jahres als Buch veröffentlicht werden sollen. Mit Blick auf die etablierten Anbieter sozialer Leistungen haben sich einige interessante Befunde ergeben:
»Sozialunternehmer sind dann besonders erfolgreich, wenn sie mit den etablierten wohlfahrtsstaatlichen Akteuren zusammenarbeiten. 58 Prozent der innovativen Projekte werden in Kooperation zwischen neuen und traditionellen Akteuren entwickelt. Eine weitere wichtige Quelle für innovative Projekte (61 Prozent) sind Mitarbeiter etablierter Einrichtungen, die ihre innovativen Ideen innerhalb der bestehenden Organisationsstrukturen umsetzen – sogenannte Social Intrapreneure,« kann  man der Pressemitteilung zu der Verbundstudie entnehmen.
Weitere Hinweise gibt es in der folgenden Publikation:

Mercator Forscherverbund„Innovatives Soziales Handeln – Social Entrepreneurship“: Sozialunternehmer – Chancen für soziale Innovationen in Deutschland. Möglichkeiten der Förderung, Essen: Stiftung Mercator, September 2012 >> PDF

Abschließend betrachtet: Wir haben es hier noch mit einem Handlungsfeld zu tun, das erst am Anfang seiner Ausdifferenzierung zu stehen scheint – und man sollte skeptisch mitlaufend beachten, dass die Bedingungen für innovative Sozialunternehmen in Deutschland eher restriktiv bis verunmöglichend sind, aber nicht nur aufgrund der rechtlichen Ausgestaltung der Förderlandschaft bei uns, sondern auch aufgrund der entsprechenden Versäulung auch innerhalb der Wohlfahrtsverbände. Da sind noch einige dicke Bretter zu bohren. Dass das aber ein enormes Potenzial hat, kann man an den Ausführungen zu einem „inklusiven Design“ für Menschen mit Behinderungen und dem Beispiel „manomana“, einem Sozialunternehmen in Augsburg, nachvollziehen, die man auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ nachlesen kann.