Positive Nachrichten über die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen. Wenn es denn so einfach wäre

Endlich mal gute Nachrichten aus einem Bereich, der höchst kontrovers diskutiert wird – die Integration von Menschen mit Fluchthintergrund, wie das offiziell so heißt. Allen ist klar, dass eine Integration in den Arbeitsmarkt eine wichtige, wenn nicht die zentrale Rolle für eine gelingende Integration spielt. Und zugleich waren die vergangenen Monate vor allem durch zunehmend resignative Berichte hinsichtlich der Beschäftigungsperspektiven für diese Menschen geprägt. Das klappt nicht – dieser Eindruck hat sich in den Köpfen vieler Beobachter festgesetzt (oder verstärkt). Und dann kommen solche Schlagzeilen: Aus Asylländern kommen zahlreiche Fachkräfte oder Flüchtlinge arbeiten als Fachkräfte, um nur zwei von vielen Beispiele zu zitieren. Also doch, wird der eine oder andere denken. Grundlage ist wie so oft bei solchen Meldungen eine „Studie“, in diesem Fall des an den aktuellen Rändern immer sehr umtriebigen arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Deren Botschaft wird dann so unter das Volk gebracht: »60 Prozent der Beschäftigten aus den wichtigsten Asylländern arbeiten in Jobs, die eine Qualifikation erfordern. Besonders unter Afghanen sind viele Fachkräfte.« Oder so: »In Deutschland haben laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft etwa 140.000 Geflüchtete aus den Hauptherkunftsländern einen sozialversicherungspflichtigen Job. Mehr als die Hälfte davon arbeitet als qualifizierte Fachkraft.«

Da hilft immer ein Blick in die Original-Quelle, in diesem Fall also in die von vielen Medien erwähnte „Studie“ des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) – „Studie“ deshalb in Anführungszeichen, weil das IW selbst nicht von einer solchen spricht, sondern eine Auswertung der amtlichen Statistik seitens der BA vorgenommen und diese als „Kurzbericht“ veröffentlicht hat:

Svenja Jambo / Christoph Metzler / Sarah Pierenkemper / Dirk Werner (2017): Mehr als nur Hilfsarbeiter. IW-Kurzberichte 92/2017, Köln: Institut der deutschen Wirtschaft, Dezember 2017

Die Kurzfassung geht so: »Aktuell sind etwa 140.000 Menschen aus den acht Hauptasylherkunftsländern in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Drei Viertel von ihnen arbeiten in kleinen und mittleren Unternehmen. Knapp 60 Prozent sind als qualifizierte Fachkräfte beschäftigt, 40 Prozent in Helfertätigkeiten. Insgesamt zeigen sich erste Beschäftigungserfolge.«

Das wird eine Menge Leute überraschen – ist die bisherige Diskussion doch vor allem dadurch geprägt, dass man den Flüchtlingen gerade aus den außereuropäischen Fluchtländern neben den zwangsläufig vorhandenen Sprachproblemen immer wieder fehlende berufliche Qualifikationen und sogar oftmals gar keine oder nur eine rudimentäre Schulausbildung zugeschrieben hat.

Nicht nur vor diesem Hintergrund ist es hilfreich, sich die präsentierten Zahlen einmal genauer anzuschauen (vor allem, wenn mit Anteilswerten gearbeitet wird) und außerdem etwas zu tun, was man von Wissenschaftlern unbedingt und von Medien eigentlich auch erwarten darf – eine Einordnung der Zahlen in das gesamte Zahlenwerk, damit man beurteilen kann, ob das nun viele oder wenige sind.

Eine kritische Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der IW-Auswertung hat Florian Diekmann auf Spiegel Online vorgelegt: Beschäftigte aus Asylländern: Was hinter der hohen Fachkraftquote steckt. Er beginnt seine Analyse so: »60 Prozent der Beschäftigten aus Asylländern arbeiten in Deutschland als Fachkraft: Das stimmt zwar – sagt aber etwas anderes aus, als es zunächst den Anschein hat.« Der erste Teil stimmt zwar auch nicht ganz, wie wir gleich sehen werden, aber schauen wir uns seine detaillierte Argumentation genauer an – denn er leistet u.a. genau das, was soeben hier eingefordert wurde, also eine Einordnung der Zahlen in den Gesamtkontext (siehe dazu vor allem den Punkt 3):


