Etwas mehr Licht auf die Umrisse der Menschen, die kommen. Zuwanderung von Flüchtlingen und EU-Ausländern nach Deutschland im Spiegel der Statistik

In dem Beitrag „Gute“ und andere Flüchtlinge, diese und solche Migranten? Differenzierungen bei Immanuel Kant, in der Bevölkerung und ihre mögliche Bedeutung für die (Nicht-)Integration vom 28. Mai 2016 wurde hier darauf hingewiesen, dass die bisherige Datenlage zu der nur scheinbar trivialen Frage, wie viele Menschen denn nun in den zurückliegenden Monaten zu uns gekommen sind, gar nicht so berauschend ist, wie man denken mag: »Überall kann man lesen oder hören, im vergangenen Jahr, also 2015, seien 1,1 Million Flüchtlinge zu uns gekommen. Diese Zahl wird abgeleitet aus den Bruttoerfassungen im sogenannten EASY-System, das der Erstverteilung von Asylbegehrenden dient. Nun ist das bekanntlich mit der Erfassung immer schon so eine Sache, besonders schwierig wird das natürlich in Ausnahmesituationen, wie wir sie im vergangenen Jahr erlebt haben, als täglich tausende Neuankömmlinge den deutschen Staatsboden betreten haben und zu registrieren waren.«

Letztendlich steht dahinter das Grundproblem, das wir auch aus anderen Bereichen kennen: Brutto ist nicht gleich netto. Der Migrationsforscher Herbert Brückner vom IAB hat den eben nicht trivialen Unterschied verdeutlicht an einer überschlägigen Berechnung, ausgehend von den (immer noch) genannten 1,1 Mio. Flüchtlingen, die nach Deutschland gekommen seien. Unter Berücksichtigung der nicht-erfassten Zuzüge abzüglich der Doppelzählungen, Weiterreisen sowie der unterschiedlichen Ausreisen kommt er auf eine Größenordnung von 777.000 Menschen, die man als Nettozuwachs bei der Flüchtlingsbevölkerung ansetzen könne.« So die damalige, noch gar nicht so alte Irritation.
Nunmehr aber liegen neue Daten vor und zumindest die statistischen Bilder, die wir von den Umrissen der Menschen zeichnen können, die zu uns gekommen sind, bekommen in der letzten Zeit immer mehr Konturen. Denn es sind ja nicht nur die Flüchtlinge, die gekommen sind (und von denen derzeit nur noch einige wenige hier eintreffen), sondern wir müssen auch eine erhebliche „Binnenwanderung“ innerhalb der EU in Rechnung stellen, also die Zuzüge (wie auch die Fortzüge) von EU-Ausländern nach bzw. aus Deutschland.

Beginnen wir mit dem Blick von ganz oben auf das Zuwanderungsgeschehen des vergangenen Jahres. Datengrundlage hierfür ist die Berichterstattung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das »vierteljährlich den Wanderungsmonitor (veröffentlicht), der Informationen über den Aufenthalt ausländischer Staatsbürgerinnen und -bürger in Deutschland zum Zweck der Erwerbstätigkeit enthält. Dabei wird auch Bezug auf die Zuwanderung insgesamt genommen, um den Aufenthalt zum Zweck der Erwerbstätigkeit besser in den Gesamtkontext des Wanderungsgeschehens einordnen zu können. Das Bundesamt greift für den Wanderungsmonitor auf statistische Auswertungen aus dem Ausländerzentralregister (AZR) zurück.«

In diesem Kontext hat das BAMF zum einen die Übersicht Erwerbsmigration nach Deutschland 2015 veröffentlicht, zum anderen das Freizügigkeitsmonitoring: Migration von EU-Bürgern nach Deutschland 2015.

