Jenseits der sozialpolitischen Baustellen in Deutschland, aber inmitten der Frage nach unserer Mit-Verantwortung: Bangladesch, Katar und Indien

Screenshot-Collage Süddeutsche Zeitung, Spiegel Online und Guardian

Immer wieder ist es angebracht, über den nationalen Tellerrand der sozialpolitischen Baustellen hinauszuschauen und den Blick zu weiten. Schauen wir also nach Bangladesch, nach Katar und nach Indien.

Viele werden sich erinnern: Es war die (bisher) größte Katastrophe in der Geschichte der Textilindustrie: 1.130 Menschen starben im April 2013 beim Einsturz einer Fabrik in Bangladesch, 332 Menschen gelten immer noch als vermisst. Es gab mindestens 1.800 Verletzte. Eine kurze Zeit lang wurden die Arbeitsbedingungen der vielen Näherinnen in Bangladesh thematisiert und eine im Ansatz kritische Diskussion über unsere Mit-Verantwortung schaffte es gar auf die Talkshow-Ebene, beispielhaft sei hier erinnert an die Sendung „Billigkleidung aus Bangladesch – sind wir schuld am Tod der Näherinnen?“ von Günther Jauch im ARD-Fernsehen am 26.05.2013 – um dann schnell wieder abgelöst zu werden von anderen Themen und Ereignissen. Immerhin hieß es dann, die betroffenen Menschen und Familien vor Ort in der Textilhölle werden entschädigt und einige Textilkonzerne übten sich nach außen in Nachdenklichkeit. Vor diesem Hintergrund muss dann diese Meldung wieder einmal enttäuschen: »Fast ein Jahr danach warten die Näherinnen immer noch auf Hilfe der Firmen, für die sie geschuftet haben. Doch die schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu«, so kann man es dem Artikel mit der zutreffenden Überschrift „Im Stich gelassen“ entnehmen.

In dem Artikel von Hans Leyendecker und Anne Ruprecht wird beispielhaft die Geschichte der Näherin Jasmin Akther erzählt. Sie »arbeitete in der achtstöckigen Textilfabrik Rana Plaza in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch. Sie nähte Blusen für Deutschland, T-Shirts für England und was sonst noch so alles im Dauer-Akkord produziert werden musste. Immer war „Deadline“. Ihr Monatslohn lag weit unter 50 Dollar, trotz der vielen Überstunden.« Dann kam der Einsturz der Fabrik, in der sie gearbeitet hat. »Jasemin Akther überlebte. Aber sie wurde schwer verletzt, kann kaum noch gehen, nicht mehr arbeiten. Ihre Familie kommt nur schwer über die Runden. Sie hat einen Kredit aufnehmen müssen und muss für diesen Kredit 40 Prozent Zinsen zahlen. Die Näherin wartet auf Hilfe der Unternehmen, für die sie geschuftet hat. Sie wartet auch auf Hilfe deutscher Firmen.«

Was wurde den Menschen nicht alles versprochen, so lange die Journalisten aus aller Welt ihr Blitzlicht auf die Szenerie gerichtet hatten. Das ist nun aber schon lange vorbei.
Großzügige Entschädigungen für die Hinterbliebenen der Toten, volle Bezahlung der medizinischen Kosten, Weiterzahlung von Löhnen und, wenn irgend möglich, sichere Renten wurde den Menschen wie eine nicht erreichbare Wurst vor die Augen gehängt.

Und wie sieht die Bilanz aus?

»Nur die irische Firma Primark hat eine Million Dollar für Soforthilfe auf den Weg gebracht und sich um medizinische Versorgung gekümmert.« Und die anderen? Schätzungsweise 29 Modeunternehmen aus aller Welt haben aus Rana Plaza Waren bezogen. Billigketten wie Walmart (USA) waren darunter. Auch Marken des mittleren Segments wie etwa Benetton (Italien). Auch die drei deutschen Unternehmen, KiK, Adler Mode und NKD waren darunter. Auf Initiative von Gewerkschaften und der Kampagne für saubere Kleidung (CCC) wurden alle Unternehmen Mitte September vergangenen Jahres nach Genf zu Entschädigungsverhandlungen bei der ILO, der Internationalen Arbeitsorganisation der UN, eingeladen. Ganze neun Unternehmen schickten Leute nach Genf. Aus Deutschland kam nur Kik. Die allermeisten Unternehmen blieben den Verhandlungen fern.
Die Unternehmen warten ab, verweisen auf dunkle Sub-Lieferanten.

