Die lieben Kleinen und das Personal. In den Kindertageseinrichtungen wird es voller, enger und jünger. Gleichzeitig fehlen bereits heute vorne und hinten Fachkräfte

Bevor das statistische Bundesamt die neuen Daten aus dem März dieses Jahres über die Zahl der Betreuungsplätze für unter dreijährige Kinder veröffentlicht, auf die sich die Öffentlichkeit angesichts des zum 1. August anstehenden Rechtsanspruchs auf einen solchen Platz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr der Kinder stürzen wird, sei an dieser Stelle auf die neue Veröffentlichung des „Länderreports Frühkindliche Bildungssysteme“ der Bertelsmann-Stiftung hingewiesen: „Eine Frage der Qualität: Kitas haben oft zu wenig Personal„, so hat die Stiftung ihre Pressemitteilung überschrieben. Es fehlt an Erzieherinnen: Der Personalmangel in der Kinderbetreuung ist nicht nur die größte Hürde, wenn es ab August gilt, den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einzulösen, so die Bertelsmann-Stiftung – sondern bereits heute sind wir in den Kindertageseinrichtungen mit Personalschlüsseln konfrontiert, die oftmals wenn überhaupt nur eine Betreuungsfunktionalität ermöglichen, nicht aber die Umsetzung anspruchsvoller Bildungsziele, die in der aufgeregten Nach-Pisa-Zeit den Kitas über teilweise sehr voluminöse Bildungspläne verordnet worden sind. Und dann sind da ja auch noch die Erziehungsaufgaben, von denen aber weitaus seltener gesprochen wird. Und noch etwas kommt hinzu, wenn man die von der Bertelsmann-Stiftung präsentierten Daten richtig einordnen will: In den vergangenen Jahren haben die Kitas einen tiefgreifenden Strukturwandel dergestalt durchlaufen, dass sie zum einen immer jüngere Kinder aufgenommen haben bzw. aufnehmen mussten, dass sie einen Teil der Kinder immer länger betreuen müssen und schlussendlich, dass sie die Öffnungszeiten der Einrichtungen immer mehr ausgedehnt haben. Das alles muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass es sich im Regelfall bei den Kindertageseinrichtungen um überwiegend kleine Betriebe handelt, mit in der Regel weniger als zehn Beschäftigten und darunter seit Jahren immer mehr teilzeitbeschäftigten Frauen – mittlerweile beläuft sich der Anteil der Teilzeit arbeitenden Beschäftigten in westdeutschen Kindertageseinrichtungen auf 66,5%. Eine solche Struktur hat natürlich erhebliche personalwirtschaftliche Auswirkungen, beispielsweise bei Ausfällen einzelner Mitarbeiterinnen, ganz abgesehen von den qualitativen Implikationen, die mit einer höheren Fluktuation der Fachkräfte beispielsweise angesichts des Bedarfs an „Bezugserzieherinnen“ für die ganz Kleinen verbunden sind.

Die Bertelsmann-Stiftung hat in ihrem „Länderreport“ neben anderen Daten über die Kindertageseinrichtungen auch den „Personalschlüssel“ dargestellt – dabei ist vor dem aktuellen Hintergrund natürlich besonders interessant der Schlüssel für die Betreuung der unter dreijährigen Kinder:

»Im bundesweiten Durchschnitt beträgt demnach der Personalschlüssel in Krippen 1:4,5. In den ostdeutschen Krippen jedoch betreut eine Vollzeitkraft rechnerisch sechs Ganztagskinder. Nach dem von der Bertelsmann Stiftung empfohlenen Personalschlüssel (1:3) sollte eine Erzieherin nur für halb so viele Kinder verantwortlich sein. Das einzige Land, das diese Empfehlung nahezu erfüllt, ist Bremen, wo eine Vollzeitkraft für 3,1 ganztags betreute Kinder verantwortlich ist. Die schlechteste Betreuungsrelation finden Eltern für ihre unter dreijährigen Kinder in Sachsen-Anhalt (1:6,5).«

In den Medien wurde dann entsprechend berichtet und der nicht vorbelastete Beobachter wird diese Daten so interpretieren, wie sie scheinbar daherkommen: Man stellt sich eine Kita vor und geht davon aus, dass im ausgewiesenen günstigsten Fall 3,1 der Kinder von einer Fachkraft umsorgt werden, während es bei dem Land mit der roten Laterne immerhin mehr als das Doppelte an Kindern sind. Aber  wie so oft im Leben: So einfach ist es leider nicht, worauf die Stiftung in ihren methodischen Erläuterungen auch ausführlich hinweist und bereits in der zitierten Meldung heißt es ja, dass z.B. in Sachsen-Anhalt „eine Vollzeitkraft“ für 6,5 „ganztags betreute Kinder“ zuständig sei. Daraus resultieren zwei zu beachtende Randbedingungen: Zum einen darf man diesen Wert nicht verwechseln mit tatsächlicher Arbeit einer Fachkraft mit dem Kind/den Kindern, das wäre die Fachkraft-Kind-Relation und die liegt höher (anders gesagt: die ist dann noch schlechter), denn man muss ja berücksichtigen, dass die Erzieherin auch mal nicht da ist oder sein kann bzw. dass es auch Aktivitäten gibt, die nur „mittelbar“ mit den Kindern zu tun hat, beispielsweise Elterngespräche oder Vor- und Nachbereitung des pädagogischen Programms.

Die GEW hat anhand eines Beispiels den Unterschied zwischen Personalschlüssel und Fachkraft-Kind-Quote rechnerisch erläutert. Und zum anderen ist dieser Personalschlüssel ein statistischer Wert, man muss ja unterschiedliche Zeitkonstellationen sowohl bei den Betreuungszeiten der Kinder wie auch bei der Arbeitszeiten der Erzieherinnen kompatibel machen, wenn man sie denn miteinander vergleichen möchte. Die Stiftung erläutert dieses „Gleichmachen“ unterschiedlicher Zeitkonstellationen an der Definition des Personalschlüssels in ihren methodischen Hinweisen:
Der Personalschlüssel gibt an, »wie viele Ganztagsbetreuungsäquivalente aufseiten der betreuten Kinder auf ein Vollzeitbeschäftigungsäquivalent aufseiten der pädagogisch Tätigen kommen« (S.3), es handelt sich also um eine Umrechnung der Arbeitszeiten der Fachkräfte auf eine (fiktive) Vollzeitarbeitskraft und ebenso die Umrechnung der unterschiedlichen Betreuungszeiten der Kinder auf ein (fiktiv) ganztags betreutes und damit in der Einrichtung anwesendes Kind. Anders geht es nicht, wenn man alle miteinander vergleichen will.

Was man auch noch wissen muss – und was sicher für die tatsächlich in den Einrichtungen arbeitenden Erzieher/innen wichtig ist, die ihre Realität in den Gruppen teilweise deutlich schlechter wahrnehmen als es die ausgewiesenen Personalschlüssel nahelegen: Es gibt gruppenübergreifend tätige Fachkräfte, die also nicht direkt in den Gruppen arbeiten. Da die Statistiker nicht wissen, wo und wie lange die was machen, wird deren Arbeitszeit einfach über alle Gruppen bzw. über alle Kinder der Einrichtung anteilig verteilt, deren Betreuungsrelation also zugerechnet. Genauso verfährt man übrigens mit den Leitungskräften, die ebenfalls umgelegt werden auf die Kinder, in praxi aber gar nicht oder nur teilweise zur Verfügung stehen. Das muss man wissen, denn dann versteht man auch, dass die ausgewiesenen Werte oftmals eine Überschätzung der tatsächlichen Personalausstattung zum Ausdruck bringen, mit anderen Worten: An der Betreuungsfront sind die Personalrelationen noch schlechter, als sie von der Stiftung bereits mit Bezug auf die statistischen Kunstwerte ausgewiesen werden.

