Bekanntlich dominieren Problembeschreibungen oftmals die Berichterstattung über soziale und sozialpolitische Themen. Immer wieder wird dann die Frage aufgeworfen, was denn mögliche Alternativen wären und wo man die finden und besichtigen könne. Da wird das Material schon erheblich dünner. Insofern ist die Erwähnung der Stadt Detroit als „Gesellschaftslabor“ etwas, was Interesse auslösen muss – steht doch Detroit als Synonym für das Zentrum der US-amerikanischen Automobilindustrie, insofern wird diese Metropolregion konsequenterweise auch als „Motor City“ bezeichnet: Der Hinweis auf Detroits „Big Three“ – Ford, General Motors und Chrysler – mag genügen. Der Name der Stadt ist gleichsam begriffsgeschichtlich aufgeladen, denn 1909 begann die Massenproduktion von Automobilen mit dem Ford Modell T in Detroit/Highland Park – und damit eine Phase, die jeder Soziologie- und Ökonomie-Student unter dem Begriff des „Fordismus“ in Verbindung mit dem „Taylorismus“ kennen sollte – charakterisiert durch Massenproduktion und Massenkonsum, Fließbandfertigung – für deren Einführung Ford und sein Modell T stehen – sowie kleinteilige Zerlegung von Arbeitsprozessen.
Detroit steht allerdings auch für den Niedergang dieser gesellschaftlich so prägenden Phase und vor allem der US-amerikanischen Auto-Industrie und bereits seit den 1960er Jahren befindet sich die Stadt in einem Prozess des Zerfalls und des Rückzugs.
Unter der bezeichnenden Überschrift „Willkommen in Reformmotor City!“ beschreibt nun Lu Yen Roloff interessante Bewegungen des Widerstands gegen den Zerfall und der Ausformung kreativer Strategien des Überlebens und Neuerfindens in einem hoch belasteten Umfeld.
Da gibt es beispielsweise die Non-Profit-Organisation „Motor City Blight Busters„, deren Freiwillige aufgegebene Häuser und Grundstücke bereinigen und neben anderen Dingen auch Gemeinschaftsgärten anlegen. In dieser Organisation kristallisieren sich durchaus uramerikanische Werte – »große Visionen gepaart mit hemdsärmeligem Do-it-yourself-Geist und Gemeinschaftssinn«, wie Roloff das ausdrückt. „Aufräumen, stabilisieren, verschönern und die Leute ins Boot holen. Das ist der einzige uns bekannte Weg, wie man eine Stadt neu erfinden kann“, mit diesen Worten wird John George zitiert, der Gründer und Kopf der „Motor City Blight Busters“-Organisation. Man muss sich die Ausgangssituation verdeutlichen, mit der diese Stadt konfrontiert ist: »Von den 700.000 Menschen in der Stadt Detroit – 85 Prozent von ihnen Afroamerikaner – leben ein Drittel der Erwachsenen und über die Hälfte der Kinder an der Armutsgrenze, abhängig von staatlichen Lebensmittelmarken. Noch mehr sind arbeitslos, in einigen Blocks sind es bis zu 70 Prozent, viele haben Probleme mit Alkohol und Drogen. Durch den Verlust von Steuern hatte die Stadt 2011 ein Haushaltsdefizit von 196 Millionen Dollar, musste Schulen und Polizeistationen schließen, Buslinien kappen und Obdachlosenheime schließen.«
Eine Reaktion auf diese Verhältnisse ist das Gründen sozialer Unternehmen. Als ein Beispiel wird die Firma „Empowerment Plan“ genannt. Die Non-Profit-Firma bildet »obdachlose Mütter zu Näherinnen aus und stellt sie nach drei Monaten zum Stundenlohn von zehn Dollar an. Die Firma hilft den ehemaligen Heimbewohnern auch, eigene Häuser zu mieten und organisiert mit Hilfe von befreundeten NGOs die komplette Einrichtung … Noch finanziert sich das Unternehmen durch Geld- und Sachspenden – unter anderem stammt das Futtermaterial aus recycelten Abfällen der Autoproduktion von General Motors. Doch bald sollen nach einem „Buy one, give one“-Modell hippe Großstädter ihre Wintermäntel kaufen und damit je einen Obdachlosenmantel mitfinanzieren.«
Veronica Scott, die Gründerin von „Empowerment Plan“, wird mit den Worten zitiert: „Woanders gründen Uniabsolventen Tech-Startups – wir in Detroit gründen Nonprofits und soziale Unternehmen.