1. Es geht um „Menschen aus wichtigen Asylländern“, nicht um Flüchtlinge: »Das IW Köln nutzt die offiziellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die erfasst zwar seit kurzem auch den Aufenthaltsstatus, also etwa auch die Information darüber, ob jemand als Schutzsuchender nach Deutschland gekommen ist. Aber eben erst seit kurzem, bis dahin erfasste die BA lediglich die Staatsangehörigkeit – was gesicherte Aussagen über die Integration von Flüchtlingen auf dem Arbeitsmarkt schwierig macht. Auch die Detaildaten zur Beschäftigung, wie sie das IW Köln nutzt, liegen nur nach Staatsangehörigkeit aufgeschlüsselt vor. Die aktuellen Angaben beziehen sich also nicht ausschließlich auf Flüchtlinge. Sondern auf Menschen, die die Staatsangehörigkeit von acht Ländern besitzen, aus denen auch viele der kürzlich angekommenen Flüchtlinge kommen – konkret: Iran, Irak, Syrien, Eritrea, Somalia, Afghanistan, Nigeria und Pakistan. Das trifft nun aber auch auf viele Menschen zu, die schon sehr lange in Deutschland leben und aus ganz anderen Gründen gekommen sind … Bereits im Januar 2010 hatten rund 52.000 Menschen aus diesen acht Ländern eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Die meisten von ihnen dürften nach wie vor in Deutschland arbeiten – und zählen somit zu den 140.000 Personen, auf die sich die Fachkraft-Quote bezieht.«


2. Die Zahlen sind inzwischen überholt: »Das IW Köln bezieht sich zwar auf die aktuellsten Zahlen der BA – die geben aber den Stand von Ende März 2017 wieder und sind bereits seit Oktober frei zugänglich … Von März bis Juni hat sich aber eine Menge getan, so viel ist jetzt schon klar: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus den acht Ländern ist in diesem Zeitraum von 140.000 auf rund 157.000 gestiegen. Im September waren es sogar schon rund 195.000.«


3. Die Zahlen beziehen sich nur auf einen kleinen Teil der betroffenen Personen: »Zwar haben 2017 bemerkenswert viele Menschen aus den acht Asylländern Arbeit gefunden – die große Mehrheit aber ist noch nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt angekommen. Im November galten rund 507.000 aus diesem Personenkreis als arbeitssuchend. 185.000 davon waren offiziell arbeitslos, die übrigen absolvieren derzeit überwiegend Integrations- und Sprachkurse. Der in der IW-Publikation zitierte Anteil der Fachkräfte bezieht sich aber nur auf die rund 140.000 Personen, die Ende März einen Arbeitsplatz hatten. Der Anteil der Fachkräfte an allen Personen im erwerbsfähigen Alter aus diesen Ländern wäre also wesentlich niedriger. Und auch der relativ hohe Anteil an Fachkräften unter denen, die bislang Arbeit gefunden haben, ist wenig überraschend: Erstens zählen eben auch Menschen dazu, die schon lange in Deutschland leben. Zweitens liegt es auf der Hand, dass auch unter denen, die tatsächlich kürzlich als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, die gut Qualifizierten schneller einen Arbeitsplatz finden.«

Das alles sind wichtige Hinweise – warum aber ist auch die Aussage am Anfang des Artikels von Florian Diekmann (»60 Prozent der Beschäftigten aus Asylländern arbeiten in Deutschland als Fachkraft: Das stimmt zwar«) so nicht richtig? Dazu muss man sich diese kritische Aufarbeitung der Zahlen der BA anschauen, die Paul M. Schröder in der von ihm gewohnten Tiefe veröffentlicht hat:

Paul M. Schröder (2017): Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte aus nichteuropäischen „Asylherkunftsländern“: Medien verbreiten zum Jahresende 2017 falsche Informationen des Institut der deutschen Wirtschaft, Bremen: Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe, 29.12.2017


In dieser Veröffentlichung findet man die nebenstehende Tabelle mit einer Aufschlüsselung der Zahlen der Beschäftigten. Schröder weist darauf hin, dass die vom IW berichteten „Knapp 60 Prozent sind als qualifizierte Fachkräfte beschäftigt, 40 Prozent in Helfertätigkeiten“ wurden für die 140.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten offensichtlich so berechnet, dass im Zähler die 14.457 sozialversicherungspflichtigen Auszubildenden als „Fachkräfte“ hinzugerechnet wurden. Wenn man die Azubis richtigerweise ausklammert, dann stellen sich die Daten schon anders dar: Betrachtet man lediglich die 125.010 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ohne Auszubildende, dann ergibt sich eine Fachkraftquote von zusammen 52,2 Prozent.