Der Artikel endet nicht ermutigend: »Die Näherin Jasemin Akther erkennt die KiK-Bluse aus der „Verona Pooth Kollektion 2013“, die in den Trümmern lag, sofort wieder. Sie drückt sie an sich – eine Erinnerung an diesen schrecklichen Tag, den viele da draußen längst vergessen haben.«

Dass internationale Aufmerksamkeit und Protest schnell wieder verpufft und man so weiter machen kann wie vorher – diese Erfahrungen machen nicht nur Näherinnen in Bangladesch, sondern auch die Sklavenarbeiter aus dem Nepal und anderen asiatischen Ländern, die auf den Baustellen für die Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar schuften müssen. So kann man dem Artikel „Erneut Dutzende Tote auf WM-Baustellen“ entnehmen: »Die internationalen Proteste gegen die menschenunwürdigen Bedingungen auf den WM-Baustellen in dem Wüstenland haben nichts bewirkt – es sterben nach wie vor Dutzende ausländischer Arbeiter.« Bereits im September des vergangenen Jahres wurde weltweit über skandalöse Zustände auf den Baustellen in Katar berichtet und man hätte erwarten können, dass sich wenigstens etwas ändert. Nun aber neue Schreckensmeldungen, deren Quelle ein Artikel ist, der im „Guardian“ veröffentlicht wurde: „Qatar World Cup: 185 Nepalese died in 2013 – official records„. Eine erschreckende Bilanz tut sich hier auf:

»According to the documents the total number of verified deaths among workers from Nepal – just one of several countries that supply hundreds of thousands of migrant workers to the gas-rich state – is now at least 382 in two years alone. At least 36 of those deaths were registered in the weeks following the global outcry after the Guardian’s original revelations in September.«

Wie in dem Zitat bereits angedeutet – es war ebenfalls der „Guardian“, der im verhangenen Jahr die öffentliche Wahrnehmung für die unhaltbaren Zustände in Katar überhaupt erst hergestellt hat, vgl. hierzu den Artikel Revealed: Qatar’s World Cup ’slaves‘ vom 25. September 2013.
»Die Gesamtzahl der Opfer, die das umstrittene Großereignis inzwischen gefordert hat, dürfte wesentlich höher liegen. Denn die Regierungsdokumente, die dem „Guardian“ vorliegen, stammen nur aus Nepal. Die Nepalesen stellen aber lediglich ein Sechstel der insgesamt rund zwei Millionen Mann starken Gastarbeiterarmee in Katar – Tote aus weiteren Nationen sind also sehr wahrscheinlich«, so Spiegel Online.

Die Bestandsaufnahme ist ernüchternd: Die katarischen Scheichs »beuten die Gastarbeiter weiterhin systematisch aus, pferchen sie in armselige Unterkünfte und scheren sich nicht um die Sicherheit auf den WM-Baustellen. Und die Fußballfunktionäre setzen ihnen kaum etwas entgegen.« Und genau da liegt der Link zu unserer Mit-Verantwortung, denn natürlich könnten und müssten die nationalen Fußballverbände und unter ihnen besonders die großen und einflussreichen Druck ausüben auf die Funktionäre der Fifa, damit die sich endlich bewegen.

Statt dessen lernen wir eine weitere Lektion, die vor allem für die Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) eine ganz wichtige darstellt: Die Scheidegrenze zwischen konkreter Verbesserung der Lebenslage der Menschen, für die man sich einsetzt, und der Instrumentalisierung durch die, die sich an den Menschen bereichern, ist eine ganz schmale. Das muss CCC gerade von den Textilkonzernen in Bangladesch erfahren und im Fall von Katar erfahren wir:

»Der Chef des WM-Organisationskomitees, Hassan al-Thawadi, verkündete in der vergangenen Woche via „Bild“-Zeitung erste Erfolge. So sei eine Charta für den Arbeitsschutz entwickelt worden, die mit Human Rights Watch und Amnesty International besprochen worden sei. Bei den Organisationen ist das Papier allerdings bislang nicht angekommen. In der „Süddeutschen Zeitung“ dementierten Sprecher beider Organisationen, ein entsprechendes Papier gesehen zu haben.«