Bemerkenswert ist auch die von der Knight Foundation geförderte Website „Urban Innovation Exchange„. Hier werden die Sozialunternehmer der Stadt vorgestellt. »Etwa die Detroit Bus Company, die erste private Buslinie der Stadt, die touristisch interessante Ziele rund um Downtown abfährt. Die Touristen finanzieren mit ihrem 5-Dollar-Ticket den kostenlosen Transport für Arme mit. Oder das Restaurant Colors, das ehemalige Sträflinge zu Unternehmern ausbildet und alle Mitarbeiter vom Tellerwäscher bis zum Chefkoch genossenschaftlich beteiligt. Das Gemüse stammt von den urbanen Gärtnern der Stadt, die auf dem gemeinnützigen Eastern Market ihre auf Brachen angebauten Salatköpfe verkaufen.« Roloff schreibt dazu: »Die Stadt quillt über vor kreativen Machern, die ihre Community stärken wollen.«
Faszinierend ist auch die Urban-Gardening-Bewegung in Detroit (eine Bewegung, die neuerdings auch bei uns identifiziert wird, zumindest in einer Buchpublikation: www.urban-gardening.eu): »Überall in Detroit haben Privatpersonen, Kirchen, Schulen und Organisationen wie die Blight Busters Brachland in kleine Gemüsebeete und Gemeinschaftsgärten verwandelt. Mit geschätzten 1500 Anbauflächen und 185 Organisationen in diesem Bereich ist die Stadt nationaler Vorreiter … Schon jetzt schließen die Gärten eine wichtige Versorgungslücke in der Stadt. Weil zahlungskräftige Kunden fehlten, hatte 2006 die letzte große Supermarktkette die Stadt verlassen. 500.000 Menschen gelten seitdem als Bewohner einer sogenannten Food Desert, haben kaum Zugang zu frischem Obst und Gemüse und sind deswegen auf das Fertignahrungsangebot in den Liquor Stores angewiesen. In diese Lücke stoßen jetzt die rund 50 Marktgärten, die ihr Gemüse auf Detroits Frischemärkten unter dem Label „Grown in Detroit“ verkaufen. Insgesamt 170 Tonnen Lebensmittel produzieren sie im Jahr – mit einem Wert von einer halben Million Dollar.«
Faszinierend ist diese Entwicklung auch deshalb, weil das nichts Neues ist, sondern hier werden Bewältigungsmuster von Krise aktiviert, die wir beispielsweise in den 1920er und 1930er Jahren in Teilen Deutschlands in einer sehr ausgeprägten Form schon mal gehabt haben.
Nun wird der eine oder die andere sagen – Detroit ist aber weit weg und die Kultur und Mentalität der Amerikaner ist nun wirklich eine ganz andere als bei uns. Also werfen wir einen Blick auf die „Sozialunternehmer“ in Deutschland, was Jens Tönnesmann in der Online-Ausgabe WirtschaftsWoche unter dem etwas reißerischen Titel „Womit soziale Gründer Geld verdienen“ gemacht hat: »Klimawandel, Pflegenotstand, ungleiche Bildungschancen: wie Jungunternehmer zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme beitragen und damit Profit machen.« In diesem Artikel werden zahlreiche Beispiele vorgestellt von Menschen und Projekten, die als „Social Entrepreneurs“ bezeichnet werden – durchaus in einem bestimmten Maße angesichts des doch noch relativ geringen Umfangs dieses Bereichs innerhalb der Wirtschaft ein „Hype“-Thema in Wissenschaft und Teilen der Medien, die darüber berichten. „Es ist zwar eine kleine Szene, aber eine wachsende“, wird Steven Ney, Professor für Entrepreneurship an der Bremer Jacobs University, in dem Artikel zitiert.
„Wir wollen von unserem Unternehmen natürlich leben können, aber vor allem wollen wir etwas Sinnvolles tun“, mit diesen bezeichnenden Worten wird am Ende des Artikels Clemens Meyer-Holz, Mitgründer der Pflegeschule.de in Oldenburg zitiert. Aktuell verhandeln sie mit Krankenkassen darüber, die ihren Versicherten für ein paar Cent Zugang zu der Plattform verschaffen wollen.
Mit den „Social Entrepreneurs“ beschäftigen sich seit einigen Jahren zunehmend auch Wissenschaftler. Die Stiftung Mercator hat hierzu ein größeres Verbundprojekt gefördert („Innovatives Soziales Handeln – Social Entrepreneurship„), dessen Arbeitsergebnisse im vergangenen Jahr der Öffentlichkeit vorgestellt worden sind und die im Juli dieses Jahres als Buch veröffentlicht werden sollen. Mit Blick auf die etablierten Anbieter sozialer Leistungen haben sich einige interessante Befunde ergeben:
»Sozialunternehmer sind dann besonders erfolgreich, wenn sie mit den etablierten wohlfahrtsstaatlichen Akteuren zusammenarbeiten. 58 Prozent der innovativen Projekte werden in Kooperation zwischen neuen und traditionellen Akteuren entwickelt. Eine weitere wichtige Quelle für innovative Projekte (61 Prozent) sind Mitarbeiter etablierter Einrichtungen, die ihre innovativen Ideen innerhalb der bestehenden Organisationsstrukturen umsetzen – sogenannte Social Intrapreneure,« kann man der Pressemitteilung zu der Verbundstudie entnehmen.
Weitere Hinweise gibt es in der folgenden Publikation:
Mercator Forscherverbund„Innovatives Soziales Handeln – Social Entrepreneurship“: Sozialunternehmer – Chancen für soziale Innovationen in Deutschland. Möglichkeiten der Förderung, Essen: Stiftung Mercator, September 2012 >> PDF
Abschließend betrachtet: Wir haben es hier noch mit einem Handlungsfeld zu tun, das erst am Anfang seiner Ausdifferenzierung zu stehen scheint – und man sollte skeptisch mitlaufend beachten, dass die Bedingungen für innovative Sozialunternehmen in Deutschland eher restriktiv bis verunmöglichend sind, aber nicht nur aufgrund der rechtlichen Ausgestaltung der Förderlandschaft bei uns, sondern auch aufgrund der entsprechenden Versäulung auch innerhalb der Wohlfahrtsverbände. Da sind noch einige dicke Bretter zu bohren. Dass das aber ein enormes Potenzial hat, kann man an den Ausführungen zu einem „inklusiven Design“ für Menschen mit Behinderungen und dem Beispiel „manomana“, einem Sozialunternehmen in Augsburg, nachvollziehen, die man auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ nachlesen kann.