Im vergangenen Jahr (2015) sind 1.810.904 ausländische Staatsangehörige nach Deutschland zu- und 568.639 abgewandert. Der Wanderungssaldo belief sich auf 1.242.265 Menschen. Wir hatten in den vergangenen Monaten vor allem die Zuwanderung der Flüchtlinge im Blick und deren Bedeutung wird ja auch erkennbar, wenn man sich anschaut, wie der Wanderungssaldo der Staatsangehörigen aus Nicht-EU-Staaten nach oben schießt.

Aber auch die Zuwanderung von Staatsangehörigen anderer EU-Staaten ist angestiegen und hat 2015 im Saldo mit 382.449 einen neuen Höchststand erreicht. Mit So viele EU-Ausländer wie nie ziehen nach Deutschland oder Zuwanderung von EU-Bürgern nach Deutschland auf Rekordhoch sind die entsprechenden Meldungen überschrieben.

Die meisten Zuwanderer aus EU-Staaten kamen demnach mit 174.779 Menschen aus Rumänien, gefolgt von Polen (147.910) Bulgarien (71.709) und dem jüngsten EU-Mitglied Kroatien (50.646). Damit stammen fast vier Fünftel (533.000) der im vergangenen Jahr zugezogenen EU-Ausländer aus den osteuropäischen Staaten. Neben Rumänien, Bulgarien und Kroatien sind das Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn.
Dies verdeutlicht einmal mehr die Anziehungskraft Deutschlands gerade auch im europäischen Raum mit seiner Freizügigkeit.
Mit gut 100.000 Menschen weitere 15 Prozent aus den südeuropäischen Staaten Griechenland, Italien, Portugal und Spanien in die Bundesrepublik. Mit Ausnahme Italiens hat sich die Zuwanderung aus diesen Staaten, die durch die Schulden- und Finanzkrise angestiegen war, damit zuletzt wieder abgeschwächt.
Insgesamt leben in Deutschland 4,1 Millionen der laut der Statistikbehörde Eurostat insgesamt 18,5 Millionen EU-Migranten. Es folgen Großbritannien (3,1 Millionen), Frankreich (2,2), Spanien (2) und Italien (1,8).

Und auch die Bundesagentur für Arbeit stellt seit Juni 2016 detailliertere Statistiken die Menschen mit einem Fluchthintergrund betreffend zur Verfügung, hier gab es ja bislang nur sehr rudimentäre Daten: Migration und Arbeitsmarkt, so heißt die Seite der BA-Statistik.
Mit dem Berichtsmonat Juni 2016 beginnt die Berichterstattung über Personen im Kontext von Fluchtmigration, die bei Arbeitsagenturen und Jobcentern gemeldet sind (vgl. auch die Hintergrundinformation Geflüchtete Menschen in den Arbeitsmarktstatistiken – Erste Ergebnisse). Als Personen im Kontext von Fluchtmigration oder kurz „Geflüchtete“ bzw. „Flüchtlinge“ werden Asylbewerber, anerkannte Schutzberechtige und geduldete Ausländer gezählt. Geflüchtete Menschen werden seit Juni 2016 auch in den Arbeitsmarktstatistiken detaillierter ausgewiesen.

Für die arbeitsmarktliche Einordnung der Zuwanderung relevant ist weiterhin der vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) herausgegebene Zuwanderungsmonitor, vgl. beispielsweise die aktuelle Ausgabe für Juni 2016. Dort findet man Daten zur Erwerbsbeteiligung, zur Arbeitslosigkeit und zur Inanspruchnahme von SGB II-Leistungen in den einzelnen Zuwanderergruppen.

Man kann aus den nun vorliegenden Daten einige wichtige grundsätzliche Ableitungen machen. Ganz offensichtlich ist die enorme Zuwanderung am aktuellen Rand, wobei man berücksichtigen muss, dass hinter den im Wanderungssaldo ausgewiesenen Zahlen weitaus höhere Bruttozahlen stehen. Beispiel: Wenn festgestellt wird, dass es 2015 einen Wanderungssaldo von 1,242 Mio. Ausländern gegeben hat, dann stehen dahinter 1,81 Mio. Zuzüge nach Deutschland sowie 567.000 Fortzüge aus Deutschland. Das sind schon erhebliche Zahlen, mit denen natürlich einige gerade auch sozialpolitische Herausforderungen verbunden sind, man denke hier nur an die Wohnraumversorgung oder gerade mit Blick auf die Zuwanderung der EU-Ausländer Aspekte der arbeitsmarkteichen Integration.

