Arbeit in der Paketzustellung: Verheddert im System der organisierten Unverantwortlichkeit

Der Höhepunkt des Jahres steht bevor, also für die Paketdienste in diesem Land: das Weihnachtsgeschäft. Auch wenn das Business das ganze Jahr über immer lauter und damit besser brummt, bleibt die Zeit vor Weihnachten der absolute Aktivitätsgipfel, vor allem für diejenigen, die das ganze Zeug zu den Kunden bringen müssen: die Paketzusteller.

Und deren Arbeitsbedingungen waren in der Vergangenheit schon regelmäßig im Fokus einer kritischen Berichterstattung in den Medien, auch mit angetrieben durch die Under cover-Recherchen des umtriebigen Günter Wallraff vor einiger Zeit, der sich selbst als Paketzusteller verdingt und eindrucksvolle Erfahrungen gesammelt hat. Berichte darüber findet man auch in dem von ihm herausgegebenen Band Die Lastenträger. Arbeit im freien Fall – flexibel schuften ohne Perspektive (zu DHL, GLS & Co. S. 167 ff.). Aber trotz der medialen Skandalisierung ist die Lage offensichtlich nicht besser geworden, teilweise sogar ganz im Gegenteil. Zunehmend werden beispielsweise osteuropäische Wanderarbeiter eingesetzt, um noch billiger arbeiten zu lassen, mit mehr als skandalösen Bedingungen, denen die Menschen aus Rumänien und Bulgarien ausgesetzt sind. Zugleich muss man beobachten, dass auch viele der Subunternehmer, an denen das gesamte Geschäftsmodell der Paketdienste hängt, in den existenziellen Abgrund gestoßen werden und ihren Ausflug in die „Selbständigkeit“, die sich in der Realität als perfide Form der Scheinselbständigkeit entpuppt, mit einer Schuldenfalle bezahlen, für die es dann nur noch den Exit Privatinsolvenz gibt.
Vor diesem Hintergrund war es Zeit, das Thema wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Die Gewerkschaft ver.di Rheinland-Pfalz/Saarland (in Kooperation mit der GUV-Fakulta,  dem Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen, der TBS gGmbH Rheinland-Pfalz sowie der Regionalstelle für Arbeitnehmer- und Betriebsseelsorge Mainz) hat deshalb am 31.10.2015 in Mainz ein Tribunal Arbeit in der Paketzustellung veranstaltet, bei dem im Rahmen einer fingierten Gerichtsverhandlung die Branche angeklagt und die Vorwürfe vor einem „Gericht“ verhandelt wurden. Neben vielen Zeugen, vor allem Betroffenen aus der Branche, wurden als Sachverständige für die Befragung des „Gerichts“ Günter Wallraff und ich geladen.

Eine gute Zusammenfassung der Veranstaltung findet sich in dem Artikel „Arbeit in der Paketzustellung“: Betroffene berichten in Mainz, wie sie in einer boomenden Branche leiden – Unter ihnen: Günter Wallraff von Carina Schmidt. Die Zeugen, die „Gerichtspräsidentin“ und Moderatorin Margarete Ruschmann im voll besetzen Unterhaus befragte, boten ein erschütterndes Bild durch ihre Aussagen. Es herrscht ein unglaublicher Druck auf die Subunternehmer, was ein ehemaliger DPD-Niederlassungsleiter bestätigte. „Die Auftraggeber geben den Subunternehmern alles vor, also die Zeiten, die Anzahl der Pakete und den Betrag“, bestätigte Giovanni Berardi, Geschäftsführer vom Interessenverband selbstständiger Subunternehmer im Transportgewerbe (ISSiT).
Die Subunternehmen geben diesen Druck oft weiter an ihre Beschäftigte.