Und Schröder wirft auch einen genaueren Blick auf die Entwicklung in den Monaten von März 2016 bis März 2017, auf die auch im IW-Bericht hingewiesen wird:

»Betrachtet man den vom IW auch berichteten Anstieg der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten insgesamt um etwa 47.000 (46.612) von März 2016 bis März 2017, dann zeigt sich: Von diesem Anstieg entfielen rechnerisch 7.837 auf die sozialversicherungspflichtigen Auszubildenden und 21.814 auf „Helfer“. Lediglich 16.907 des Anstiegs entfiel auf die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten „Fachkräfte“, „Spezialisten“ und „Experten“.«

Und ein weiterer Kritikpunkt an den Berechnungsversuchen des IW präsentiert uns Paul M. Schröder:

»Und zum Schluss noch ein weiterer unglaublicher Fehler im IW-Kurzbericht. Im IW-Kurzbericht heißt es zum Anstieg der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von März 2016 bis März 2017: „Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der Beschäftigten aus den acht Asylherkunftsländern um knapp 47.000 Personen und damit deutlich gestiegen. Allerdings entfiel ein gutes Drittel des Anstiegs auf geringfügig Beschäftigte, von denen Ende März 2017 rund 50.000 der insgesamt 140.000 Beschäftigten zu verzeichnen waren.“ Dies ist vollkommen falsch. Die von der Statistik der Bundesagentur für Arbeit genannten 50.000 ausschließlich geringfügig Beschäftigten aus den acht „Asylherkunftsländern“ (50.357 im März 2017, 15.959 mehr als im März 2016) sind nicht Teil der 140.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, und deren Anstieg um 15.959 auch nicht Teil des Anstiegs um 47.000.«

Ja, es ist schon ein Kreuz mit den Zahlen. Zum Abschluss sei hier auf die Abbildung am Anfang dieses Beitrags verwiesen – vor allem auf die zweite Grafik mit der Entwicklung der Zahl der „Erwerbsfähigen Leistungsberechtigten“ (ELB) im Hartz IV-System. Hier weist die BA für August 2017 insgesamt 634.000 Menschen aus den nichteuropäischen Asylherkunftsländern aus – davon geschätzt 584.000 Menschen mit Fluchthintergrund, die im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion stehen. Und man kann auch erkennen, dass die offizielle Zahl der Arbeitslosen diese Personengruppe betreffend weitaus geringer ist: 191.000/175.000. Das hört sich doch ganz anders an als die 634.000 Menschen aus diesen Ländern, die bereits im Hartz IV-Bezug sind.

Die vieldiskutierte Herrschaft der Algorithmen am Beispiel der Entscheidung über Leben und Tod. Ein Todes-Algorithmus „nur“ als ein weiteres Geschäftsmodell?

Schon seit Jahren wird immer wieder über die „Herrschaft der Algorithmen“ diskutiert. Nehmen wir aus der Medienberichterstattung als eines der vielen Beispiele einen Artikel aus dem Jahr 2010: Herrschaft der Algorithmen: Die Welt bleibt unberechenbar von Jürgen Kuri: »Algorithmen beherrschen die Welt, die Gesellschaft, unser Leben, online wie offline. HedgeFonds entscheiden über Wohl und Wehe von Märkten, Firmen und ganzen Volkswirtschaften anhand der Berechnungen, mit denen die Algorithmen der Finanzmathematik die Welt erklären. Die selbständigen Transaktionen der automatisierten Börsensoftware lösen Auf- und Abwärtsbewegungen der Aktienindizes, ja ihren plötzlichen Absturz aus … Scoring-Algorithmen bestimmen anhand persönlicher Zahlungsmoral, individuellen Umfelds, Wohn- und Arbeitssituation die Kreditwürdigkeit eines Bürgers. In per W-Lan vernetzten Kraftfahrzeugen entscheiden Algorithmen, welche Autobahn die Strecke mit den wenigsten Staus verspricht und wie schnell oder langsam der Wagen fahren muss, um effizient und schnell ans Ziel zu kommen. Smartphone-Apps zeigen anhand von Bevölkerungsdaten und Kriminalitätsstatistik, ob es eine gute Idee ist, die schicke Wohnung ausgerechnet in diesem oder jenem Wohnviertel zu beziehen. Empfehlungsalgorithmen sagen uns, welche Musik wir hören wollen, welches Buch wir lesen möchten, welche Menschen wir treffen sollen.«

Das hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter ausdifferenziert und für viele von uns ist die algorithmische Durchdringung des Alltags schon gar nicht mehr als solche wahrnehmbar, weil so selbstverständlich. Irritationen und ungute Gefühle kommen – wenn überhaupt – bei den meisten nur noch dann auf, wenn die Algorithmen (und die immer dahinter stehenden Menschen) in Grenzbereiche vorstoßen, die mit einem Rest an Eigensinn ausgestattet sind bzw. denen eine an sich der Kalkulation nicht zugängliche Wertigkeit zugeschrieben wird.