Abschließend soll noch über Indien berichtet werden – ein weiteres Beispiel für das, worum es sowohl in Bangladesch wie auch in Qatar letztendlich geht: Sklavenarbeit in „modernen Zeiten“. Und wieder hat das wie in Katar mit einer boomenden Bauwirtschaft zu tun, nur in diesem Fall nicht, um für einige wenige Wochen gigantische Fußball-Arenen in die Wüste zu setzen, damit sich die Weltfußballgemeinde für ein paar Spiele daran ergötzen kann, sondern in Indien geht es um einen generellen Bauboom, der mit dem wirtschaftlichen Wachstum dieses riesigen Schwellenlandes verbunden ist und von diesem vorangetrieben wird.  Ein Bestandteil dieses Baubooms ist eine stetig steigende Nachfrage nach Ziegeln, für deren Produktion Menschen, darunter sogar Kinder, unter sklavenähnlichen Bedingungen eingesetzt werden. So jedenfalls die Erkenntnisse, die man einem Artikel des „Guardian“ entnehmen kann: „Blood bricks: how India’s urban boom is built on slave labour„.  Es handelt sich um einen wirklich beeindruckenden Artikel, den man unbedingt gelesen haben sollte. Man schätzt, dass es landesweit mehr als 150.000 Ziegeleien gibt, in denen etwa 10 Millionen Menschen beschäftigt sind.

Andrew Brady von Union Solidarity International (USI), einer NGO aus Großbritannien, die sich für die Verbesserung der Arbeite- und Lebensbedingungen der in der indischen Ziegelindustrie beschäftigten Menschen engagiert, wird mit einer harten Bewertung zitiert: “It’s modern-day slavery“. Und weiter wird er zitiert mit den Worten: »Entire families of men, women and children are working for a pittance, up to 16 hours a day, in terrible conditions. There are horrific abuses of minimum wage rates and health and safety regulations, and it’s often bonded labour, so they can’t escape.« Ein BBC-Bericht hat Anfang des neuen Jahres sogar vierjährige Kinder entdeckt, die zur Arbeit eingesetzt worden sind.

Und auch hier werden wir – wie so oft – Zeuge der enormen Kluft zwischen Theorie und Praxis:

»New guidelines for multinationals, introduced in 2011 by the United Nations and the Organisation of Economic Cooperation and Development, specify that such companies should have direct responsibility for human rights abuses anywhere in their supply chains. But little is being done to enforce these regulations.«

Zumindest gibt es jetzt eine „Blood Bricks Campaign„, die versucht, ein Stück weit Öffentlichkeit herzustellen. Man sollte das nicht geringschätzen:
»In partnership with Indian human rights group, Prayas, they have been working to organise brick kiln workers into unions, an initiative that has already seen 70% wage rises in some areas.«

Aber die Akteuere sind sich bewusst, dass es mehr internationalen Druck geben muss, damit sich was ändert:

»The campaign comes after the Observer’s recent revelations of horrific labour abuses on Abu Dhabi’s new pleasure island of Saadiyat, where new outposts of the Louvre and Guggenheim museums are under construction. The investigation discovered thousands of workers living in squalid conditions, passports confiscated and trapped until they paid back hefty recruitment fees.«

Und so schließt sich wieder der Kreis zu den anderen Beispielen: „It’s a world-wide issue“, so wird Andrew Brady von Union Solidarity International (USI) zitiert. Und er soll hier auch das Schlusswort bekommen:

“We’re merely using India as the example, but we’ve seen the same abuses with projects in Qatar and Brazil for the World Cup and Olympics – iconic projects built on the back of the blood and sweat of bonded labour. It’s time to put an end to this trade in blood bricks.”

Eine harte Packung: Ungleichheit und soziale Polarisierung im Spiegel neuer Zahlen

Es gibt sie, diese Tage, an denen man förmlich bombardiert wird mit Zahlen und Aussagen, die auf fundamentale gesellschaftliche Entwicklungslinien verweisen. So ein Tag fängt beispielsweise an mit einer solchen Botschaft: Das Statistische Bundesamt bringt es in der für die Bundesstatistiker so typisch trockenen Art und Weise, aber zugleich absolut zutreffend schon in der Überschrift der Pressemitteilung über den neuen „Datenreport 2013“ auf den Punkt: „Mehr Jobs, aber auch mehr Armut„. Die Süddeutsche Zeitung titelt dazu: ”Reiches Deutschland, armes Deutschland“ und Spiegel Online gar: „Arme Deutsche sterben früher„. Eine Zusammenfassung einiger ausgewählter Aspekte aus dem neuen „Datenreport 2013“ kann man auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ nachlesen.