Die Zuwanderung wird ja nicht nur in Großbritannien von einem Teil der Bevölkerung negativ gesehen bzw. als Bedrohung empfunden. Auch in Deutschland sind die gesellschaftlichen Spannungen angestiegen, primär scheinbar fokussiert auf die Flüchtlinge vor allem aus Syrien und anderen Ländern, tatsächlich aber oftmals verwoben mit einer problembehafteten Wahrnehmung der Zuwanderung von EU-Bürgern, die ja aufgrund der Freizügigkeitsbestimmungen eine ganz andere Qualität hat als die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen. An die Oberfläche gespült wird das  dann oftmals in skandalisierenden Berichten, beispielsweise über „Armutszuwanderung“ von Bulgaren und Rumänen oder die „Flucht in die deutschen Sozialsysteme“. Seltener bis gar nicht wird die andere Seite der Medaille den „besorgten“ Bürgern präsentiert, also die Tatsache, dass – wenn wir mal bei Rumänien und Bulgarien bleiben – Tausende dort ausgebildeter Ärzte und Ärztinnen bei uns in Deutschland arbeiten und manche Krankenhäuser (gerade im Osten des Landes) schließen müssten, wenn sie nicht auf ausländische Ärzte zurückgreifen könnten. Eine andere Form der „wohlstandskluftbedingten“ Zuwanderung wird nie als Problem thematisiert, weil zahlreiche deutsche Haushalte davon handfest profitieren – gemeint ist die Beschäftigung von geschätzt 150.000 bis 200.000 Haushalts- und Pflegekräften im Rahmen der sogenannten „24-Stunde-Pflege“ von Pflegebedürftigen in deren Haushalten.

Es wird also – nicht wirklich überraschend, aber eben mit einer sehr verzerrenden Wirkung – selektiert nach dem Nutzen der Zuwanderung. Problematisiert und zuweilen auch medial aufgeblasen werden die Fallkonstellationen, bei denen man den Eindruck vermitteln kann, hier kommen Menschen, um uns was „wegzunehmen“. Ist allerdings das Gegenteil der Fall, dann wird da kaum oder gar nicht drüber gesprochen. Und damit auch nicht über die Verwerfungen, die das in den Ländern verursacht, aus denen die oftmals gut qualifizierten, auf alle Fälle nutzbringenden Arbeitskräfte kommen.

Das hier angesprochene Grundproblem ist eines der ungleichen Verteilung und der daraus resultierenden Anreize, die zu Gewinnern und Verlierern führen. Als Beispiel sei hier diese Meldung aufgerufen: Grexit der anderen Art. »Mehr als 500.000 Menschen sind im Zuge der Finanzkrise seit 2008 aus Griechenland ausgewandert. Die meisten von ihnen sind jung und gut ausgebildet«, so die Quintessenz des Artikels. über ein Land, das insgesamt 11 Mio. Anwohner hat. »Laut einer Studie der griechischen Zentralbank wanderten zwischen 2008 und 2013 rund 427.000 Griechen im Alter zwischen 15 und 64 aus. 2014 kamen laut den Erhebungen der griechischen Statistikbehörde noch einmal knapp 90.000 hinzu.« Und auch das ist nicht überraschend: »Es seien hauptsächlich gut ausgebildete Menschen, die Griechenland verlassen. Der Großteil der Auswanderer ist zwischen 20 und 30 Jahre alt. Das hat einen einfachen Grund: Die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen übertrifft zurzeit 50 Prozent. Die meisten Auswanderer gehen nach Großbritannien, Deutschland und in die Vereinigten Arabischen Emirate, heißt es im Bericht.« Nun hat es Migration in Form von (temporärer) Auswanderung immer schon gegeben. »Die Auswanderungswelle habe einen qualitativen Unterschied im Vergleich zu der in den Sechziger- und Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Damals wanderten rund eine Million Griechen hauptsächlich nach Deutschland und Belgien als Industriearbeiter aus. Diesmal seien es Ärzte und Ingenieure sowie andere gut ausgebildete junge Menschen, die das Land verlassen.«