Dazu gehört sicher für die meisten Menschen die Frage von Leben und Tod. Aber auch hier muss man zur Kenntnis nehmen, dass das grundsätzlich keine geschützte Zone ist (außer man definiert, fixiert und verteidigt diese als solche). Und der eine oder andere ahnt es schon – angesichts der Geldsummen, die in diesem Grenzbereich durch medizinische Behandlung und Pflege ausgegeben werden, ist der sprichwörtliche Teufel nicht weit, der sich in unseren Zeiten gerne hinter scheinbar wertfreien und nur technisch daherkommenden Begrifflichkeiten wie Effizienz und Effektivität zu tarnen versucht, um hier Geschäftsmodelle aufzusetzen, an denen andere ein großes Interesse haben.

Und wer da welche Interessen hat, kann man schnell erkennen, wenn man solche Versprechen zur Kenntnis nimmt: „Wir können sagen, welche Patienten in einer Woche, sechs Wochen oder einem Jahr sterben. Wir können zu Behandlungsplänen sagen: Wie viel kostet der Patient?“
Diese Worte stammen von Bill Frist und das „wir“ bezieht sich auf das auch von ihm gegründete US-Unternehmen Aspire Health. Darüber wird in diesem Artikel von Tina Soliman berichtet: Geschäftsmodell Lebenserwartung: Der Todes-Algorithmus. Das Thema wurde auch in einem Beitrag des Politikmagazins Panorama aufgegriffen.

»Das von Google mitfinanzierte Unternehmen wertet mithilfe von Algorithmen ärztliche Diagnosen von Patienten aus und gleicht das Krankheitsbild mit Mustern häufiger Therapien ab. So soll verhindert werden, dass Schwerkranke unnötige Behandlungen bekommen, die außerdem noch viel Geld kosten. Das spart teure Untersuchungen, wenn man zu wissen glaubt, dass es ohnehin bald um den Patienten geschehen ist. „Aspire Health“ will Kosten senken. Rund 40 Prozent der Ausgaben für Behandlungen könnten eingespart werden, erwartet das US-Unternehmen, das sein Geld mit Palliativpflege verdient. Denn Pflege kostet weniger als Behandlung. Das klingt nach Effizienz.«

Nun wird der eine oder andere an dieser Stelle einwenden, dass das alles doch nur auf statistischen Wahrscheinlichkeiten basiert – und die abstrahieren bekanntlich gerade vom Einzelfall. Lässt sich die Prognose über den Krankheitsverlauf eines Menschen anhand von Statistiken errechnen? Was ist mit nicht messbaren, aber entscheidenden Faktoren – wie etwa dem Überlebenswillen eines Patienten?

»Kevin Baum, Computer-Ethiker der Universität des Saarlandes, warnt vor Schwächen der Algorithmen. Sie urteilten nur auf der Basis der Daten, mit denen sie gefüttert würden, sagt er. „Sie bilden immer nur das Modell eines Menschen ab, nie den Menschen selbst.“ Nicht beachtete individuelle Eigenschaften, die aber durchaus relevant sein können – wie etwa der Kampfeswille – können somit übersehen werden. Maschinen lernen, aber sie denken und fühlen nicht.

„Was eine Maschine nicht kann, ist, eine Einzelfallentscheidung zu fällen“, so Baum. Die Idee sei, dass ähnliche Fälle ähnlich funktionierten. „Das muss aber auch nicht unbedingt sein. Wir könnten uns zwei Patienten vorstellen, die beide auf dem Fragebogen die gleichen Antworten gegeben haben, deren Patientenakten genau gleich aussehen. Wir können annehmen, dass das alles in den Algorithmus eingeht. Und trotzdem können wir annehmen, dass der eine Patient nach sechs Monaten tot ist und der andere Patient noch 15 Jahre lebt.“«