Zwei interessante Zusammenhänge kann der Ländermonitor der Bertelsmann-Stiftung herausarbeiten: Vereinfacht gesagt lautet ein funktionaler Zusammenhang vor allem bei Berücksichtigung der West-Ost-Differenzen und mit Blick auf die unter dreijährigen Kinder:
1.) Je mehr die Bedarfe der Eltern gedeckt werden, desto schlechter sind aber die Betreuungsrelationen (und umgekehrt, wie man am Beispiel Bremen sehen kann: rechnerisch gute Betreuungsrelation, aber mit 20% Nicht-Deckung des Bedarfs Schlusslicht im Westen).
2.) Die Differenzen zwischen den Bundesländern sind massiv und nicht zu rechtfertigen (wenn man den Personalschlüssel als eine der wichtigen und unverzichtbaren Rahmenbedingungen für Qualität versteht): Im Westen hat die Stadt Hamburg den ungünstigsten Personalschlüssel. Dort ist eine Vollzeitkraft für durchschnittlich 5,2 Kinder unter drei Jahre verantwortlich, während es in Bremen „nur“ 3,1 Kinder sind, rechnerisch gesehen – das bedeutet, wir werden damit konfrontiert, dass ausgehend vom Bremer Personalniveau das in Hamburg um 68% schlechter ist! Natürlich noch schlimmer werden diese Abweichungen, wenn wir West und Ost vergleichen.

Auf einen weiteren und höchst bedenklichen Befund weist der Ländermonitor in seiner differenzierten Analyse der Betreuungsformate der Kleinkinder hin: Der Personalschlüssel variiert erheblich je nach Gruppenform, in der die Kinder betreut werden – das Spektrum reicht hier von der kleinen Krippengruppe, in der nur unter dreijährige Kinder betreut werden, bis hin zur „geöffneten“ großen Kindergartengruppe, in die dann einige Kleinkinder gesteckt werden. Die Bertelsmann-Stiftung erläutert die hier zu beobachtenden Spannweiten:
In den westdeutschen Bundesländern »ist in den Krippen eine Erzieherin statistisch für 3,7 Kinder verantwortlich. In den altersübergreifenden Gruppen, die gut 15 Prozent der unter Dreijährigen besuchen, betreut eine Erzieherin rechnerisch 5,8 Kinder. Noch ungünstiger ist die Personalausstattung in für Zweijährige geöffneten Kindergartengruppen (1:7,9). In eine solche Gruppe geht im Westen fast jedes fünfte Kita-Kind (18 Prozent) unter drei Jahren.«
Das entsprechende Fazit zieht Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung: »Die Personalschlüssel in den altersgemischten Gruppen orientieren sich derzeit an den Bedürfnissen der über Dreijährigen. Wir müssen aufpassen, dass die Jüngsten nicht zu kurz kommen, denn ihre Bildungschancen verschlechtern sich mit unzureichenden Betreuungsrelationen.« Und das ist noch „nett“ ausgedrückt.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) mahnte Verbesserungen an. »Wir brauchen endlich eine bundesweite Regelung, in der hohe Qualitätsstandards verankert sind«, erklärte GEW-Vorstandsmitglied Norbert Hocke in Frankfurt am Main. Über die Qualität des Krippenangebots dürfe weder der Zufall noch die Haushaltslage eines Landes oder einer Kommune entscheiden, so die Zitation in dem Artikel „Miese Noten für Kinderkrippen„.

Wer sich genauer mit den Untiefen der Personal- sowie Fachkraft-Kind-Schlüssel beschäftigen will und wer auf der Suche beispielsweise nach „kritischen Schwellenwerten“ ist, bei deren Unterschreiten wir in den Bereich einer Gefährdung des Kindeswohls kommen, dem sei an dieser Stelle die Forschungsarbeiten von Viernickel et al. empfohlen: Zum einen die 2011 veröffentlichte Studie „Schlüssel zu guter Bildung, Erziehung und Betreuung – Wissenschaftliche Parameter zur Bestimmung der Fachkraft-Kind-Relation“ von Viernickel und Schwarz sowie ganz aktuell den neuen Forschungsbericht „Schlüssel zu guter Bildung, Erziehung und Betreuung – Bildungsaufgaben, Zeitkontingente und strukturelle Rahmenbedingungen in Kindertageseinrichtungen“ von Viernickel et al. (2013).

Fazit: Wir haben bereits im bestehenden System eine erhebliche Schieflage zwischen dem, was sein sollte und dem, was ist. Bei allen methodischen Problemen einer genauen Bestimmung des Personaleinsatzes – die besondere Brisanz der Befunde liegt in der Tatsache begründet, dass unser besonderes Augenmerk der Situation der unter dreijährigen Kinder geschuldet sein muss, denn zum einen findet hier ein erheblicher quantitativer Ausbau der Angebote statt, zum anderen handelt es sich um die vulnerabelsten Kinder, die eigentlich besonders eindeutige und gute Standards bedürfen. Hier nun bewegen wir uns in dem Dilemma, dass die quantitative Expansion der Angebote („irgendwelche Plätze und die bitte möglichst günstig und schnell“), die im Mittelpunkt des politischen Handelns wie auch der Berichterstattung in den Medien steht angesichts der Fixierung auf den Stichtag 1. August mit dem Rechtsanspruch, schon grundsätzlich in einem Spannungsfeld steht zu den qualitativen Anforderungen an eine gute Arbeit, die in diesem Bereich vor allem mit qualifizierten Personal verbunden ist, dass es – soviel sollte mittlerweile angekommen sein – derzeit zumindest in nicht wenigen Regionen und vor allem Städten, in denen zugleich auch noch ein hoher Bedarf vorhanden ist, schlichtweg nicht da ist. Mit der erwartbaren Folge, dass man „Übergangslösungen“ eben auch beim Personal für unvermeidbar erklärt.

Aber – so meine Prognose zu den am 11. Juli vom Statistischen Bundesamt zu erwartenden Daten über den Stand des Ausbaus der Kita-Plätze (mit dem Stichtag März dieses Jahres): Alles wird gut und die Botschaft wird lauten, eigentlich haben wir schon alles geschafft, nur noch hier und da mag es den einen oder anderen Platz noch bedürfen. Und so, wie sich viele Erzieherinnen von der Betreuungsfront über die – wie hier erläutert – rechnerischen Größen zum Personalschlüssel irritiert gezeigt haben, weil sie die genannten Relationen anders erleben, so werden auch tausende Eltern, die verzweifelt nach einem Betreuungsplatz suchen, irritiert zur Kenntnis nehmen müssen, dass sie ein bedauerlicher, aber nur ein Einzelfall in einer schönen neuen Welt des „Betreuungswunders“ in Deutschland sind.

Altersarmut von unten und von denen, die früher mal oben gewesen wären

Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hat auf die Ergebnisse einer neuen Untersuchung zum Thema Altersarmut hingewiesen: „41,5 Prozent der ausländischen Senioren in Deutschland von Altersarmut betroffen„, so das Institut. Eric Seils vom WSI kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass die Altersarmut unter älteren Ausländern, die oftmals als „Gastarbeiter“ nach Deutschland gekommen sind, mehr als dreimal so hoch sei wie unter Deutschen über 65 Jahren und dass sie sogar etwa sechs Mal so häufig die Grundsicherung im Alter in Anspruch nehmen wegen ihrer deutlich niedrigeren Renten. Die Analyse verdeutlicht, dass es bereits heute Gruppen mit einem sehr hohen Risiko der Altersarmut gibt.

»2011 bezogen 13,3 Prozent aller Senioren in der Bundesrepublik ein monatliches Einkommen unter 848 Euro … 848 Euro entsprechen 60 Prozent des bedarfsgewichteten mittleren Einkommens. Wer als Alleinstehender weniger hat, gilt nach gängiger Definition als „armutsgefährdet“ … 2011 (waren) in Deutschland 41,5 Prozent der Ausländer über 65 Jahren von Altersarmut bedroht, 12,7 Prozent bezogen Grundsicherung. Unter den Senioren mit deutscher Staatsangehörigkeit waren nur 2,1 Prozent darauf angewiesen … Männliche ausländische Bestandsrentner erhielten 2011 monatlich im Durchschnitt 811 Euro aus der Rentenkasse. Neurentner bekamen hingegen im Mittel nur 623 Euro – ein Einkommen unterhalb der Schwelle für die Grundsicherung, die bei 698 Euro liegt.«

Das hohe Altersarmutsrisiko der ausländischen Senioren in Deutschland wird auf deren niedrige Löhne und eine überdurchschnittliche Betroffenheit von Arbeitslosigkeitsphasen zurückgeführt.