»Wie Gewerkschaftsekretärin Tanja Lauer informierte, würden die Subunternehmer überwiegend Geringfügigbeschäftigte anstellen: „Sie werden nicht nach Tarif bezahlt, sodass ihr Lohn knapp unter dem Mindestlohn liegt. Viele werden auch in eine Scheinselbstständigkeit gedrängt.“ Die Beschäftigten würden zu einem großen Teil aus Osteuropa stammen, die unter falschen Versprechungen über Lohn und Arbeitszeit nach Deutschland gelockt werden.«

Und da sind wir schon angekommen bei einem Teil des Tribunals, wo selbst diejenigen, die sich professionell mit den Arbeitsbedingungen in unserem Land beschäftigen (müssen), mehr als „beeindruckt“ waren – eine Zeugenaussage von zwei rumänischen Paketzustellern, die geschildert haben, wie ihre Arbeits- und Lebensbedingungen hier bei uns in Deutschland aussehen und die auch Opfer geworden sind der von Tanja Lauer beschriebenen falschen Versprechungen, die man ihnen in Rumänien gemacht haben. Dazu Carina Schmidt in ihrem Artikel:

»Zwei Männer aus Rumänien … waren auf eine solche Masche reingefallen. „Unser Arbeitsalltag besteht aus 15 Stunden-Schichten ohne Pausen und einer Sechstagewoche und das bei einem Gehalt von 500 bis 700 Euro“, berichteten sie. Die Unterkunft werde vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt, wobei das Zimmer pro Person 250 Euro koste. Wie sie von dem übrigen Geld überhaupt leben könnten? „Von meinen Ersparnissen“, schilderte der Ältere. „Meine Eltern unterstützen mich“, sagte der Jüngere. Dabei sei das eigentlich mal umgekehrt gedacht gewesen.«

Hier noch eine Ergänzung von meiner Seite zu den Aussagen der beiden Rumänen: Ihnen wurde in Rumänien von – man muss sie so nennen – Menschenhändlern „Versprechungen“ gemacht, die so aussahen: Eine Tätigkeit in der Paketzustellung in Deutschland, von 4 Uhr morgens bis maximal 17 Uhr an fünf Tagen in der Woche und netto 1.400 Euro. Davon ist nicht viel übrig geblieben. Zur Unterkunft: Zur Zeit sind mehr als 20 Rumänen bei dem Subunternehmer beschäftigt, der sie in einer Pension untergebracht hat auf einem Dorf außerhalb der Stadt, die Pension gehört offensichtlich einem Freund des Unternehmers, der daran kräftig verdient. Denn sie müssen 250 Euro pro Monat und Person Miete zahlen, obgleich sie oft zu zweit oder dritt auf einem Einzelzimmer sind. „Wie in einer Höhle“ seien sie untergebracht, so einer der beiden Zeugen. Sie haben dort auch kein Telefon, kein Internet – offensichtlich werden sie abgeschottet und isoliert. Essen bekommen sie nicht gestellt, sie müssen versuchen, irgendwo in der nächst größeren Ortschaft hin und wieder einzukaufen und sie haben eine Küche für alle Bewohner der Pension.

Hinzu kommt: Selbst der karge Lohn für die Sklavenarbeit, die sie machen auf dem deutschen Paketmarkt, wird ihnen oft vorenthalten. 20 andere Rumänen sind schon wieder zurück in ihrer Heimat, ohne dass sie den ihnen zustehenden Lohn vom Arbeitgeber erhalten haben. Wir reden hier über ganz üblen Lohnklau, den wir leider auch in anderen Bereichen immer wieder feststellen müssen, wenn es um osteuropäische Wanderarbeiter geht: in der Fleischindustrie und vor allem auf dem Bau, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Natürlich fragen sich viele, warum die das trotzdem machen, warum schmeißen sie das nicht hin? Auch hier muss man wieder eintauchen in die Realität des Manchester-Kapitalismus auf deutschem Boden im Jahr 2015: Wenn sie von sich aus kündigen würden, dann gibt es so genannte „Vertragsstrafen“ für die Nicht-Erfüllung der vereinbarten Leistung.