Übrigens wurde hier in diesem Blog über das Unternehmen und das Thema schon Anfang des Jahres berichtet, in dem Beitrag Der Algorithmus als Sensenmann? Umrisse der Gefahr einer totalen Ökonomisierung am Ende des Lebens vom 9. Januar 2017. In diesem Beitrag wird Adrian Lobe zitiert, der in seinem Artikel Der Algorithmus schlägt die letzte Stunde prägnant bilanziert hat:

»So funktioniert das Gesundheitswesen im neoliberalen Gleichungssystem: weniger Geld gleich mehr Leistung. Statt im Krankenhaus soll der Todgeweihte palliativmedizinisch zu Hause behandelt werden, wovon man sich Einsparungen für das Gesundheitssystem erhofft. Das ist der Ausstieg aus dem Solidarsystem. Der Hintergrund: Ein Viertel des jährlichen Budgets der amerikanischen Krankenversicherung Medicare, rund 150 Milliarden Dollar, fließt in die Behandlung von Patienten in ihrem letzten Lebensjahr.

Das Kalkül ist nun, dass man sich teure Untersuchungen sparen kann, wenn man zu wissen glaubt, dass es um den Patienten ohnehin bald geschehen sei. Für jeden Patienten wird ein medizinisches Ablaufdatum errechnet, das ihn als Risikopatienten oder hoffnungslosen Fall ausweist. Im Klartext heißt das: Ein Algorithmus bestimmt, wie jemand ärztlich versorgt wird.«

Die Nutzung von Algorithmen im Gesundheitswesen breitet sich immer mehr aus – und sie ist auch nicht grundsätzliche zu verdammen. „Wenn aber Algorithmen entwickelt werden von Firmen, die etwas verkaufen wollen oder die Kosten dämpfen wollen – dann ist das ein Punkt, der mir zu weit geht. Und den muss man in der Umsetzung verbieten“, sowie wird einer zitiert, der sie selbst in seiner medizinischen Praxis anwendet, aber auf der Grundlage von selbst entwickelten Algorithmen, bei denen man die Basis kennt: der Onkologe Wolfgang Hiddemann von Klinikum Großhadern in München.

Vor diesem Hintergrund sollten sich einem sämtliche Nackenhaare sträuben, wenn man liest: »Start-Ups wie „Aspire Health“ legen ihre Algorithmen nicht offen. So wird die Entscheidung über Leben und Tod an eine Firma ausgelagert, deren Manager und Strukturen nicht bekannt sind. Das Leben: ein Betriebsgeheimnis.«

Und ein weiters mehr als bedenkliches Beispiel wird genannt: Mit 23andMe gibt es eine US-Firma, die einen Gen-Selbsttest anbietet: »Man schickt eine Speichelprobe ein und bekommt eine Analyse des eigenen DNA-Bauplans. Man erfährt etwa, ob man unter einer Erbkrankheit leidet.« Es handelt sich – Überraschung – um eine ebenfalls auch von Google mitfinanzierte Start-Up, das die Entschlüsselung der Erbinformation anbietet. Längst arbeitet die Firma mit  internationalen Pharmafirmen zusammen. Bereist 2013 wurde davor eindringlich gewarnt: Erbgutanalysen: Arzneiprüfer warnen vor Gentests von 23andMe – und zwar seitens der US-Arzneimittelbehörde FDA. Nun schreiben wir das Jahresende 2017 und die Firma ist weiter auf dem Markt des Schreckens unterwegs.

Und sie wird mit großer Wahrscheinlichkeit eine dieser modernen Erfolgsgeschichten werden – denn ungeachtet aller völlig berechtigten grundsätzlichen, aber auch durch zahlreiche fehlerhafte Messungen empirisch begründeten Kritik kann man sich lebhaft vorstellen, dass Versicherungen und Arbeitgeber durchaus ein großes, ein sehr großes Interesse an den Daten haben und Wege suchen werden, an diese Daten zu kommen. Weil sich hier handfeste unterschiedliche ökonomische Interessen vermischen mit den (scheinbaren) Potenzialen der Welt der Algorithmen. Und je mehr wir uns daran gewöhnen und sie akzeptieren, desto schwieriger wird es sein, Dämme gegen die Kommerzialisierung und Instrumentalisierung zu bauen und diese zu sichern. Und neben den Gefahren einer klassischen Indienstnahme der Verfahren für finanzkräftige Interessen werden wir zunehmend konfrontiert mit einer Verselbständigung der Algorithmen, die selbst ihre Schöpfer immer öfter ratlos zurücklassen.