Nun könnte man an dieser Stelle einwerfen, der Rettungsring wird doch schon aufgeblasen – ob nun  in Form der „Lebensleistungsrente“ der Bundesarbeitsministerin von der Leyen (CDU) oder der „Solidarrente“ bzw. „Garantierente“ von SPD und Grünen. Axel Kleinlein, der ehemalige Vorstandsvorsitzender des Bundes der Versicherten, gießt hier allerdings mehr als nur Wasser in den Wein: „Die Rente für Geringverdiener bringt nichts„, so seine Diagnose bereits in der Überschrift eines Artikels, der in der Online-Ausgabe des Handelsblattes zu finden ist. Der gemeinsame Ansatz quer durch die Parteien: Geringverdienern, die lange Zeit in die gesetzliche Rente eingezahlt haben soll die Rente später etwas aufgestockt werden. Aber Kleinlein postuliert, dass nicht nur die Geringverdiener enttäuscht werden von den aufgestockten Niedrigrenten, sondern auch der Staat wird unterm Strich viermal zur Kasse gebeten. Dies erläutert Kleinlein an dem folgenden Beispielfall:

»… (ein junger) Mann, Anfang 30, der nach einem missglückten Versuch als selbstständiger Versicherungsvermittler sein Glück als Angestellter sucht. Er ist Einzelhandelskaufmann und hat sich nun erfolgreich umgesehen. Eine größere Videothekenfirma bietet ihm einen Job an: 40 Stunden in einer Festanstellung. Das Gehalt ist jedoch mager: 870 Euro. Brutto. Da bleiben dann nur etwa 700 Euro netto übrig. Zieht man davon noch die Miete mit Nebenkosten ab sowie Zusatzaufwendungen für den Job, dann bleiben ihm gerade mal knapp 300 Euro übrig.«

Für diesen Arbeitnehmer und seine mickrige Altersvorsorge zahlt der Steuerzahler vier Mal: Den Aufstockungsbetrag, um Harz IV zu erreichen, die Zulagen für den Riester-Vertrag, das spätere Aufstocken, um die Grundsicherung zu erreichen, und dann noch die Zusatzzahlung für die steuerfinanzierte „Garantie“- oder „Solidarrente“ oder wie das dann immer genannt wird.
Und jetzt stellt Kleinlein die entscheidende Frage: Wer gewinnt dabei eigentlich? Die Antwort:
»Am meisten … gewinnt der Arbeitgeber. Nur weil der Steuerzahler vier Mal zur Kasse gebeten wird, kann er eine solch schlecht bezahlte Stelle überhaupt besetzen. Ohne diese Vierfachsubventionierung ginge das gar nicht.«

Das könnte man also auch eine „multiple Quersubventionierung“ nennen. Gegen die im Ergebnis – man kann es drehen und wenden wie man will – nur höhere Löhne helfen, sowie bzw. in Verbindung mit einer Korrektur der drastischen Absenkung des Sicherungsniveaus der Gesetzlichen Rentenversicherung.

In der Argumentation von Kleinlein profitieren also die Arbeitgeber – und eigentlich tun sie das doppelt, denn zum einen können sie heute schon Niedriglöhne zahlen, weil diese über Steuermittel aufgestockt werden und auch später sollen die dann unter der Grundsicherung liegenden Renten aus der Steuerkasse etwas nach oben gedrückt werden, zum anderen kann aber durch die Verlagerung auf die Steuerzahler der Rentenversicherungsbeitrag und damit die Lohnkostenbelastung des Arbeitgebers ebenfalls niedriger gehalten werden, als sie ansonsten angestiegen wäre.

Umgekehrt geht es übrigens auch – man diskutiert das dann auch unter dem Stichwort „versicherungsfremde Leistungen“ in den Sozialversicherungen, die eigentlich über Steuermittel zu finanzieren wären, aber auf die Beitragszahler verlagert worden sind. Ein neuer Vorstoß in diese Richtung hat die CDU/CSU in ihrem Wahlprogramm angekündigt: Die Aufstockung der Entgeltpunkte in der Gesetzlichen Rentenversicherung für Mütter, deren Kinder vor 1992 geboren wurden und die bislang lediglich einen Punkt pro Kind gutgeschrieben bekommen haben. Das soll auf drei Punkte ausgeweitet werden, wie bei den Müttern, die nach dem Jahr 1992 ein Kind bekommen haben. Und die Union plant nun wieder einmal einen Griff in die Kasse der Versicherten und will diese zusätzlichen Leistungen über Beitragsmittel finanzieren. Das aber ist nicht korrekt, so der Rentenexperte Johannes Steffen: »Wenn die Union diese Leistungen durch ein zusätzliches Kindererziehungsjahr für Geburten vor 1992 ausweiten will, dann muss sie für eine entsprechende Gegenfinanzierung über Steuermittel sorgen. Alles andere wäre eine Ausweitung der Fehlfinanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben, die zu Lasten der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler geht« (vgl. dazu die Infografik »Mütterrenten« – Streit um Finanzierung. Unions-Pläne belasten Beitragszahler von Johannes Steffen).

Und noch eine Problembaustelle aus dem Feld der Alterssicherung gefällig? Wie wäre es mit den Selbständigen, die nicht der Idealvorstellung eines Unternehmers oder auch Freiberuflers entsprechen, der sich im Laufe seiner selbständigen Existenz genügend Vermögenswerte aufbauen konnte, die ihm oder ihr ein sorgenfreies Leben im Alter ermöglicht. Wir haben in den vergangenen Jahren einen massiven Anstieg bei den Solo-Selbständigen gesehen – also Selbständige, die keine weiteren Angestellten haben und die oftmals am oder um das Existenzminimum herum krebsen. Vielen dieser selbständigen Existenzen kann und muss man eine definitive Altersarmut mit Grundsicherungsbezug vorhersagen. Bundesrentenministerin Ursula von der Leyen sollte nun eine Altersvorsorgepflicht einführen, also Selbstständige zu verpflichten, sich gesetzlich oder privat für das Alter abzusichern.

Mit dem Plan, Selbstständige zur Zahlung eines Mindestbeitrags von 350 bis 400 Euro monatlich zu verpflichten, ist die Ministerin nun allerdings am Petitionsausschuss des Bundestages aufgelaufen („Versicherungspflicht für Selbstständige abgelehnt“ sowie „Zwangsvorsorge ist umstritten„). „Die Einführung einer Versicherungspflicht darf nicht dazu führen, Existenzgründungen zu verhindern,“ heißt es in dem Beschluss des Petitionsausschuss, der sich mit einer Online-Petition befasst hat, initiiert von Tim Wessels, die von 80.000 Personen unterstützt wird. Allerdings ist die Überschrift der Meldung im Handelsblatt (Versicherungspflicht für Selbständige abgelehnt) falsch, wie der Artikel am Ende selbst feststellt:  »Der Petitionsausschuss lehnte allerdings eine Vorsorgepflicht für Selbstständige nicht grundsätzlich ab. Er teilt lediglich die Bedenken Wessels gegen einen Einheitsbeitrag.« Das ist was anderes und ein wichtiger Punkt. Das Problem besteht darin, dass »jüngere Selbständige dazu verpflichtet werden sollen, entweder in der gesetzlichen oder in einer privaten Rentenversicherung so viel Beiträge zu entrichten, dass am Ende eine Altersversorgung oberhalb der Grundsicherung herauskommt. Dies hätte zu Mindestbeiträgen in Höhe von monatlich 250 bis 300 Euro geführt«, so Barbara Dribbusch mit abweichenden Zahlenangaben in ihrem Artikel.