Das alles ist schon unglaublich skandalös. Aber es gibt einen zweiten Skandal hinter diesem Skandal. Und in der Addition dessen, was von Gewerkschaftsseite dazu berichtet wurde, muss man von einem echten „Systemversagen“ des Staates sprechen:

Der Gewerkschaftssekretär Sigurd Holler sagte vor dem Tribunal aus, dass er in einer vergleichbaren Angelegenheit, also der Beschäftigung von Rumänen bei einen Subunternehmer, der für DPD fährt und der mittlerweile andere Subunternehmer verdrängt, weil er billiger ist, Politiker, Verbände und vor allem staatliche Stellen informiert hat über die skandalösen Arbeit- und Lebensbedingungen der Wanderarbeiter. Das bisherige Ergebnis: Von der Gewerbeaufsicht bekam er die Antwort, man könne derzeit keine Außenprüfungen mehr machen, weil der Landesrechnungshof ausgeführt hat, dort können weitere Stellen abgebaut werden, so dass man sparen müsse. Das Bundesamt für Güterverkehr (BAG) erklärte sich nur für den Verkehr (auf Autobahnen) zuständig. Vom Zoll habe es überhaupt kein Lebenszeichen, das Arbeitsministerium in Rheinland-Pfalz zeigte sich betroffen, hat auch nachgefragt, seitdem aber hat sich noch nichts getan. Und die Staatsanwaltschaft argumentiert, dass sie nur tätig werden könne, wenn ein Betroffener individuell Klage erhebe und am besten die Beweise gegen den Arbeitgeber gleich mitbringen würde. Auch GLS und DPD wurden informiert, von GLS gab es wie immer keine Reaktion und vom DPD die Aussage, man „prüfe“ das.

Was wir hier sehen ist das Ergebnis eines fatalen Zusammenspiels individueller Nicht-Zuständigkeiten, das sich im Kollektiv zu einem großen Systemversagen des Staates potenziert. Das wissen auch die Täter in der Branche und deshalb muss man von einer Mittäterschaft auf den Ebenen der Auftraggeber und der der staatlichen Kontrollbehörden sprechen.

Ich selbst habe in meiner „Aussage“ beim Tribunal versucht, das, was in dieser Branche passiert, systematisch einzubetten. Denn natürlich muss man die Frage stellen und zu beantworten versuchen, ob das nicht alles einige wenige „bedauerliche Einzelfälle“ sind oder ob dahinter ein System steckt, Strukturen erkennbar sind. Generell an dieser Stelle der Hinweis auf die Beiträge, die zum Thema Paketdienste und was da hinter der Fassade passiert, auf dieser Seite schon veröffentlicht worden sind.

„Das System lässt sich als eine organisierte Unverantwortlichkeit beschreiben. Denn durch die Subunternehmen können die Auftraggeber Druck ausüben und gleichzeitig ihre Hände in Unschuld waschen“, erklärte er. Branchenführer sei die Deutsche Post DHL (mit Delivery). Hinzu kämen aber noch UPS, GLS, DPD und Hermes, so Carina Schmidt in ihrem Artikel.