Und auch – ein höchst sensibles Thema – die Sterbehilfe muss an dieser Stelle aufgerufen werden. Dazu wurden in diesem Blog zahlreiche Beiträge veröffentlicht, in denen immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass neben allem Verständnis für die individuelle und damit immer einzigartige Entscheidungssituation, die für die Inanspruchnahme der Sterbehilfe sprechen kann, eine gewaltige gesellschaftliche Drohkulisse am Zukunftshorizont in Umrissen erkennbar ist, wenn man denn hinschauen will. In dem Beitrag Wo soll das enden? Sterbehilfe als Wachstumsbranche und eine fortschreitende Verschiebung der Grenzen, der vor einem Jahr hier veröffentlicht wurde, kann man diesen Blick in die Glaskugel finden, der sich am Ende des Jahres 2017 genau so wieder aufrufen lässt:

In diesem Kontext sollte man auch so ein Urteil hinsichtlich seiner langfristigen Bedeutung sehen und kritisch diskutieren: Leben als Schaden, so hat Maximilian Amos seinen Artikel überschrieben, in dem er über eine Entscheidung des OLG München berichtet: »Das OLG München hat einen Arzt zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt, weil er einen Patienten am Leben erhielt. Sein Vertreter sieht darin eine Wende in der Medizinethik.« Das Gericht hat einen Arzt verurteilt, weil er einen Patienten zu lange am Leben erhalten hatte (Urt. v. 21.12.2017, Az. 1 U 454/17). Schon das Landgericht (LG) München I hatte in erster Instanz daraufhin festgestellt, dass in der Aufrechterhaltung der lebenserhaltenden Maßnahmen ein Behandlungsfehler liege und dies einen Schaden herbeiführe.

Wer verhindert (später) das Reinrutschen in eine gesellschaftliche Konstellation, in der „sozioökonomische Schwierigkeiten im Alter“ als legitimer Grund für Sterbehilfe angesehen wird, weil die „Normalisierung“ der aktiven Sterbehilfe, die am Anfang auf einige wenige und für die meisten Menschen durchaus nachvollziehbare schwerste Krankheitssituationen beschränkt war und damit eine Art „Erlösungsbonus“ verbuchen konnte, zwischenzeitlich immer weiter ausgedehnt wurde und wird? Und kann es nicht auch sein, dass die gesellschaftlich immer größer werdende Akzeptanz der assistierten Selbsttötung eine Erwartungshaltung, diesen Weg zu gehen, ans Tageslicht befördert, um Probleme zu „entsorgen“? Angesichts dessen, was an Verteilungskonflikte aufgrund der Alterung der europäischen Gesellschaften noch auf uns zukommen wird, kann man an dieser Stelle eine große Beunruhigung empfinden.

Organisierte Kriminalität in der ambulanten Pflege und ein wirkungsloser Papiertiger seitens des Staates?

Im April 2016 wurde in diesem Blog unter dieser Überschrift über Betrugsvorwürfe gegen ambulante Pflegedienste berichtet: Eine „russische“ Pflegemafia inmitten unseres Landes? Über milliardenschwere Betrugsvorwürfe gegen Pflegedienste und politische Reflexe. Darin wurden Dirk Banse und Anette Dowideit aus ihrem Artikel So funktioniert der Milliarden-Betrug der Pflege-Mafia zitiert: »Ambulante Pflege ist ein lukrativer Markt, auf dem sich viele dubiose Anbieter tummeln. Seit Jahren gibt es Berichte über osteuropäische Firmen, die Kranken- und Pflegekassen abzocken, indem sie Senioren als Pflegefälle ausgeben, die in Wahrheit noch rüstig sind.« Neben all den Fragwürdigkeiten (beispielsweise „russische“ Pflegedienste) hat die Berichterstattung den Finger auf die Wunde Abrechnungsbetrug in ganz großem Stil im Bereich der ambulanten Pflegedienste gelegt, denn es ging eben nicht „nur“ darum, dass man in Zeiten der Minutenpflege und des systembedingten Stückkostendenkens an der einen oder anderen Stelle mal mehr gebucht hat, als tatsächlich passiert ist, sondern in den damals aufgerufenen Fällen ging es um das „Erfinden“ von Pflegebedürftigen in großem Stil.