Allerdings ist die Debatte keineswegs beerdigt, denn eine Versicherungspflicht für Selbständige findet sich nicht nur in den Wahlprogrammen der Unionsparteien, sondern auch bei SPD und Grünen. Und das Problem der sicheren Altersarmut für die vielen Solo-Selbständigen, die nicht vom Tellerwäscher zum Selbständigenmillionär aufsteigen, bleibt bestehen. Insofern wird sich die Debatte darauf ausrichten müssen, wie man das Ziel, Existenzgründungen nicht zu blockieren über Vorsorgepflichten, die mehr als die Hälfte des Einkommens auffressen würden, mit dem Ziel einer Vermeidung von dann zukünftig von der Allgemeinheit der Steuerzahler zu leistender Grundsicherung in einen Überschneidungsbereich bringen kann. Dafür wird es keine einfachen und eben auch keine bürokratiearmen Regelungen geben. Vermutlich wird es in die Richtung gehen, dass man für einen zu definierenden Zeitraum, um Luft zum Atmen zu lassen, mit niedrigen Einstiegstarifen arbeitet oder einer am Anfang auch sehr niedrigen prozentualen Verbeitragung des selbständigen Einkommens, aber man wird dann auch definieren müssen, wann die Zeit gekommen sein muss, dass der Selbständige selbst vorzusorgen in der Lage ist. Wenn man das so laufen lässt, dann subventioniert man hier ebenfalls auf Dauer zahlreiche Projekte der Selbstausbeutung, bei dem es erneut einen eindeutigen Gewinner geben wird: die Auftraggeber, die sich darüber eine Menge Geld sparen können.

Die private Krankenversicherung ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Immer mehr müssen vor steigenden Prämien kapitulieren und Kritikaster sehen die PKV als Auslaufmodell

Früher war nicht alles, aber vieles einfacher. Auch in der Welt der Absicherung gegen das Risiko Krankheit. Die meisten Menschen waren automatisch in der Gesetzlichen Krankenversicherung, der GKV, versichert. Lange Zeit sogar getrennt nach Arbeitern und Angestellten, seit den 1990er Jahren gibt es auch zwischen den Krankenkassen zunehmend Wettbewerb um die Versicherten. Wenn man Arbeitnehmer war – und das waren und sind die meisten – dann hat der Arbeitgeber die eine Hälfte des Beitrags überwiesen und die andere Hälfte wurde einem vom Lohnzettel gleich abgezogen und ebenfalls vom Arbeitgeber an die Kasse weitergereicht. Irgendwie einfach und geräuschlos.

Und dann gab es noch die anderen, die sich die „Premium-Klasse“ der Absicherung gegönnt haben, also die Selbständigen, denen man die eigene Absicherung überlassen hatte, weil der Regelfall ja auch der war, dass man als Selbständiger über genügend Mittel verfügte, um selbst für den Ruhestand und gegen das Krankheitskostenrisiko vorzusorgen. Die gingen dann in die Private Krankenversicherung (PKV), wo sie anders als in der GKV zwar keine einkommensabhängigen Beiträge zahlen müssen (was ja eine sozialpolitisch gewollte Umverteilung zugunsten der unteren Einkommen bedeutet), sondern einkommensunabhängige Prämien, die von den Versicherungen auf für die Betroffenen zumeist geheimnisvollen Wegen kalkuliert wurde. Die aber gerade in dem Moment, wo man sich für einen Eintritt in die schöne Welt der PKV entscheiden sollte, zumeist unschlagbar günstig daherkamen, vor allem, wenn man berücksichtigt, dass gleichzeitig ein Leistungsversprechen gegeben werden konnte, das weit schöner aussah als das, was die „Holzklasse“ der GKV anzubieten in der Lage war: Chefarztbehandlung, Ein- oder Zweibettzimmer usw. Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle angemerkt, dass neben denen zumeist Selbstständigen, die eine Vollversicherung abgeschlossen haben, auch die Beamten in der PKV ergänzend zu ihrer Beihilfe versichert sind.

Nun wird schon seit längerem davon berichtet, dass die Zahl derjenigen Menschen kontinuierlich ansteigt, die aus ökonomischen Gründen nicht in der Lage sind, die notwendigen und eben einkommensunabhängigen Prämien für die PKV bezahlen zu können. Rainer Woratschka berichtet in seinem Artikel „Wege aus der Beitragsfalle“ über ein ganz neues Geschäftsmodell, das sich in dem fruchtbaren Boden der „PKV-Überforderten“ entwickelt hat und nun aus dem Boden sprießt. Es bildet sich ein neuer Typus des Versicherungsberater heraus, der „Wechselhelfer“: Gegen eine Gebühr helfen Honorar- und Versicherungsberater betroffenen Privatversicherten, in günstigere Tarife mit vergleichbarem Leistungsangebot zu wechseln. Dass es solche Alternativen fast immer gibt, wird den Kunden seitens vieler Versicherungsunternehmen nämlich gern verschwiegen. Was rein rechtlich nicht in Ordnung ist, gibt es doch den § 204 des Versicherungsvertragsgesetzes, der jedem das Recht zum Wechsel in andere Tarife mit gleichartigem Schutz garantiert. Unter Mitnahme aller bisher erworbenen Rechte. Aber grau ist alle Theorie und wer kennt sich schon aus in den Tiefen des Versicherungsrechts. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass sich eine eigene Helferbranche zu etablieren beginnt: »Tatsächlich schießen solche Wechsel-Agenturen wie Pilze aus dem Boden. Die Nachfrage belegt die Not der Kunden.«

Diese Not macht Woratschka an einem Beispiel deutlich:

»Monika Schmidt (Name geändert) aus Leipzig, 61 Jahre alt, bis 1990 Bauingenieurin in einem DDR-Betrieb, nach der Wende arbeitslos. Bis heute schlägt sie sich als Kleinselbstständige durch. Was sie verdient, reicht gerade so zum Leben. Ihr Rentenanspruch: 300 Euro. Von zusätzlichem Altersvermögen keine Spur. Dafür ist Frau Schmidt privat krankenversichert. Das kostet sie im Monat 575,10 Euro. Plus 1250 Euro Selbstbeteiligung im Jahr. Das ist schon jetzt fast doppelt so viel wie ihre zu erwartende Rente. Ein Rückkehr in die gesetzliche Krankenversicherung ist nicht möglich.«

Der PKV-Verband warnt sogleich vor diesen Helferstrukturen: Da die kommerziellen Wechselhelfern allein an der Beitragsersparnis verdienten, manövrierten sie ihre Kunden oft in Billigtarife mit erheblicher Leistungsverschlechterung, so der Vorwurf des Verbandes der Versicherungsunternehmen. Aber da gibt es auch eine andere Realität auf der Anbieterseite: So gibt es Unternehmen, die von den Beratenen im Erfolgsfall zwar auch eine Jahresersparnis als Gebühr nehmen. Doch sie offerieren nur günstigere Tarife mit vergleichbarem Leistungsspektrum.
Wie dem auch sei. Aus der Sicht eines Wechselhelfers stecken viel zu viele bei den Privatversicherern, obwohl sie dort gar nicht hingehören, weil sie finanziell nicht unabhängig sind. Anders als in der gesetzlichen Krankenversicherung werde die individuelle Leistungsfähigkeit bei den Privaten nun mal nicht berücksichtigt. Und gerade im Alter wird das für viele, die aus welchen Gründen auch immer nicht über das erforderliche Gesamteinkommen verfügen, zu einem existenziellen Problem. Das auch die „guten“ Wechselhelfer nur abmildern, nicht aber lösen können. Zu dem Beispielfall der Monika Schmidt schreibt Woratschka in seinem Artikel:

»Frau Schmidt immerhin konnte geholfen werden. Durch einen Tarifwechsel zahlt sie nun nur noch 308,94 Euro plus 960 Selbstbehalt. Das ist fast die Hälfte weniger als bisher. Aber es ist immer noch deutlich mehr als ihre erwartete Rente.«