Das ist die eine Dimension. Wir sind konfrontiert mit einer pyramidalen Organisationsstruktur der Branche, wo die großen Konzerne an der Spitzen stehen und sich zahlreicher Subunternehmer bedienen, die wiederum den Druck weitergeben (müssen) an die bei ihnen Beschäftigten. Die obere Ebene kann im wahrsten Sinne des Wortes ihre Hände immer in Unschuld waschen und darauf verweisen, man habe sich doch von den Subunternehmen unterschreiben lassen, dass die sich an Recht und Gesetz halten. Die Subunternehmen selbst versuchen, auf dem Weg der (Selbst-)Ausbeutung den Kostendruck irgendwie zu bewältigen. Diese Konstruktionsprinzipien führen im Ergebnis dazu, dass am Ende keiner der Akteure der vorgelagerten Stufen noch zuständig erscheint, das Risiko und die Verantwortung wird einfach nach ganz unten, letztendlich bis zum einzelnen Fahrer runter gedrückt. Die andere Dimension, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, ist die Rutschbahn nach unten, auf der sich die ganze Branche befindet. Wir haben (noch) eine „Mehr-Klassen-Gesellschaft“ innerhalb der Branche. An der Spitze stehen die Paketzusteller der Deutschen Post DHL, ausgestattet mit Arbeitsverträgen aus der „alten“ Tarifvertragswelt der Post, die aber leider mittlerweile als Auslaufmodelle bezeichnet werden müssen, denn die „neue“ Welt ist die der Billigtöchter der Deutschen Post DHL, also die Delivery-GmbHs, von denen es mittlerweile 49 gibt (übrigens nur in 7 gibt es überhaupt einen Betriebsrat und aufgrund der Zersplitterung in 49 rechtlich selbständige GmbHs kann es auch keinen Gesamtbetriebsrat geben – neben den deutlichen Gehaltseinbußen im Vergleich zur DHL „alt“ sind die Beschäftigten also auch mit einer deutlichen Schwächung der betrieblichen Mitbestimmung konfrontiert). Die Subunternehmen stehen ganz unten, am Ende der Nahrungskette.

Übrigens – das, was wir hier studieren müssen am Beispiel der Paketdienste, ist ja keine Singularität dieser Branche, sondern bettet sich leider ein in eine branchenübergreifende Entwicklungslinie: Das, was die Deutsche Post DHL Group mit den Delivery-Gesellschaften macht, erleben wir derzeit bei der Lufthansa mit dem Eurowings-Konzept, also dem Ausbau der Billigflieger-Schiene im Konzern. Wir erleben das seit der Aufhebung der Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags im Jahr 2000 im Einzelhandel in Form von Tarifflucht der Arbeitgeber und Lohndumping bei den Beschäftigten. Oder man denke an den Öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖPNV), wo es früher kommunale Verkehrsunternehmen gab und mittlerweile zahlreiche Strecken privatisiert wurden und von privaten Busunternehmen betrieben werden (zu häufig deutlich schlechteren Konditionen für die Beschäftigten).

Aber abschließend wieder zurück zu den Beschäftigten in den Paketdiensten. Sie bewegen sich auch deshalb in einer Boom-Branche, weil es eine sich entsprechend entwickelnde Nachfrage gibt. Insofern darf man die Kunden, also wir alle, nicht aus der Betrachtung und letztendlich Mitverantwortung entlassen. Ein wesentlicher Antreiber des Booms der Paketdienste ist die „Amazonisierung“ unserer Gesellschaft. Wenn man eine holzschnittartige Zusammenfassung bestimmter Trends auf der Kundenseite machen muss, dann könnte eine solche Gleichung rauskommen:

Online-Bestell-Boom + Billigmentalität und dann auch noch + tagsüber immer öfter keiner zu Hause, wohin aber bestellt wird = logistische Probleme der Paketzustellunternehmen und vor allem = Probleme für die Paketzusteller

Während die Paketzustellunternehmen versuchen, zum einen bei den Kunden oder einem Teil von ihnen, vor allem im Bereich der Städte, den „Do-it-yourself“-Trend zu verstärken (z.B. Paketboxen), sind die Auswirkungen der Entwicklung auf Seiten der Zusteller, also bei denjenigen, die die Arbeit machen, doppelt problematisch: Zum einen mehr Pakete pro Zusteller, zum anderen immer schwerere Pakete, denn anders als früher wird mittlerweile fast alles per Paketzustellung bestellt und versendet.

Es wird dringend Zeit, hier Ordnung zu schaffen, vorrangig im Interesse der Beschäftigten, aber auch vieler Subunternehmer, die als faktisch Scheinselbständige nur kleine Bausteine im großen Spiel der Konzerne sind. Dazu gehört neben Kontrollen und der Verfolgung der Missstände in der Branche eine Debatte über die Tarifverträge bis hin zur Allgemeinverbindlichkeit.