Das wird natürlich ein Land wie Griechenland nicht nur schwächen, sondern möglicherweise auf Dauer schwer schädigen. Dem stehen auf der anderen Seite Profiteure gegenüber, zu denen in vielen Fällen auch und gerade Deutschland gehört. Man schaue sich einfach nur die Abbildung mit der Altersverteilung der Zuwanderer nach Deutschland, die 2015 aus EU-Staaten gekommen sind, an. Fast jeder Dritte ist zwischen 25 und 35 Jahre alt und damit in einer für den Arbeitsmarkt hoch interessanten Altersgruppe.

Das alles kann man den vielen Statistiken entnehmen, die nun sukzessive ausdifferenziert werden und ein immer genaueres Bild von den Umrissen der Zuwanderung erlauben. Was weiterhin offen bleibt sind die gesellschaftspolitischen Debatten über das, was man aus diesen Zahlen ableiten kann. Die kann man zumindest etwas mehr faktenbasiert führen. Von der Frage, ob man das gut oder schlechter findet, ob man das will oder nicht, entlastet einen die Statistik aber nicht.

Die Kita-Qualität steigt, sagen die einen. Aber was macht ihr mit unseren Kindern, fragen die anderen?

Die Bertelsmann-Stiftung hat sich mit neuen Daten aus dem „Ländermonitor Frühkindliche Bildungssystem“ an die Öffentlichkeit gewandt.  Mit diesem Monitoring begleitet die Stiftung seit Jahren die Entwicklung der Kinderbetreuungssysteme in den einzelnen Bundesländern. Die neue Botschaft hört sich verhalten positiv an: Kita-Qualität steigt, aber Unterschiede zwischen den Ländern bleiben enorm, so haben die ihre Meldung überschrieben.

»Auf eine Kita-Fachkraft kommen im Durchschnitt weniger Kinder als vor drei Jahren. Bundesweit ist zum 1. März 2015 eine vollzeitbeschäftigte Fachkraft für durchschnittlich 4,3 ganztags betreute Krippen- oder 9,3 Kindergartenkinder zuständig. Vor drei Jahren kamen auf eine Fachkraft noch 4,8 Krippen- beziehungsweise 9,8 Kindergartenkinder.«

Diese zahlenmäßige Verbesserung muss gesehen werden vor dem Hintergrund des enormen Ausbaus der Betreuungsplätze in den zurückliegenden Jahren. Es wird sogleich aber auch Wasser in den aufgetischten Wein gegossen: »Bundesweit ist der Trend zwar positiv, doch in den meisten Bundesländern sind die Personalschlüssel noch immer weit entfernt von einem pädagogisch sinnvollen Wert. Nach den Empfehlungen der Bertelsmann Stiftung sollte sich eine Fachkraft um höchstens 3 unter Dreijährige oder 7,5 Kindergartenkinder kümmern.« Und die Stiftung weist selbst auf ein methodisches Dilemma hin: Die Zahlen über die Betreuungsrelationen – auch wenn sie statistisch stimmen – spiegeln nicht eins zu eins die Realität in den Einrichtungen wider: »Zudem fällt das tatsächliche Betreuungsverhältnis im Kita-Alltag ohnehin ungünstiger aus als der rechnerisch ermittelte Personalschlüssel. Kita-Fachkräfte wenden mindestens ein Viertel ihrer Zeit für Team- und Elterngespräche, Dokumentation und Fortbildung auf. Auch zunehmend längere Betreuungszeiten sowie längere Öffnungszeiten der Kitas verschlechtern die Betreuungsrelationen, wenn diese nicht durch zusätzliches Personal abgedeckt werden können.«