In diesen Kontext passen die zunehmend kritischer werdenden Anfragen an das Geschäftsmodell der PKV insgesamt. Eine interessante und differenzierte Zahlenanalyse hierzu findet man in dem lesenswerten Beitrag „Der Lockruf der Krankenkassen wirkt“ von Thomas Schmitt, der auf Handelsblatt Online veröffentlicht wurde. Seine Beobachtung: »Die private Krankenversicherung (PKV) kämpft verzweifelt um neue Kunden. Um hohe Abgänge auszugleichen, steckt die kleine Branche immer mehr Geld in die Anwerbung von Angestellten und Selbstständigen. Trotzdem gingen im vergangenen Jahr erstmals mehr Privatpatienten zurück zu den Krankenkassen als umgekehrt neue angelockt wurden. Die Folge: Die Kosten für einen neuen Kunden schossen hoch – auf einen Rekordwert.« Die Leidtragenden dieser Entwicklung sind die neuen Kunden, denn sie zahlen die enormen Abschlusskosten über ihre Prämien. Betrachtet man die Entwicklung über die letzten 15 Jahre, dann kann man die folgenden Befunde erkennen, die Schmitt herausarbeitet: Die Abschlusskosten in der Branche haben sich – bezogen auf neue PKV-Versicherte – verdoppelt. Etwa die Hälfte der Kosten für Vermittler und Vertrieb entfallen auf den brancheninternen Wettbewerb. Die Abschlusskosten in konkreten Zahlen: »Innerhalb der vergangenen 15 Jahre stiegen sie von knapp 3.000 Euro je Neukunde auf aktuell mehr als 6.000 Euro. Ein großer Teil dieser Kosten entfällt auf Provisionen für Vertreter und Vertriebe.« Das heißt, diese Kosten für die Eiwerbung eines neuen Vertrages müssen erst einmal über die Beitragszahlungen des Neukunden refinanziert werden, bevor überhaupt ein Cent für die eigentliche Versicherungsleistung zur Verfügung steht.

Und Schmitt spricht eine zweite Problemdimension für die PKV an: Jedes Jahr wechseln rund 150.000 Privatpatienten zurück zu den Krankenkassen – obwohl die Rückkehr doch eine Ausnahme sein soll und sehr schwierig ist. Die Zahl der neuen Privatpatienten, die aus der GKV kommen, ist seit 1998 um ein Drittel gesunken. » In den vergangenen 15 Jahren wendeten sich mehr als 2,2 Millionen Privatpatienten ab und versicherten sich wieder bei einer gesetzlichen Kasse«, kann man den Rechenschaftsberichten des PKV-Verbandes entnehmen (vgl. hierzu die tabellarische Aufarbeitung „Wie viele wechseln und was das kostet„). Die Größenordnung der Rückwanderung ist deshalb so irritierend, weil die Rückkehr in die GKV nur eine Ausnahme von der Regel sein soll.
Den Abflüssen an Versicherten aus der PKV stehen aber auch die Wechsel aus der GKV in die PKV gegenüber: »Im gleichen Zeitraum kamen etwa 4,3 Millionen Menschen aus der GKV in die PKV. Im Saldo sieht sich die PKV also auf der Erfolgsseite.« Einen Teil der Abwanderungen aus der PKV kann man für die Branche sogar als „Geschäft“ zu ihren Gunsten interpretieren, vor allem, wenn es sich um ältere Versicherte handelt, die ja auch höhere Kosten verursachen, denn oft lassen sie mit dem Wechsel in die GKV wertvolle Ansprüche zurück, etwa wenn über die Jahre bereits beträchtliche Altersrückstellungen aufgebaut worden sind. Dieses Geld legen die Krankenversicherer zurück, um den Beitragsanstieg im Alter zu dämpfen, so Schmitt. Nur wenn sie innerhalb der PKV wechseln, können sie die Altersrückstellungen mitnehmen.

Das eigentliche Problem für de PKV zeigt sich erst in einer langfristigen Betrachtung der Daten: »Vor 15 Jahren verzeichnete die Branche noch neue Verträge in einer Anzahl von mehr als 600.000 pro Jahr. Bis 2009 hielt sich der Neuzugang immerhin über der Marke von 500.000. Doch in den vergangenen drei Jahren fiel er darunter und erreichte mit 413.000 im vergangenen Jahr sein Tief. Die langfristige Entwicklung belegt: Gegenüber 1998 ist ein Rückgang um ein Drittel zu verzeichnen.«

Und ein weiteres Strukturproblem wird in dem hier zitierten Beitrag gar nicht thematisiert: Die Kostensteigerungsfalle, in der die PKV steckt: Zum einen wird die Luft im Vollversicherungsbereich für die PKV immer dünner (und damit die Grundgesamtheit für die Finanzierung der Ausgaben), gleichzeitig steigen die Ausgaben stark an, dies auch, weil die PKV über so gut wie keine Steuerungsinstrumente auf der Ausgabenseite verfügt. Und auch im politischen Bereich wird das Klima PKV-feindlicher, damit ist hier nicht nur die immer wieder auftauchende Forderung nach einer „Bürgerversicherung“ gemeint. Absehbar ist eine Tendenz des Umbaus des dualen Krankenversicherungssystems hin zu einem System, in dem die Privaten auf den Bereich der Zusatzversicherungen verwiesen werden. Aber auch wenn sich dieser Umbau durchsetzen sollte – schwierig wird es für die „Altfälle“ im bestehenden System der PKV, denn ein Wesenselement der Funktionsfähigkeit des PKV-Modells war und ist die permanente Nachlieferung neuer Kunden. Sollte diese Zufuhr aus welchen Gründen auch immer richtig stocken, dann bricht das Kartenhaus schnell in sich zusammen.

Wundersame Geldvermehrung? Von 6 auf 24 Milliarden Euro in einer Woche, um was gegen Jugendarbeitslosigkeit zu tun. Und in Deutschland hofft man auf den Import junger Menschen aus Südeuropa und findet dann nicht selten einsame Azubis im gelobten Land

Die Europäische Union ist ein riesiger Tanker mit vielen Kapitänen und anderen Möchtegern-Führungskräften auf zahlreichen Kommandobrücken, so dass es viel Zeit braucht, das Schiff in eine bestimmte Richtung zu bewegen, wenn es denn überhaupt klappt. Das haben wir bei der Art und Weise des Umgangs mit der „Euro-Krise“ gesehen und wir müssen das erneut zur Kenntnis nehmen bei der Frage, wie man mit den massiven sozialen Verwerfungen in den Krisenländern des Euro-Raumes umgehen soll. Dazu gehört natürlich auch die grassierende Jugendarbeitslosigkeit – wobei man diese Tage zuweilen den Eindruck vermittelt bekommt, die Krisenfolgen im Süden von Euro-Land bestehen ausschließlich aus arbeitslosen jungen Menschen. Diese Fokussierung der Berichterstattung und die Antwortversuche der europäischen Staatengemeinschaft in Form von Geld, das in Aussicht gestellt, zuweilen auch wirklich ausgeschüttet wird – medienwirksam inszeniert auf „Blitzlichtveranstaltungen“ wie dem Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs sowie deren Arbeitsminister in Berlin, also bei der Bundeskanzlerin zu Hause -, rufen naturgemäß auch Kritik und zuweilen heftige Ablehnung hervor. Da meldet sich dann Daniel Gros zu Wort, der Direktor des Centre for European Policy Studies (CEPS) mit Sitz in Brüssel und wird zitiert mit: „Jeder Euro für Junge fehlt den Älteren„. Er identifiziert Verteilungskonflikte, wenn er postuliert: »Ein Jugendlicher ohne Job ist flexibler und kann vielleicht länger in der Ausbildung bleiben. Für denjenigen, der eine Familie ernähren muss, ist Arbeitslosigkeit eine echte Katastrophe … Auch in der Politik gibt es einen Modezyklus. Niemand kann dagegen sein, Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, also müssen die Politiker so tun als könnten sie das Problem lösen … Jeder Euro, der jetzt für junge Menschen ausgegeben wird, steht für die älteren nicht mehr zur Verfügung.«