Aber auch die Auftraggeber können und müssen in die Verantwortung genommen werden bzw. sie können, das zeigt das folgende Beispiel, selbst aktiv Verantwortung übernehmen:

Den Beschäftigten der Stadt Kopenhagen ist es ab sofort untersagt, für Dienstreisen den Billigflieger Ryanair zu benutzen. Die Begründung: Das Lohndumping beim Konzern sei eine „Schweinerei“.
Es geht hier nicht um irgendeine kleine Kommune, sondern: Mit 45.000 Beschäftigten ist die Stadt Kopenhagen der größte Arbeitgeber des Landes. Wie begründet die Stadt diesen Schritt? Kopenhagen stelle gegenüber allen seinen Lieferanten die Bedingung, dass diese ihren Angestellten „anständige Lohn- und Arbeitsbedingungen garantieren“. Ansonsten würden diese bei Ausschreibungen und Lieferverträgen nicht berücksichtigt, erklärte der sozialdemokratische Oberbürgermeister der dänischen Hauptstadt, Frank Jensen. Selbst wenn der Billigflieger Ryanair das preisgünstigste Angebot unterbreiten solle, disqualifiziere er sich selbst, solange er sich bei seinen Anstellungsverhältnissen nicht an dänische Arbeitsmarktvorschriften halte – zumindest für von Dänemark ausgehende Flüge.
Acht weitere dänische Kommunen haben einen ähnlichen Schritt wie Kopenhagen angekündigt oder bereits umgesetzt.

Wie ich das finde? Gut so! Man muss sein eigenes Arbeitsmarktmodell nicht mit Füßen treten lassen.

Da war doch noch was: Ein Arbeitskampf => ein Schlichtungsergebnis => dessen Ablehnung von unten => neue Verhandlungen nach der Wiederwahl des Vorsitzenden => eine Wiederauferstehung des Schlichtungsergebnisses, garniert mit kosmetischen Korrekturen

Dieses Jahr wird sicher einen besonderen Platz im Archiv der Geschichte der Arbeitskämpfe bekommen – nicht nur wegen der Streiks der Lokführer und den zwischenzeitlich wieder auf dem Boden aufgeschlagenen Arbeitskampfaktionen der Piloten der Lufthansa, sondern auch wegen einer Serie von Kopfnüssen, die seitens der Gewerkschaft Verdi wegzustecken waren. Gemeint ist hier zum einen der Arbeitskampf bei der Deutschen Post DHL, der sich vor allem und am Ende erfolglos gegen eine Verlagerung der Paketzustellung in Billigtöchter gerichtet hat. Und zum anderen – angesichts seiner grundsätzlichen Bedeutung besonders schmerzhaft – der Streik im Sozial- und Erziehungsdienst, in der Öffentlichkeit immer verkürzend als „Kita-Streik“ tituliert, was aber unvollkommen ist, denn es ging (und geht) auch um die Beschäftigten in der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und anderen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit, die aber irgendwie immer untergehen in der Berichterstattung.

Die Fachkräfte des Sozial- und Erziehungsdienstes in kommunalen Einrichtungen wurden im Frühjahr – nicht nur von Verdi, sondern auch von der GEW – in einen unbefristeten Arbeitskampf geschickt mit der Forderung nach einer strukturellen Aufwertung ihrer Berufe im Tarifgefüge. Es handelte sich also nicht um eine „normale“ Lohnrunde, sondern um die Durchsetzung des Ziels, die Fachkräfte hinsichtlich ihrer Eingruppierung nach oben zu heben. Damit sollte den gestiegenen Anforderungen und der Bedeutung ihrer Arbeit endlich auch spürbar Tribut gezollt werden. Die Forderungssumme der strukturellen Verbesserungen beliefen sich alles in allem auf gut zehn Prozent. Es soll an dieser Stelle gar nicht um die taktisch-strategische Bewertung gehen, ob man damit die Trauben nicht zu hoch gehängt hat. Zweifel an der Sinnhaftigkeit angesichts der realen Bedingungen gab es durchaus auch im Gewerkschaftslager vor dem Arbeitskampf, beispielsweise auf Seiten der GEW, die sich eher ein Stufen-Modell gewünscht hätte.