Und die Stiftung verweist auch darauf, dass die Unterschiede bereits zwischen den Bundesländern enorm sind und sich 2015 im Vergleich zu 2012 bei den Personalschlüsseln für die Kindergartenkinder sogar noch vergrößert haben:

»Aktueller Spitzenreiter ist Baden-Württemberg (1 zu 7,3), wohingegen in Mecklenburg-Vorpommern fast doppelt so viele Kindergartenkinder pro Kita-Fachkraft betreut werden (1 zu 14,1).«

Für die ganz kleinen Kinder unter drei Jahren stellt sich bei ebenfalls enormer regionaler Varianz die Entwicklung etwas „besser“ dar bei den Personalschlüsseln:

»Im Krippenbereich sind derzeit die Unterschiede zwischen den Personalschlüsseln in den Bundesländern etwas kleiner als 2012. Baden-Württemberg hat auch für die unter Dreijährigen derzeit den bundesweit besten Personalschlüssel (1 zu 3,0). Sachsen ist unter den Bundesländern das Schlusslicht (1 zu 6,4).«

Erneut erkennbar wird ein gewaltiges und nicht zu rechtfertigendes Ost-West-Gefälle: »Eine ostdeutsche Kita-Fachkraft ist für 6,1 Krippenkinder zuständig, eine westdeutsche Fachkraft nur für 3,6 Krippenkinder. Dabei besucht in Ostdeutschland auch ein wesentlich größerer Anteil aller Krippenkinder eine Kita: 46,8 Prozent der unter Dreijährigen. In den westdeutschen Bundesländern sind es trotz des Ausbaus nur 23,6 Prozent.«

Nun hat die Stiftung ja auch konkrete Soll-Werte für die Personalausstattung vorgelegt und deren Realisierung würde natürlich zweierlei bedingen: a) mehr Fachkräfte und b) damit einhergehend mehr Geld als bislang:

»Um die Personalschlüssel auf das von der Bertelsmann Stiftung empfohlene Niveau zu heben, sind bundesweit zusätzlich 107.000 vollzeitbeschäftigte Fachkräfte erforderlich. Dieses Personal kostet nach Berechnungen der Stiftung jährlich rund 4,8 Milliarden Euro. Verglichen mit den derzeit im Kita-Bereich anfallenden Personalkosten in Höhe von 16,6 Milliarden wäre das ein Anstieg von rund einem Drittel (29 Prozent).«

Wohlgemerkt – das wäre das eigentlich zusätzlich erforderliche Personal, um die aus fachlicher Sicht anzustrebende Personalausstattung im gegebenen System erreichen zu können. Wenn man – wie immer wieder sehr gerne aus den Reihen der Wirtschaft – eine weitere Expansion der „Dienstleistung“ Kinderbetreuung einfordert, also (noch) längere Öffnungszeiten oder individuelle Betreuungsarrangements für Abend-, Nacht- und Wochenendstunden, dann reden wir über ganz andere Größenordnungen an zusätzlichem Personal.