Zu den Abwehrreaktionen gehört auch eine Infragestellung der immer wieder zitierten dramatischen Werte über das Ausmaß der Jugendarbeitslosigkeit in den Krisenstaaten, wobei dann meistens zugkräftige Titel wie „verlorene Generation“ mit Arbeitslosenquoten von 50% der jungen Menschen hinterlegt werden. Eine solche Infragestellung findet man beispielsweise bei Sven Astheimer in der FAZ: »Mehr als 50 Prozent beträgt die Arbeitslosenquote junger Männer und Frauen in Griechenland und Spanien. Jeder Zweite also, denkt man, aber das ist nicht ganz richtig«, schreibt er in seinem Beitrag „Was Arbeitslosenquoten aussagen„. Er weist darauf hin, dass die Aussage, jeder zweite Jugendliche in Spanien oder Griechenland sei arbeitslos, korrekterweise so formuliert werden muss: »Jeder zweite, der dem Arbeitsmarkt auch zur Verfügung steht, ist ohne Arbeit. Denn Arbeitslosenquoten beziehen sich immer auf die Grundgesamtheit all der Personen, die arbeiten wollen und auch können.« Bei Menschen unter 25 Jahren ist die Gruppe derjenigen, die dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung stehen, naturgemäß besonders groß, weil sie noch sehr stark im Bildungssystem präsent sind, so Astheimer.

»Aus den jeweils mehr als 50 Prozent Arbeitslosenquote werden in dieser Betrachtung etwa im Falle Spaniens im Durchschnitt des Jahres 2012 rund 20 Prozent, für Griechenland bleiben 16 Prozent und für Kroatien 18 Prozent.«

Nun könnte man dem Autor den Vorwurf machen, dass er das gravierende Problem der Jugendarbeitslosigkeit mit solchen „Zahlenspielereien“ nur klein reden will, aber er vertritt eine differenzierte Position, die eine solche Wertung nicht angemessen erscheinen lässt: Auch bei Anwendung dieser reduzierten Grundgesamtheit für die Arbeitslosenquote der jungen Menschen zeigt sich in den Ländern Griechenland, Spanien und Kroatien eine Verdoppelung der Quote und in Irland sogar eine Verdreifachung gegenüber dem Stand vor der Finanz- und Wirtschaftskrise. Und Astheimer weist ebenfalls darauf hin: »… die miserablen Aussichten auf vielen Arbeitsmärkten (führen) zu Ausweichbewegungen der Jugendlichen, die eine Form von verdeckter Arbeitslosigkeit darstellen: Das heißt, viele junge Menschen bleiben aus der Not heraus länger an Schulen und Universitäten. Viele würden lieber arbeiten gehen, wenn es passende offene Stellen gäbe.«

Das Problem ist also – man kann es drehen und wenden wie man will – da und groß. Und das besondere Augenmerk auf die jungen Menschen kommt ja auch nicht von ungefähr, wenn man die Befunde aus der Arbeitsmarktforschung beachtet, die aufzeigen können, welche Verwerfungen in der weiteren Erwerbsbiografien der jungen Menschen angerichtet werden, wenn sie beim Eintritt in das Berufsleben mit längeren Phasen der Arbeitslosigkeit konfrontiert werden. Und das Problem wird noch fassbarer, wenn man die Ebene der allgemeinen Erörterungen und der Zahlen verlässt und sich mit den einzelnen Menschen befasst. Eine solche Perspektive versucht der Beitrag „Deprimiert, nutzlos, entwürdigt„, der in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde. Wie fühlt es sich an, wenn selbst eine hohe berufliche Qualifikation nichts ändert? Der britische „Guardian“ hat in Zusammenarbeit mit der SZ und anderen europäischen Zeitungen junge Frauen und Männer gefragt. »Etwa 150 junge Frauen und Männer schilderten ihre – oft desolate – Lage. Besonders viele Stimmen kamen aus Großbritannien (59), dem Krisenland Spanien (40) und Italien (14), aber auch aus Deutschland (10). Sie machen deutlich, was junge Arbeitslose bewegt.«

Neben den eindrucksvollen Beschreibungen der Betroffenen finden sich auch Hinweise auf strukturelle Problemdimensionen, denen sich die jungen Menschen ausgesetzt sehen und die ihre Arbeitssuche erschweren: Mangelnde Arbeitserfahrung („Ich habe nicht viel Arbeitserfahrung und keine Firma gibt mir die Möglichkeit zu lernen und diese Erfahrungen zu bekommen. Sogar für unbezahlte Jobs muss man ein bis zwei Jahre Arbeitserfahrung ausweisen“), prekäre Beschäftigung („Ich ‚arbeite‘ im Moment als Übersetzerin/Journalistin bei einer Zeitung in Griechenland, aber ich wurde sechs Monate lang nicht bezahlt, auch einen Arbeitsvertrag habe ich nicht“), hohe Qualifikation ist keine Jobgarantie mehr („Ich habe getan, was die Gesellschaft mir gesagt hat: (…) Ich habe studiert, ich war der Beste, aber jetzt? Nichts“) und auch für Deutschland besonders relevant die Entkoppelung von Wirtschaftslage und Arbeitsmarkt („Die Jobsuche ist in Deutschland besonders frustrierend, weil die Nachrichten immer hervorheben, wie hervorragend es der Wirtschaft geht, während zugleich keiner meiner Freunde (alle mit mindestens einem Universitätsabschluss) einen angemessen bezahlten Job oder überhaupt einen Job finden konnte“).

Aber Hilfe scheint doch unterwegs zu sein, folgt man den aktuellen Medienberichten über das Treffen der hochrangigen Regierungsvertreter in Berlin.  Bereits vergangene Woche hatte die EU sechs Milliarden Euro für den Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit zugesagt. Und scheinbar werden wir Zeugen einer wundersamen Geldvermehrung, denn nun können wir beispielsweise im Handelsblatt lesen: „24 Milliarden Euro gegen Jugendarbeitslosigkeit„. Von 6 auf 24 Milliarden Euro, das muss man erst einmal hinbekommen – hier werden offensichtlich die ganz großen Geschütze aufgefahren, so die Botschaft. Ganz offensichtlich stimmt die Aussage der Bundeskanzlerin heute bei dem Treffen der Staats- und Regierungschefs: Das Geld für Förderprogramme sei nicht das Problem, so Merkel.
»Auf EU-Ebene sollen nach Angaben aus dem Bundesarbeitsministerium ab sofort 18 Milliarden Euro abrufbar sein, die aus bisherigen Strukturfonds nicht abgeflossen sind. Bisher war von 16 Milliarden Euro die Rede, von denen laut der Minister-Erklärung bis zum Jahr 2015 780.000 junge Menschen und 55.000 Firmen profitieren sollten. Vom kommenden Jahr an sollen weitere sechs Milliarden Euro bereitstehen, auf die sich frühere EU-Gipfel im Rahmen der neuen Finanzplanung 2014 bis 2020 verständigt hatten. Das Geld soll Regionen zugute kommen, in denen die Jugendarbeitslosigkeit mehr als 25 Prozent beträgt.«

Also im Klartext: Hier werden nicht 24 Milliarden Euro neues, zusätzliches Geld mobilisiert, sondern man nimmt das Geld, was bislang in Brüssel liegen geblieben ist. Kann man ja machen, ist aber was anderes, als wenn man neue und zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen würde.
Für den Eingeweihten nicht überraschend und eher als Drohung zu verstehen ist dann die folgende Formulierung: Die zu beglückenden Mitgliedsstaaten sollen »bis zum Jahresende einen Plan verabschieden«.

Aber natürlich gibt es wieder welche, die Wasser in den Wein schütten müssen, diesmal aber nicht die Gewerkschaften oder die anderen üblichen Kritikaster (die natürlich auch, wenn beispielsweise der DGB von einer „Mogelpackung“ spricht), sondern hier seien die Chefs der nationalen Arbeitsagenturen zitiert, die verlautbaren ließen: Arbeitsmarktpolitik könne „in Zeiten einer Wirtschaftskrise mit schwacher Arbeitskräftenachfrage nur einen kleinen Beitrag“ leisten.