Aber damit noch nicht genug: „Deutschland vernachlässigt arme Rentner„, so berichtet Spiegel Online über eine neue OECD-Studie, die Online-Ausgabe der Welt überschreibt einen Artikel dazu mit: „Geringverdiener bekommen ein Rentenproblem„. Was ist hier los?

Die OECD hat eine neue Studie vorgestellt, aus der wir für Deutschland die folgende Perspektive entnehmen können: Nach derzeitigem Stand würden „die Rentenbezüge für Menschen mit verhältnismäßig kleinem Gehalt gegen Mitte dieses Jahrhunderts so niedrig sein wie in kaum einem anderen OECD-Land“, sagte die Leiterin der Abteilung für Sozialpolitik, Monika Queisser. Die Ökonomen der OECD analysieren die Lebensstandardänderung beim Eintritt in den Ruhestand. Die wird gemessen an den so genannten „Ersatzraten“:

»Sie zeigen an, wie hoch die Bezüge von Rentnern im Verhältnis zu ihrem früheren Einkommen in Zukunft liegen werden. Im Schnitt aller 34 Länder liegt die Rate bei 54 Prozent des Bruttoeinkommens. Wer in Deutschland 2012 zu arbeiten beginnt und sein Leben lang Rentenbeiträge zahlt, kann laut OECD später 42 Prozent seines durchschnittlichen Bruttoeinkommens erwarten. Das ist nicht einmal halb so viel wie beim Spitzenreiter Niederlande, der auf eine Ersatzrate von stolzen 89 Prozent kommt.«

Immerhin bekommt man in Deutschland mehr als in Großbritannien, wo Durchschnittverdiener nur knapp ein Drittel ihres früheren Einkommens erhalten.

Allerdings: Das sind die Durchschnittswerte. Und die Daten für die Geringverdiener zeigen für Deutschland ein weitaus schlechteres Bild:

»Deutlich schlechter sieht der Vergleich jedoch bei Geringverdienern aus, die nur über die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens verfügen. Sie erhalten laut Studie in den meisten OECD-Ländern deutlich höhere Ersatzraten als Durchschnittsverdiener und werden somit vor Altersarmut geschützt. In Dänemark bekommen Niedrigverdiener 121 Prozent ihres früheren Einkommens, in Israel sind es 104 Prozent. Ganz anders in Deutschland: Hier erhalten Geringverdiener genauso wie der Durchschnitt nur 42 Prozent ihres Einkommens. Damit landet Deutschland noch hinter Polen (49 Prozent) auf dem letzten Platz.«

Nun wird an dieser Stelle immer wieder kritisch angemerkt, dass der Lebensstandard nicht nur von der Rente abhängig sei, sondern beispielsweise auch von Vermögenstatbeständen wie dem Besitz eines Hauses oder einer Eigentumswohnung. Doch auch da sieht es im internationalen Vergleich für einen Teil der in Deutschland lebenden Menschen nicht gut aus:

»So profitiert nur jeder zweite Deutsche im Ruhestand vom eigenen Haus oder der eigenen Wohnung. Im OECD-Schnitt sind es dagegen 76 Prozent.«

Und auf die immer wieder beschworenen Umverteilungseffekte staatlicher Leistungen kommen nicht berauschend daher:

»Staatliche Leistungen erhöhen das Einkommen der deutschen Rentnergeneration um durchschnittlich 30 Prozent, zehn Prozentpunkte unter dem OECD-Schnitt.«

Derzeit – gleichsam als Folgewirkung der „alten“ Erfolgsstory Rentenversicherung steht Deutschland nicht gut da beim Thema Altersarmut. Allerdings:

»Der (neue) Datenreport 2013 zeigt aber, dass die Armutsgefährdung gerade bei älteren Deutschen in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen hat.«

Die OECD weist darauf hin, dass viele Länder anders als Deutschland die Geringverdiener bei ihren Sparbeschlüssen verschont haben.