Das wir gerade bei diesem Thema ganz offensichtlich von unterschiedlichen Welten ausgehen müssen, kann man beispielhaft an diesem Bericht verdeutlichen: Neuer Service für Eltern: Kita-Erzieherin kommt nach Hause, so ein Artikel aus der Berliner Morgenpost. Viele Menschen, die in Berlin leben und die Realität der „Standardversorgung“ im Kita-Bereich mit ihren vielgestaltigen Problemen kennen, werden sich verwundert die Augen reiben, wenn sie lesen: »Für berufstätige Eltern soll es ab dem Sommer in Berlin eine neue Dienstleistung geben. Wer nachts, spätabends oder am frühen Morgen außerhalb der regulären Kita-Öffnungszeiten arbeiten muss und niemanden hat, der auf die Kinder aufpasst, kann künftig mit seinem Kita-Gutschein auch Betreuungskräfte nach Hause bestellen. Die Senatsjugendverwaltung hat die Leistung einer Servicestelle ausgeschrieben, die das Angebot koordinieren und Kontakte zwischen Firmen, Eltern und Betreuern vermitteln soll. Gedacht ist die Hilfe vor allem für Alleinerziehende. Aber auch berufstätige Paare können grundsätzlich den Dienst in Anspruch nehmen, der ebenso gratis ist wie die Berliner Kita. Bisher sind solche raren Services entweder teuer, nachts nicht verfügbar oder die Kinder müssen zur Tagesmutter.« Man darf gespannt sein, wie dieser Ansatz verwirklicht werden kann, wenn selbst für normale Kitas Personal vorne und hinten fehlt. Vgl. dazu nur als ein Beispiel den Beitrag Der real existierende Fachkräftemangel lässt sich hier besichtigen: Personalmangel in vielen Kindertageseinrichtungen schon unter den herrschenden Bedingungen vom 23. Januar 2016. Der „neue“ Vorstoß in Berlin erinnert einen fatal an den Mechanismus der Aktivitätssimulation, dessen Funktion vor allem im Ankündigen besteht, weniger oder gar nicht in der Umsetzung. Dazu aus dem vergangenen Jahr der Beitrag Kommen jetzt die 24-Stunden-Kita-Kombinate? Über ein gar nicht so neues Ferkel, das durchs Sommer-Dorf getrieben wird vom 5. Juli 2015.

Und parallel zu der Vorstellung der neuen Daten der Bertelsmann-Stiftung wird man dann mit so was konfrontiert: »Kitas sollen die Jüngsten behüten. Doch mehr als 2.000 Erfahrungsberichte zeigen: Mancherorts herrschen schlimme Zustände. Bund und Länder aber schauen weg«, behaupten Kai Biermann, Philip Faigle, Astrid Geisler, Karsten Polke-Majewski, Tilman Steffen und Sascha Tenor in ihrem Artikel Was macht ihr da mit unseren Kindern?

ZEIT ONLINE hat seine Leser Anfang Mai gefragt, ob sie Missstände in ihrer Kindertagesstätte beobachtet haben. Etwa 2.000 Eltern und 260 Kita-Mitarbeiter haben geantwortet. Wissenschaftler, Behördenmitarbeiter und Berufsaussteiger berichteten aus dem Inneren der Brombranche. Ein Reporterteam ist Dutzenden Erfahrungsberichten nachgegangen. Die teilweise nur erschreckend zu nennenden Ergebnisse kann man in dem Artikel nachlesen.

Die Autoren verweisen aber auch auf eine strukturelle Dimension des offensichtlichen Mangels, etwas gegen diese beklagenswerten Entwicklungen zu tun:

»Überall im Land sehen Kitaleiterinnen, Erzieherinnen und Eltern dramatische Missstände. Doch niemand hilft ihnen. Ob Kitaträger oder Ämter, viel zu viele schauen weg. Und im Bund boykottieren die zuständigen Ministerpräsidenten aller Parteien überfällige Mindeststandards, die Kleinkinder schützen würden.«

Der angesprochene Boykott der Ministerpräsidenten erinnert den einen oder anderen an ein Thema, das auch hier schon mehrfach aufgerufen wurde – die Forderung nach einem Bundesqualitätsgesetz für den Bereich der Kindertagesbetreuung. Das nun ist nicht wirklich neu und ohne jemanden gleich frustrieren zu wollen verweise ich hier nur auf meinen Beitrag vom 29. Oktober 2014: Die Hoffnung stirbt zuletzt und wenn, dann in der nächsten Legislaturperiode. (Zwei) Wohlfahrtsverbände und die Gewerkschaft GEW fordern ein „Bundesqualitätsgesetz“ für die Kindertagesbetreuung.