Was bleibt dann? Die betroffenen jungen Menschen können doch in das aus arbeitsmarktlicher Sicht – folgt man der weit verbreiteten Berichterstattung – „gelobte Land“ kommen, also nach Deutschland, wo zahlreiche Arbeitgeber fieberhaft auf junge Menschen zu warten scheinen, um die nicht besetzbaren Ausbildungsplätze mit Leben zu füllen. Da passt es doch ganz gut, dass Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen in großem Stil junge Südeuropäer auf deutsche Lehrstellen lotsen will. Helfen soll der Azubi-Import gegen deutschen Fachkräftemangel wie auch Europas Jugendarbeitslosigkeit. Doch auch hier spuckt die Realität und vor allem der Alltag den hehren Absichten in die Suppe, wie Christian Füller in seinem Beitrag „Einsame Azubis im gelobten Land“ berichtet.

»… von der Leyen (hält) den Staubsauger bereit, um die besten und ehrgeizigsten Jugendlichen nach Deutschland zu holen. Zwei Problemzonen des deutschen Ausbildungsmarktes sollen versorgt werden: Hightech, also hochqualifizierte Ausbildungen – alles, was mit Mechatronik und Technik zu tun hat. Und Hightouch, nämlich niedrigbezahlte und harte Berufszweige, in denen Deutsche kaum mehr anfangen: Hotels und Gaststätten, Nahrungsmittelindustrie, Friseursalons.«

Wer aber nun glaubt, dass die jungen Menschen aus den europäischen Krisenstaaten in Scharen einfallen, um sich eine Ausbildung im „gelobten Land“ zu verschaffen, der hat sich derzeit jedenfalls gründlich getäuscht. Es tröpfelt, so müsste man es ausdrücken, wenn man einen noch messbaren Bereich angeben muss. Als Beispiel zitiert Füller die  Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit in Bonn: »2.100 Anträge verzeichnet die ZAV – dahinter dürften sich lediglich 400 bis 600 Bewerber verbergen. Denn es gibt zwölf Einzel-Fördertöpfe, vom Deutschkurs über Anreisepauschalen und Lebensunterhalt-Hilfen bis zur sozialpädagogischen Betreuung. Jeder Lehrlingswanderer muss also mehrere Anträge stellen.«

Die neuen „Mobilitätsberater“, die beiden Kammern angesiedelt worden sind, berichten aus der Praxis von zwei zentralen Hinderungsgründen, die nur auf den ersten Blick profan daherkommen: Heimweh und Einsamkeit. Die jungen Leute müssen, so die Praktiker, massiv betreut werden, was aber gerade an den Wochenenden nicht passiert. Andere berichten bei den wenigen, die hierher gekommen sind, um eine Berufsausbildung zu machen, von einem deutlichen Schwund in der Größenordnung von 30 bis 50 Prozent. Und dabei müsse man berücksichtigen: »Alle deutschsprechenden Bewerber sind bereits abgegrast«. Die „harten Fälle“ kommen jetzt erst.
Eine realistische Einschätzung zum gegenwärtigen Zeitpunkt muss davon geleitet sein, dass es keine große Ausbildungseinwanderung nach Deutschland geben wird. Man darf die Sprachprobleme nicht unterschätzen und auch nicht die Unkenntnis über das Berufsausbildungssystem in Deutschland vor dem Hintergrund der überall präsenten Überbewertung eines Hochschulstudiums und der bewusst-unbewussten Abwertung einer betrieblichen Ausbildung.

Eine ganz reale Gefahr resultiert aber aus der Fokussierung auch und gerade der Berichterstattung auf die – eben nur scheinbare – „Lösung“, wir holen uns ganz viele und „fertige“ junge Menschen nach Deutschland, dann wird der drohende oder bereits vorhandene Fachkräftemangel schon beherrschbar werden. Denn durch die Hoffnungen, die dadurch bei vielen Unternehmen geweckt werden, wendet man den Blick schon wieder ab von den jungen Menschen, die früher nie und jetzt teilweise schon Berücksichtigung finden aufgrund der sich fundamental verändernden Angebots-Nachfrage-Relationen auf dem Ausbildungsstellenmarkt. Und es geht hier um keine kleine Gruppe unter den weniger werdenden Jugendlichen: „267.000 Jugendliche in der Warteschleife für einen Ausbildungsplatz„. Und die sind schon alle da, nicht selten aber nicht an dem Ort, wo man sie braucht, sondern eben woanders. Teilweise haben diese jungen Leute auch erhebliche Einschränkungen, z.B. im Verhaltensbereich, die eine Einstellung seitens der Unternehmen erschweren bzw. am Anfang verhindern. Trotz solcher Restriktionen muss man diesen jungen Menschen eine oder mehrere Chancen geben, eine Ausbildung realisieren zu können.

Beide Themenfelder, also die Anwerbung hochmotivierter junger Menschen aus den Krisenländern des Euro-Raumes wie auch Angebote für die zurückgebliebenen jungen Menschen, müssen zusammenhängend und gleichzeitig bearbeitet und praktiziert werden – man muss sich aber bewusst sein, dass der Wirkungsgrad in beiden Fällen bescheiden ausfallen wird. Was nichts daran ändert, dass jede einzelne Erfolgsgeschichte einen Wert an sich darstellt.

Mit den Millionen kann man schon mal durcheinander kommen: Von Leistungsberechtigten, An-sich-Leistungsberechtigten und der Restgruppe der Arbeitslosen. Und was das alles mit dem Regelsatz für Hartz IV-Empfänger zu tun hat

Es ist ja auch ein Kreuz mit den Zahlen. Man kann das jeden Monat beobachten, wenn seit gefühlt 200 Jahren die Zahl der Arbeitslosen in Nürnberg der versammelten Presse bekannt gegeben wird, so wie vor kurzem für den Monat Juni des Jahres 2013. Und man kann sicher sein, dass dann überall darüber berichtet wird, dass die Zahl der Arbeitslosen – oder sagen wir es lieber an dieser Stelle bereits richtig – die Zahl der registrierten Arbeitslosen im Juni bei 2,865 Mio. Menschen und damit weiter unter der 3-Millionen-Schwelle liegt. Nun weist die Bundesagentur für Arbeit selbst in ihren monatlichen Arbeitsmarktberichten eine etwas andere Zahl aus, die weitaus sinnvoller für eine Zitation in den Medien wäre: 3,843 Millionen Menschen, die so genannten „Unterbeschäftigten“. Die sind auch alle arbeitslos, aber die fast genau eine Million Menschen, die bei der Zahl fehlt, die es dann auf die Titelseiten der Zeitungen und in die Schlagzeilen der Nachrichten in Funk und Fernsehen schafft, sind derzeit beispielsweise in „Aktivierungsmaßnahmen“ oder waren schlichtweg am Tag der Zählung der Arbeitslosen krank geschrieben, aber grundsätzlich natürlich weiterhin arbeitslos waren (weiterführend und regelmäßig die aktuellen Arbeitsmarktzahlen der BA kritisch begleitend die Berichterstattung auf der Website O-Ton Arbeitsmarkt).

Wie dem auch sei – in den Köpfen der meisten Menschen bleibt dann irgendwie immer diese niedrigste Zahl, derzeit also die 2,865 Millionen Arbeitslosen, hängen. Das mag dann auch erklären, warum so viele mehr als irritiert reagieren, wenn man gleichzeitig darauf hinweist, dass wir gegenwärtig 6,168 Millionen Menschen im Grundsicherungssystem (SGB II) haben, die also „Hartz IV“-Empfänger sind. Das bekommen dann viele nicht mehr übereinander, weil zwischen 2,9 Mio. und 6,2 Mio. ist an sich schon eine riesige Diskrepanz und dann kommen doch auch noch die Arbeitslosen dazu, die gerade erst seit kurzem arbeitslos geworden sind und die die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I (Alg I) beziehen und gerade nicht Hartz IV (also Alg II) und die doch auch arbeitslos sind, sonst würden sie ja auch keine Leistungen beziehen können. Die Abbildung zeigt die zahlenmäßigen Zusammenhänge.