Was zu tun wäre? Ein relativ naheliegendes Konzept wäre die Besserstellung der Geringverdiener in der Rentenversicherung. Also eine stärkere Umverteilung innerhalb der Rentenversicherung. Wir hatten in der Vergangenheit solche Umverteilungselemente, die mittlerweile abgeschafft worden sind, beispielsweise die Rente nach Mindesteinkommen. Eine Mindestrente wäre die logische Antwort auf diese Entwicklungen. Beispielsweise.

Darf der das? Der Chef der Bundesagentur für Arbeit kritisiert „zunehmende Lohnungleichheit“. Er soll das sogar, weil die eigentliche Botschaft eine andere ist

Das ist eine Schlagzeile, die aufhorchen lässt: Weise kritisiert „zunehmende Lohnungleichheit“, so ein Artikel in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung. Gemeint ist hier mit Frank-Jürgen Weise immerhin der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit. Macht der Mann jetzt etwa Wahlkampf für die Oppositionsparteien? Denn es ist doch noch nicht wirklich lange her, da wurde uns im Umfeld der etwas verzögerten Veröffentlichung des „4. Armuts- und Reichtumsberichts“ der Bundesregierung seitens der Regierung wie auch von nicht wenigen Medien die Botschaft vermittelt, wir leben in einem „Erfolgsmodell“ und die Ungleichheit würde in Deutschland zurückgehen, alles sei nun am gut werden.

Dabei hatte schon das zur Bundesagentur für Arbeit gehörende Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Zusammenhang mit einer öffentlichen Anhörung zum neuen Armutsbericht zahlreiche Einwände gegen Behauptungen der Bundesregierung in einer Stellungnahme vorgetragen. Diese Stellungnahme hat es durchaus in sich: Keine abnehmende Einkommensungleichheit, Reallöhne gesunken, atypische Beschäftigung gestiegen, Hilfebedürftigkeit bei 60- bis 65-Jährigen um circa 65 Prozent gestiegen, Aufstocker nicht thematisiert – um nur die wichtigsten Aussagen herauszugreifen, wie „O-Ton Arbeitmarkt“ in einem Beitrag über die IAB-Stellungnahme zusammenfassend berichtet hat. Macht der Vorsitzende des Vorstandes der BA jetzt an dieser Stelle weiter?

Schaut man sich einige Kernaussagen an, die man dem Interview mit der Süddeutschen Zeitung entnehmen kann, dann relativiert sich die ganze Angelegenheit auf den ersten Blick, denn das, was er sagt, ist seit Jahren Gegenstand der sozialpolitischen Debatte und insofern vollzieht er hier nur an und für sich Bekanntes nach:

„Wir haben die Tendenz zu einer zunehmenden Lohnungleichheit“, darüber wird nun schon seit langem berichtet und wer sehenden Auges über den Arbeitsmarkt wandelt, der muss über die Begrifflichkeit Tendenz eher schmunzeln. Oder der hier: „Wer hier nicht mithalten kann, für den bleiben, wenn überhaupt, nur niedrig bezahlte Jobs.“ Sicher auch gerne gehört werden angesichts der vielen befristeten Jobs vor allem für die jungen Menschen solche Worte: „Wenn man Familie haben, ein Auto kaufen, einen Kredit für die Wohnung haben will, gehört dazu Berechenbarkeit auf der Einkommensseite.“

Schon interessanter wird die Sache bei seinen Ausführungen zur Zeit- bzw. Leiharbeit. Hier spricht er davon, dass das Ausmaß der Leiharbeit in Deutschland erträglich geblieben sei. „Wenn wir Zeitarbeit hier in Dimensionen wie in Großbritannien hätten, gäbe es in Deutschland zwei Millionen statt 800.000 Zeitarbeiter“, so Weise. Um dann gleich auch eine interessante Grenze zu ziehen, denn er spricht davon, dass wenn wir mehr als eine Million Leiharbeiter hätten, dann würde das nicht mehr zu „unserem Jobsystem“ passen. Und weiter: »Zeitarbeit sei ein Puffer für Unsicherheit und Kapazitätsspitzen. Sie sollte sich „auf diesen Kern des Geschäfts konzentrieren und kein Modell sein, um niedrigere Lohngruppen in einem Betrieb zu etablieren“.« Das ist dann schon wieder mehr als irritierend, denn genau das ist bei einem nicht geringen Teil der Leiharbeit der Fall, wie Herr Weise wissen sollte.