In dem ZEIT ONLINE-Artikel wird der Boykott durch die Ministerpräsidenten nicht nur behauptet, sondern auch belegt:

»Alle Länderchefs sind sich einig, „dass es keiner bundesweiten Standards bedarf“. Ihr Beschluss, von dem niemand erfahren soll, fällt am 11. Dezember 2014 im Bundeskanzleramt. Angela Merkel hat die Ministerpräsidenten der Bundesländer in ihren Amtssitz gebeten. Die Runde geht bereits dem Ende zu, als der drittletzte Tagesordnungspunkt aufgerufen wird: Kittqualität … Auch anderthalb Jahre später kennen nur Eingeweihte den Wortlaut dieses Beschlusses, der ZEIT ONLINE vorliegt. Er gilt als nicht öffentlich … Mit dem, was die 16 Ministerpräsidenten an diesem Wintertag im Kanzleramt entsorgen, brechen sie ein Versprechen. Es lautete: Erst bauen wir im großen Stil neue Kindergartenplätze, dann wird deren Qualität verbessert. Aber die Länder sagen den zweiten Schritt ab.«

Und wenn das Protokoll der Zeitung vorliegt, dann kann die das ja auch der Öffentlichkeit zugänglich machen. Genau das ist passiert und das Resultat findet man hier: Ministerpräsidenten wollen keine einheitlichen Standards. Es handelt sich um die wörtliche Abschrift des Sitzungsprotokolls einer Besprechung, die am 11. Dezember 2014 im Internationalen Konferenzsaal des Bundeskanzleramts stattgefunden hat. Entscheidend ist die Formulierung unter Punkt 3 des Beschlusses: Die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten seien sich »einig, dass es keiner bundesweiten Standards bedarf.« Punkt und Ende der Debatte.

Deshalb wird da auch nichts kommen.

Es sei denn, die Betroffenen machen enormen Druck und zwingen die Politik, sich zu bewegen.

Aber selbst dann, also wenn wir hypothetisch davon ausgehen, dass ein Bundesqualitätsgesetz – für das beispielsweise Gewerkschaften wie die GEW unermüdlich kämpfen (vgl. dazu GEW: „Bund muss jetzt handeln – Kita-Qualitätsgesetz notwendig!“ vom 29.06.2016) – auf den Weg gebracht werden würde, müsste man sich an die nackten Zahlen der Bertelsmann-Stiftung erinnern. Denn wenn man so große Unterschiede schon auf der Ebene der Bundesländer hat, was die Personalausstattung angeht, dann stellt sich natürlich die Frage, was denn ein Bundesqualitätsgesetz für Standards vorgeben soll. Sollen es Mindest-, Durchschnitts- oder Maximalstandards sein?
Diese systematische Frage ist nicht trivial, sondern berührt natürlich ein Kardinalproblem angesichts der enormen Varianz der gegebenen Personalausstattung.

Denn Mindeststandards im Sinne von Personalrelationen, die man nicht unterschreiten darf (gleichsam wie der gesetzliche Mindestlohn als Lohnuntergrenze) haben natürlich die Folge, dass mit ihnen – wenn überhaupt – nur verhindert werden kann, dass die Personalausstattung so schlecht ist, das beispielsweise das Kindeswohl erwartbar gefährdet wird oder werden könnte. Das kann aber hoch problematische Effekte haben im Sinne einer Orientierung der realen Personalausstattung nach unten.