Man kann es auch so formulieren:

  • Zum einen gibt es – das legen die aktuellen Ermittlungsergebnisse nahe – einen kleinen, aber hochgradig kriminellen Kern an Pflegediensten (dabei geht es um 230 von gut 14.000 Pflegediensten, was nicht heißen soll, dass die wirkliche Zahl nicht weitaus höher liegen kann, aber dennoch nur einen kleinen Teil der Dienste insgesamt berührt), die oftmals eingebettet in relativ stark geschlossene Gruppen wie den Zuwanderern aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion agieren und dort komplexe Netzwerke „auf Gegenseitigkeit“ formieren können, die es überaus schwierig machen, konkrete Verfehlungen nachzuweisen.
  • Auf der anderen Seite haben wir es aber auch mit einem veritablen Systemproblem zu tun. Wenn man die Pflege in eine Minutenpflege zerlegt und diese dann zur Grundlage der Abrechnungsfähigkeit macht, dann ist es realitätsfern anzunehmen, dass die damit immer auch einhergehenden „Spielräume“ bei der Dokumentation der (angeblich) erbrachten Leistungen nicht auch mehr oder weniger stark in Anspruch nimmt, so dass wir mit einem Kontinuum fließender Übergänge zwischen partiellen Mitnahmeeffekten bis hin zu einem betrügerische Geschäftsmodell konfrontiert sind.

Und jeder erfahrene Beobachter weiß, dass schon das Aufdecken solcher Machenschaften eine mehr als komplizierte Angelegenheit ist – das wird dann noch mal potenziert durch die gerichtliche Aufarbeitung, die sich irgendwann später mal anschließt. Da erlebt man dann nicht selten Frustrationen im Angesicht des eigentlichen Vergehens (vgl. dazu aus dem Februar 2017 diesen Beitrag: Die „Pflegemafia“ … und ihre Verarbeitung durch die Rechtsprechung am Beispiel von tatbeteiligten Pflegebedürftigen).

Im Mai 2017 wurde hier ebenfalls zu diesem Thema berichtet unter der Überschrift Die „Pflegemafia“ aus dem Osten reloaded: Organisierte Kriminalität, Geschäfte an und mit alten Menschen und die nicht-triviale Frage: Was tun? Darin konnte man lesen, »die Bundesregierung wiegelt ab: »Keinen weiteren Gesetzgebungsbedarf zur Pflegebetrugsprävention sieht der Patientenbeauftragte der Bundesregierung Karl Josef Laumann (CDU). Er verweist auf die Kontrollbefugnisse des MDK, die mit dem Pflegestärkungsgesetz III ausgeweitet wurden. Bei den Pflegebetrugsfällen, die jetzt ans Licht gekommen sind, handele es sich noch um Altlasten. Alles, was jetzt bekannt werde, sei auch dem geschuldet, dass die Kontrollmöglichkeiten ausgeweitet wurden.«

Das besagte Pflegestärkungsgesetz III ist ja mittlerweile in Kraft und so kann man nach einem Jahr durchaus mal hinschauen, ob es zu dem, was der Bundesgesundheitsminister angekündigt hat, gekommen ist.

Das haben die Tageszeitung WELT und der Bayerische Rundfunk getan – und das Ergebnis hört sich nicht wirklich beruhigend an. So titelt der Bayerische Rundfunk: Kampf gegen Pflegemafia: Neues Gesetz weitgehend wirkungslos:
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe wollte den Sumpf betrügerisch arbeitender Pflegedienste, die teilweise auch Verbindungen in das Milieu der Organisierten Kriminalität haben, trockenlegen. In einem Interview mit dem BR im Mai 2017 sagte Gröhe:

„Wir haben die entscheidenden Schritte, bessere Kontrolle, die Möglichkeit, auch eben  Pflegediensten, die Zulassung zu entziehen, vorgenommen. Es geht jetzt darum, dies auch konsequent anzuwenden. Und da wird mit allen Beteiligten zu prüfen sein, ob weiterer Handlungsbedarf besteht.“

Die Krankenkassen haben erweiterte Kontrollbefugnisse bekommen.