Der zentrale Punkt hinsichtlich der besonderen Bedeutung des letztendlich ausgerufenen unbefristeten Arbeitskampfes muss darin gesehen werden, dass es um einen Bereich geht, bei dem ein Erfolg von Streikaktionen ganz erhebliche Folgewirkungen auch auf andere Felder personenbezogener Arbeit haben würde – gerade die Pflegekräfte haben den Streik sehr intensiv beobachtet (und viele sicher auch die Daumen gedrückt), denn sie haben das gleiche Problem wie streikende Erzieher/innen oder Sozialarbeiter: Der Arbeitskampf trifft nicht unmittelbar ein oder mehrere Unternehmen, deren Produktion lahmgelegt wird, sondern erst einmal diejenigen, die den Fachkräften anvertraut sind – also Kinder, Behinderte oder eben Pflegebedürftige. Und da fällt streiken schon mal per se sehr schwer, denn es ist verständlicherweise nicht einfach, hilflose und sorgebedürftige Menschen im wahrsten Sinne des Wortes „liegen zu lassen“.

Insofern hätte man diesen Weg mehr als intensiv vorbereiten müssen – nicht nur angesichts der Tatsache, dass die, gegen die der Arbeitskampf gerichtet war, also die kommunalen Arbeitgeber, anders als „normale“ Unternehmen, bei denen sich Streikfolgen sofort in der eigenen Schatulle schmerzhaft bemerkbar machen, nicht unmittelbar getroffen werden (können), sondern primär die Kinder und deren Eltern. Die Arbeitgeber – und das haben sie auch in extensio gemacht – können sich erst einmal zurücklehnen und abwarten, haben sie doch keinen unmittelbaren Schaden (vor allem nicht, wenn sich nach einer gewissen Dauer die wachsende Wut der unmittelbar Betroffenen fast ausschließlich gegen die Streikenden richtet). Ganz im Gegenteil, durch die Streiktage können sie sogar noch Geld sparen, weil das die von ihnen zu tragenden Personalkosten reduziert (hat). Insofern hätte man neben einer sorgfältig vorbereiteten Streikwelle (auch durch die Einbindung der anderen Gewerkschaften als Unterstützer und gewissermaßen Schutzschild) vor einem unbefristeten Arbeitskampf die scheinbar nicht einfache und logische Frage stellen müssen: Halten wir das auch durch, wenn das mediale Sperrfeuer nach anfänglicher Sympathie einsetzt?

Hinzu kommt eine weitere erhebliche Restriktion des Agierens über einen Arbeitskampf: Im Kita-Bereich sind lediglich ein Drittel der Plätze und Einrichtungen in kommunaler Trägerschaft, der große Rest hingegen wird von „freien Trägern“ betrieben, unter denen die konfessionell gebundenen Träger die große Mehrheit stellen. Aber bei denen gibt es kein Streikrecht für deren Mitarbeiter (die dort als „Dienstnehmer“ bezeichnet werden). Auch wenn die Erzieher/innen dieser Einrichtungen gerne mitkämpfen wollen, sie können es nicht, ihre Rolle beschränkt sich auf die eines Zaungastes, der nur die Daumen drücken kann.