Auch bei Durchschnittsstandards stellt sich das Problem, dass die Bundesländer, die heute schon höhere Standards haben, „zu viel“ Personal an Bord hätten, was natürlich angesichts des Haushaltsdrucks in den Ländern und Kommunen gewisse Anreize setzen könnte/wird.
Bleiben Maximalstandards, de man als (anzustrebende) Zielgrößen in so ein Gesetz einbauen könnte. Eine „milde“ Variante wäre, dass man die heutigen Spitzenreiter der Personalausstattung bei den Bundesländern als Referenzgröße heranzieht. Konsequenter wäre natürlich die Bezugnahme auf die Werte, die aus der fachwissenschaftlichen Diskussion als anzustrebende Werte abgeleitet worden sind, auch die Bertelsmann-Stiftung bezieht sich ja auf solche Relationen. Dann hätten auch die Bundesländer, die heute an der Spitze stehen, weiteren Personalbedarf. Aber die Lücke zwischen dem Ist und dem Soll wäre in den östlichen Bundesländern natürlich massiv und man kann sich vorstellen, dass das – unabhängig von der Frage, woher das zusätzliche Personal kommen soll – bei allen Bundesländern auf den größten Widerstand stoßen würde.

Auf der anderen Seite könnte alle unter Maximalstandards liegende Werte höchst problematische negative Anreize bei einem Teil der Bundesländer auslösen, die zu einer partiellen Verschlechterung führen könnten.

Das alles muss genau bedacht und konzeptualisiert werden für ein – wie ausgeführt: leider derzeit unrealistisches – Bundesqualitätsgesetz. Und dann muss das noch durch ein intelligentes Finanzierungssystem hinterlegt werden.

Auch wenn man sich etwas ganz anderes wünschen würde – auf diese Entwicklung zu hoffen, wird mit vielen Enttäuschungen garniert sein.

Was bleibt ist ein sicher unbefriedigendes Unterfangen: Man sollte die Berichte über offensichtliche oder vermeintliche Missstände in der Realität der Kindertagesbetreuung, wie sie aktuell beispielsweise in dem angesprochenen ZEIT ONLINE-Artikel an die Öffentlichkeit getragen werden, aufgreifen und die Politik zwingen, eine Antwort zu liefern auf die Frage: Wie verhindert ihr solche Zustände? Wie können sich die Eltern darauf verlassen, dass ihre Kinder nicht Schaden nehmen? Es geht hier nicht um das Plädoyer für den Aufbau einer wie auch immer gearteten Betreungsqualitätsbürokratie, aber die Frage ist natürlich „vergiftet“, denn würde man den schlechten Zuständen nachgehen, dann würde sich zeigen, dass eben nicht nur individuelles Fehlverhalten Schuld ist, sondern oftmals strukturelle Missstände wie zu wenig Personal benannt werden müssen.

Der gesetzliche Mindestlohn und seine rechnerische Zähmung

Nun ist es also vollbracht. Der gesetzliche Mindestlohn in Höhe von derzeit 8,50 Euro brutto pro Stunde wird zum 1. Januar 2017 um 34 Cent auf 8,84 Euro angehoben, was einer Steigerungsrate von 4 Prozent entspricht, wenn denn die Bundesregierung dieser Empfehlung der Mindestlohnkommission folgt, was als sicher gilt. Die Laufzeit des neuen Mindestlohns wird ab dem 1.1.2017 zwei Jahre betragen, also bis zum Jahresende 2018 bleibt es dann bei 8,84 Euro pro Arbeitsstunde. Und am 30. Juni 2018 wird die Mindestlohnkommission erneut vor die Öffentlichkeit treten und eine neue Empfehlung die Anpassung der Höhe der gesetzlichen Lohnuntergrenze verkünden.

Wie aber ist die Kommission zu diesem krummen Betrag von 8,84 Euro gekommen? Denn eigentlich hätten es nur 8,77 Euro sein dürfen, wenn man ohne Abweichung der Verfahrenslogik gefolgt wäre, die sich die Kommission selbst als ziemlich hartes Korsett gegeben hat. Wollten die Kommissionsmitglieder den Mindestlöhnern einen zusätzlichen Schlag aus dem Lohntopf genehmigen? Eine Kommission mit Spendierhosen?

mehr