»Was ist seitdem erreicht? Mitte November trafen sich rund 120 Experten von Krankenkassen, Staatsanwaltschaften und Strafverfolgungsbehörden in Berlin zum Erfahrungsaustausch. Vertraulich und hinter verschlossenen Türen. Ein Teilnehmer zog in seiner Präsentation ein vernichtendes Fazit: „Was wurde nicht erreicht? Kein wesentlicher Beitrag in der Bekämpfung von organisierter Kriminalität. Der eigentliche Anlass für die Maßnahmen des Gesetzgebers ist nicht gelöst.“ Zwar decken die Prüfer der Kassen inzwischen deutlich mehr falsche Abrechnungen auf, auch die Zahl der Hinweise steigt, wie aus einer internen Erhebung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) Niedersachsen von Anfang Dezember hervorgeht. Danach war gut ein Drittel von über 700 Prüfungen auffällig. Dabei handelt es sich aber eher um kleine Falschabrechnungen bei legal operierenden Diensten. Die großen Fische gingen so nicht ins Netz, klagt ein Vertreter einer großen Krankenkasse, der weder seinen Namen noch seine Funktion in der Presse hören oder lesen will: „Erwischt werden jetzt eigentlich nur noch die Pflegedienste, die sich blöd anstellen.“ Hinzu kommt, so Dina Michels, die bei der Krankenkasse KKH mit Sitz in Hannover für den Bereich Bekämpfung Abrechnungsbetrug zuständig ist, dass jene, die absichtlich betrügen würden, ohnehin mit doppelter Buchführung arbeiteten. Gegenüber den MDK-Prüfern würden sie ganz besonders darauf achten, dass bei Prüfungen keine Ungereimtheiten zwischen Abrechnungen, Pflege-Dokumentationen und Leistungsnachweisen vorliegen. Außerdem finden Vor-Ort-Kontrollen in der Regel nach vorheriger Anmeldung statt.«

Das LKA Nordrhein-Westfalen, dass bundesweit federführend bei diesem Thema ermittelt, wird vom BR so zitiert: „In Fällen des organisierten Pflegebetruges stoßen die Prüfer des MDK jedoch an Grenzen, wenn Abrechnung und Pflegedokumentation mit entsprechendem Aufwand so frisiert sind, dass sie nach außen hin korrekt und plausibel erscheinen.“

Die „Ärzte Zeitung“ berichtet über das Thema unter der Überschrift Pflegemafia: Organisierte Kriminalität schwer zu fassen. Dort wird darauf hingewiesen, dass der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes der Krankenkassen (MDS) und das BKA im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität konträre Strategien verfolgen.

„Durch polizeiliche Maßnahmen allein ist eine nachhaltige Bekämpfung des Kriminalitätsphänomens nicht möglich. Da auf dem Gebiet der Pflege sehr viele Akteure mitwirken, bedarf es einer breit aufgestellten Diskussion zwischen allen beteiligten Akteuren“ – mit klaren Worten wies das Bundeskriminalamt (BKA) … auf Nachfrage der „Ärzte Zeitung“ die alleinige Zuständigkeit im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität (OK) in der häuslichen Krankenpflege zurück.

Die andere Seite wird vertreten von Peter Pick, dem Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes der Krankenkassen (MDS), der aus seiner Perspektive zu begründen versucht, warum er die MDK auf Landesebene als machtlose Kontrollinstanz gegen OK-Strukturen in der Pflege sieht.

„Mit den Abrechnungsprüfungen können wir Auffälligkeiten und Unregelmäßigkeiten feststellen und somit wichtige erste Hinweise für Ermittlungen geben. Stehen Pflegedienste jedoch im Verdacht, zur Organisierten Kriminalität zu gehören, dann kann nur polizeiliche Ermittlungsarbeit helfen. Wenn Pflegedienst, Patienten, Angehörige und vielleicht auch Ärzte und Hilfsmittellieferanten gemeinsam in betrügerischer Absicht geschlossen handeln, dann sind das Machenschaften, die nur durch Polizeiarbeit aufgedeckt werden können. Zu bedenken ist auch, dass der MDK nur dann die Abrechnung eines Versicherten prüfen kann, wenn der Betroffene damit einverstanden ist“, erläuterte Pick.

Damit weist Pick auf eine substanzielle Schwachstelle des Pflegestärkungsgesetzes III hin: »Dieses sieht zwar unangemeldete Pflegequalitätskontrollen in den Einrichtungen der Krankenpflege vor. Kontrollen in den eigenen vier Wänden sind aber zustimmungspflichtig. Im Klartext heißt das: Wer sich nicht kontrollieren lassen will. der bekommt auch keinen Besuch vom MDK. Andernfalls hat die OK Zeit, ihre Komplizen – in der Regel erhalten die Pflegebedürftigen Kick-back-Zahlungen als Belohnung für die Kooperation beim Pflegebetrug – für die Kontrolle fit zu machen. Geschützt ist die Intimsphäre nur dann nicht, wenn Polizei und Staatsanwaltschaft ein begründeter Verdacht vorliegt, der in eine Durchsuchung münden kann.«