Dennoch ist man in einen unbefristeten Streik eingetreten. Der Ablauf ist bekannt. Nach einigen Wochen wurde der Arbeitskampf unterbrochen, da eine Schlichtung einberufen wurde. Am 23. Juni 2015 gab es eine Einigungsempfehlung der Schlichtungskommission. Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) schreibt dazu auf ihrer Webseite: »Die beiden Schlichter in den Tarifverhandlungen für den Sozial- und Erziehungsdienst, Georg Milbradt und Herbert Schmalstieg, haben am 23. Juni 2015 ihren einvernehmlichen Schlichterspruch in Bad Brückenau vorgestellt. Inhalt: Differenzierte Erhöhungen für die unterschiedlichen Gehaltsgruppen, aber keine Steigerung um die von den Gewerkschaften geforderten durchschnittlichen zehn Prozent.«
Die Gewerkschaften, deren Verhandler der Schlichtungsempfehlung zugestimmt hatten, haben dann ihre Basis diskutieren und im Sommer abstimmen lassen über dieses Ergebnis – mit fatalen Folgen, denn eine große Mehrheit hat den Schlichterspruch abgelehnt. Damit gerieten die Gewerkschaften, vor allem aber die federführende Organisation Verdi, in eine überaus unangenehme Situation, mussten sie doch nach diesem Votum in erneute Verhandlungen mit den kommunalen Arbeitgebern eintreten und zugleich die Möglichkeit erneuter Streikaktionen vorbereiten – wohl wissend, dass es diesmal noch schwerer werden würde, über Streiks etwas erreichen zu können, das spürbar über der Schlichtungsempfehlung liegen würde, was offensichtlich von der Basis erwartet wurde. Das alles wurde in diesem Blog bereits dargestellt und auch kommentiert, so in dem Beitrag Zwischen „ausgelaugter Gewerkschaft“ und dem Nachtreten derjenigen, die das Streikrecht schleifen wollen vom 10. August 2015 sowie kurz vorher Die Gewerkschaftsspitze allein zu Haus? Das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum Schlichtungsergebnis im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste und das „Fliegenfänger“-Problem der Verdi-Führungsebene vom 8. August 2015.

Aber die Arbeitgeberseite war gnädig – man vertagte die neue Runde an Verhandlungen bis nach der Wiederwahl von Frank Bsirske als Vorsitzender der Gewerkschaft Verdi und gab dann einige kleinere kosmetische Verbesserungen an die aus ihrer Sicht schon längst ausgehandelte Angelegenheit. Ergebnis dieser Verhandlungsrunde war dann die Tarifeinigung für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst vom 30. September 2015. Interessierte Leser mögen einfach mal die beiden Papiere mit den neuen Tabellenwerten nebeneinander legen.

Nach monatelangem erbittertem Tarifstreit sieht der neue Kompromiss zwischen Gewerkschaften und kommunale Arbeitgeber bei der Bezahlung im Sozial- und Erziehungsdienst vor, dass die rund 240.000 dort Beschäftigten rückwirkend zum 1. Juli durchschnittlich 3,73 Prozent mehr Gehalt bekommen sollen – wenn denn die Gewerkschaftsmitglieder nun endlich zustimmen, die Erklärungsfrist für die Gewerkschaften läuft noch bis Ende Oktober 2015. Die Schlichtungsempfehlung aus dem Juni dieses Jahres beinhaltete Gehaltserhöhungen von durchschnittlich 3,19 Prozent.

Andreas Wyputta hat seinen Artikel zu den neuen Ergebnissen unter die Überschrift gestellt: Umverteilung unter Arbeitnehmern. Er kommt gleich im Untertitel seines Beitrags zu der zentralen Bewertung: Die kommunalen Arbeitgeber haben sich durchgesetzt. Der Präsident der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA), Thomas Böhle, sieht sich als „klarer Sieger“ und wird mit diesen Worten zitiert:

»Der Kompromiss mit den Gewerkschaften entspreche „im Wesentlichen dem Schlichterspruch“. Mit 315 Millionen Euro zahlten Städte und Gemeinden nur 9 Millionen Euro mehr als von den Schlichtern vorgesehen.«

Um der missmutigen Gewerkschaftsbasis das neue Ergebnis schmackhaft zu machen, hat man zu einem nicht unbekannten Dreh gegriffen: Die oberen Lohngruppen bekommen eine geringe Gehaltserhöhung, untere sehen dafür mehr Geld. Man hat also ordentlich umverteilt, nicht aber das Volumen deutlich erhöht:

»Während die Schlichter Lohnerhöhungen zwischen 33 und 161 Euro vorsahen, haben die Arbeitnehmervertreter diese Spanne nun auf 98 bis 138 Euro kleinverhandelt. SozialarbeiterInnen im Allgemeinen Sozialdienst, denen zunächst eine Nullrunde gedroht hatte, sollen nach dem nun vorliegenden Kompromiss zwischen 30 und 80 Euro brutto mehr im Monat erhalten.«

Dass das jetzt am Ende bestätigt wird, dafür sorgt wahrscheinlich diese Besonderheit:

»Die Gewerkschaftsbasis wird in einer Urabstimmung bis Ende Oktober über den Kompromiss beraten … Um dem neuen Tarifvertrag Geltung zu verschaffen, müssen nur 25 Prozent der Gewerkschafter zustimmen – und nicht 50 wie bei der Mitgliederbefragung.«

Diese Erfahrungen werden bei der einen oder dem anderen Ernüchterung auslösen. Auf der anderen Seite muss man in der Tarifpolitik auch verlieren können, vor allem, wenn die Rahmenbedingungen so sind, wie sie sind. Man sollte das dann aber wenigstens nicht auch noch als „Eigentlich-Erfolg“ verkaufen. Glaubwürdigkeit schafft man anders.

Nachtrag am 07.10.2015: Das neue Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute ist unter dem Titel Deutsche Konjunktur stabil – Wachstumspotenziale heben veröffentlicht worden. In dem Artikel Das raten die Wirtschaftsforscher der Bundesregierung findet man diesen aufschlussreichen Passus:

„Moderne Volkswirtschaften wachsen in abnehmendem Maße durch Investitionen in Beton und in zunehmendem Maße durch Investitionen in Köpfe“, betonen die Forscher. „Hier gilt es, Wachstumspotenziale zu heben.“ Konkret wird vorgeschlagen, nicht nur die Zahl der Kita-Plätze zu erhöhen, sondern auch die Qualität der Betreuung zu erhöhen – vor allem für sozial benachteiligte Kinder.

Tarifflucht des Arbeitgebers und Zwangsteilzeit für die Beschäftigten. Das ist Real. Wieder einmal über eine Branche auf der Rutschbahn nach unten

Man kann ein eigenes Archiv eröffnen, wenn es um die Arbeitsbedingungen im Einzelhandel geht. Und dieses Archiv mit unzähligen Berichten hätte eine recht eindeutige Unwucht ab dem Jahr 2000. Denn bis dahin galt der Einzelhandel als eine relativ wohlgeordnete Branche. Die meisten Beschäftigten hatten eine Ausbildung, die Arbeitgeber waren tarifgebunden – wenn auch einige nicht freiwillig, sondern weil das Tarifwerk allgemein verbindlich war. Das bedeutet, alle Unternehmen mussten sich an die tariflichen Bestimmungen halten. Dadurch gab es eine wirkkräftige Sperre für Dumpingversuche einzelner Unternehmen, denn die waren schlichtweg nicht möglich.

Die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder hat dem ein Ende gesetzt, als auf Druck der Arbeitgeber die Allgemeinverbindlichkeit aufgehoben wurde. Seit diesem Schritt muss man beobachten, wie die gesamte Branche auf eine Rutschbahn nach unten gesetzt wurde, denn nunmehr lohnte es sich für einzelne Unternehmen, nach unten auszubrechen und beispielsweise durch Lohndumping bei den eigenen Beschäftigten Kostenvorteile gegenüber der Konkurrenz zu „erwirtschaften“. Was dann natürlich auch prompt geschehen ist. Nun hat so eine Rutschbahn die unangenehme Konsequenz, dass sie früher oder später auch die mit nach unten zieht, die eigentlich diesen Weg nicht gehen wollten, denn die Kostenvorteile der anderen, die die neue Bewegungsfreiheit genutzt haben, wurden bzw. werden in einer Branche, die sich durch einen brutalen Preiskrieg und sehr niedrige Margen auszeichnet, so elementar, dass man sich dem dadurch ausgelösten Druck nicht auf Dauer entziehen kann.

mehr