Dann kommt eine Ankündigung des BA-Chefs, die man sich genau abspeichern sollte für die vor uns liegenden Monate:

»Wir müssen davon weg, dass unsere Kunden dort rein- und rausgehen und zwischendurch auf Hartz IV angewiesen sind. Wir haben manchmal zu oft zehn Menschen in Zeitarbeit vermittelt statt zwei in einen Handwerksbetrieb oder ein anderes kleines oder mittelständisches Unternehmen. Letzteres wäre aber volkswirtschaftlich unter Umständen besser. Deshalb ändern wir das gerade.«

Diese Aussage ist auch deshalb so interessant wie brisant, weil die bisherige Geschäftspolitik der BA eine andere war und ist – mit dem Resultat einer zunehmenden Bedeutung der Leiharbeit: »34 Prozent der offenen Stellen, die der Bundesagentur für Arbeit gemeldet wurden, entfielen im Jahresdurchschnitt 2012 auf die Leiharbeitsbranche«, berichtet O-Ton Arbeitsmarkt. Außerdem »schloss die Bundesagentur für Arbeit zunehmend Kooperationsverträge mit Leiharbeitsunternehmen.«

Die Andeutungen von Weise müssen auch im Zusammenhang gesehen werden mit Diskussionen innerhalb seines Hauses, die er damit bedienen will (denn erst einmal bleibt das eine Ankündigung): Bereits im Oktober 2012 hat der Vorsitzende des Hauptpersonalrats der BA, Eberhard Einsiedler, in einem kritischen Positionspapier die massenweise Vermittlung in Leiharbeit angeprangert. Die Anzahl der Vermittlungsvorschläge in Leiharbeit habe sich zwischen 2007 und 2011 auf knapp neun Millionen mehr als verdreifacht (plus 276 Prozent). Weiter kann man in diesem Papier finden: 2007 kamen auf einen Vermittlungsvorschlag in Leiharbeit noch etwa drei Vermittlungsvorschläge in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis. 2011 hat sich das Verhältnis auf eins zu 1,7 verschoben.

Die eigentliche Botschaft des Herrn Weise geht so: Macht euch keine Sorgen wegen der Leiharbeit, so lange die unter einer Million Menschen liegt, ist das in Ordnung (wohl wissend, dass die Leiharbeitsfirmen auf absehbare Zeit diese Grenze gar nicht überschreiten können) und so, wie sie angeblich eingesetzt werden, sind sie in Ordnung. Und wir selbst werden im Sinne einer „freiwilligen Selbstverpflichtung“ so tun, als tun wir was gegen die „win-win-Situation“ zwischen Leiharbeitsfirmen und Bundesagentur.

Und nachdem er gerade die kritischen Geister versorgt hat mit wohlfeilen Botschaften, dass auch er die „Tendenz“ zu einer zunehmenden Lohnungleichheit erkannt habe und man irgendwie was machen wolle gegen allzu schlimme Auswüchse bei der viel kritisierten Leiharbeit, kommt er zum eigentlichen Punkt, der aus einer direkten Wahlkampfunterstützung für die CDU/CSU besteht, die zumindest auf der Ankündigungsebene eine der zentralen Wahlkampfthemen der Opposition abzuräumen versucht: das Thema Mindestlohn, das in weiten Teilen der Bevölkerung und quer zu den Parteipräferenzen eine große Sympathie genießt. Folglich hat Merkel und ihre Union für die Zeit nach der Wahl nicht wie von der Opposition gefordert mindestens einen, sondern ganz viele Mindestlöhne in Aussicht gestellt. Und genau diesen Ansatz präferiert Herr Weise, folgt man der Berichterstattung:

»Im Interview spricht sich Weise für von Arbeitgebern und Gewerkschaftern ausgehandelte, differenzierte Lohnuntergrenzen aus. Wenn diese „moderat und nach Branchen und Regionen unterschiedlich sind, muss dies keine Arbeitsplätze kosten“, sagte er.«

Also wenn der Chef der Bundesagentur für Arbeit das so sagt, dann muss das Konzept der Unionsparteien doch irgendwie richtig sein. Ein gutes Interview. Fragt sich nun nicht mehr, für wen.