Während wir also „nur“ 1,967 Millionen arbeitslos registrierte „Hartz IV“-Empfänger haben, beziehen tatsächlich aber 4,46 Millionen Menschen Arbeitslosengeld II und dann kommen auch noch weitere 1,71 Millionen Menschen dazu, die auch „Hartz IV“-Empfänger, aber nicht erwerbsfähig sind und damit natürlich auch nicht arbeitslos sein können. Diese Gruppe versteht man noch, wenn man die Erläuterung liest, dass es sich zu 95% um Kinder unter 15 Jahren handelt. Die sind natürlich noch nicht erwerbsfähig. Aber die Differenz zwischen den 1,967 Millionen arbeitslosen und den 4,46 Millionen erwerbsfähigen „Hartz IV“-Empfänger? Auch die kann man natürlich erklären, weil der Unterschied besteht aus an sich erwerbsfähigen, aber nicht als arbeitslos registrierbaren Menschen, weil viele von denen haben beispielsweise eine Arbeit, verdienen aber so wenig, dass sie aufstockend SGB II-Leistungen beziehen oder sie sind an sich erwerbsfähig, dürfen aber nicht arbeitslos sein, weil sie Kinder unter drei Jahren zu betreuen haben oder weil sie einen pflegebedürftigen Angehörigen versorgen.

Jetzt wird es aber noch komplizierter, folgt man dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Denn die haben berechnet, dass es viele Menschen gibt, die eigentlich Hartz IV-Leistungen beziehen könnten, es aber aus welchen Gründen auch immer nicht tun. So hat Cordula Eubel ihren Artikel im „Tagesspiegel“ überschrieben mit: „Mehr als jeder Dritte verzichtet auf Hartz IV. Nach Berechnungen für das Arbeitsministerium leben bis zu 4,9 Millionen in verdeckter Armut„. Genauer: »In Deutschland leben 3,1 bis 4,9 Millionen Menschen in verdeckter Armut. Das heißt, dass sie kein Hartz IV beantragen, obwohl sie wegen geringen Einkommens oder Vermögens Anspruch darauf hätten.« Zu diesem Befund ist das IAB auf der Basis von Simulationsrechnungen für das Bundesarbeitsministerium gekommen, die allerdings derzeit noch nicht veröffentlicht worden sind, so dass wir uns an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt auf die zitierte Berichterstattung verlassen müssen, die von einer 247 Seiten umfassenden Studie spricht.
Wenn man das umrechnet unter Berücksichtigung der eingangs zitierten Werte, dann bedeutet das, dass zwischen 34 und 44 Prozent der Berechtigten auf staatliche Unterstützung verzichten, also mehr als jeder dritte Berechtigte.

Natürlich kommt an dieser Stelle sofort die Frage, warum so viele Menschen auf die Inanspruchnahme der ihnen ja zustehenden Leistungen verzichten. Die IAB-Forscher nennen hier „Unwissenheit, Scham oder eine nur sehr geringe zu erwartende Leistungshöhe oder -dauer“ als Erklärungsfaktoren.

Allein die Größenordnung an Menschen, die eine ihnen zustehende Grundsicherungsleistung nicht in Anspruch nehmen, ist natürlich schon sozialpolitisch hoch brisant. Aber darüber hinaus ist diese Information von einer weiteren grundsätzlichen Bedeutung mit höchst pikanten Auswirkungen auf die Praxis der Bemessung der Leistungen im SGB II-System. Hier geht es um die Frage der Berechnung der Höhe der Regelsätze innerhalb des Grundsicherungssystems.

Hierzu hatte es im Jahr 2010 eine wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegeben,  in der die bis dahin praktizierte Art und Weise der Berechnung als verfassungswidrig erkannt wurde – unter anderem, weil dem früheren Betrag nach den Worten der Richter Schätzungen „ins Blaue hinein“ zugrunde lagen. Es handelt sich um die Entscheidung vom 9. Februar 2010: BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010.

In den Leitsätzen der Entscheidung findet man die folgende Formulierung:

»Zur Ermittlung des Anspruchumfangs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.«

Die Verfassungsrichter hatten u.a. moniert, dass man die Regelsätze ableitet aus den untersten 20% der Haushaltseinkommensverteilung ohne Berücksichtigung der Hartz IV-Empfänger, was als Methode zulässig sei, aber dass man es versäumt habe, die „verdeckt Armen“ aus dieser Gruppe herauszurechnen, also die Menschen, die eigentlich zu der Gruppe der Hartz IV-Empfänger gezählt und damit ausgeschlossen werden müssten, es aber nicht tun, weil sie aus welchen Gründen auf die ihnen eigentlich zustehenden Leistungen verzichten. Der Gesetzgeber solle, so das BVerfG, bei der Auswertung künftiger Einkommens- und Verbrauchsstichproben darauf achten, die verdeckt armen Haushalte zu entfernen, da sie in der Referenzgruppe „die Datenbasis verfälschen“ würden.

Eigentlich müsste man also im Lichte der neuen Daten die dort ermittelten verdeckt armen Haushalte aus der Bezugsgruppe für die Bestimmung des Regelsatzes herausnehmen. »Dann müssten aber auch die Regelsätze steigen. Rechnet man die verdeckt Armen heraus, so steigen die Konsumausgaben bei Alleinstehenden laut IAB im Schnitt um bis zu 2,4 Prozent, bei Paaren mit einem Kind um bis zu 5,5 Prozent«, so Cordula Eubel in ihrem Artikel.

Man muss das auch sehen vor dem Hintergrund einer massiven Kritik vieler Fachleute an der 2011 dann vorgenommenen Neuberechnung des Regelsatzes im SGB II. Die Ministerialbeamten hatten damals gerechnet »und bekamen 2011 einen Eckregelsatz heraus, der den alten um 2,81 Euro übertraf«. Warum der Anstieg nur so marginal ausgefallen ist, untersuchen die beiden Wissenschaftler Irene Becker und Reinhard Schüssler in dem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojekt „Das Grundsicherungsniveau: Ergebnis der Verteilungsentwicklung und normativer Setzungen„, aus dem jetzt erste Zwischenergebnisse bekannt wurden: „Regelsatz-Berechnung weiter fragwürdig„. »Die Regierung hat zwar die verfassungsrechtlich notwendigen Revisionen vorgenommen, das Rechenverfahren aber an anderen Stellen in einer Weise verändert, die den Korrekturen „systematisch entgegengewirkt haben“, so Becker. Nach ihrer Rechnung hätte der Eckregelsatz um etwa 27 Euro steigen müssen – wenn das ursprüngliche Verfahren nur in den vom obersten Gericht beanstandeten Punkten modifiziert und ansonsten unverändert geblieben wäre.« So musste man 2011 beobachten, dass eine Reihe von Einzelbeträgen abgezogen wurden, die der Gesetzgeber für „nicht regelsatzrelevant“ hält, etwa Ausgaben für Tabakwaren, Benzin, Reisen oder Gastronomiebesuche.

»Auch die Bezugsgruppe hat der Gesetzgeber verändert. Bei den Alleinstehenden zählten 2011 nicht mehr die unteren 20 Prozent, sondern nur noch die unteren 15 Prozent der Haushalte dazu. Real liegt die obere Einkommensgrenze der Referenzgruppe nun um neun Prozent oder rund 82 Euro niedriger.«

Zurück zu den neuesten Daten über den Umfang der Gruppe der verdeckt Armen. Das Bundesarbeitsministerium nennt die Größenordnung „beträchtlich“ – und wie gesagt, hier müsste man eigentlich so schnell wie möglich handeln und eine Anpassung vornehmen. Wer jetzt auf ein „aber“ wartet, den kann ich leider nicht enttäuschen, denn das Bundesarbeitsministerium »will … die Berechnung nicht ändern. Würde diese Personengruppe herausgerechnet, „käme es durch die an deren Stelle nachrückenden Haushalte mit höherem Einkommen tendenziell zu einer Verlagerung der Referenzgruppe in den mittleren Einkommensbereich“, heißt es dazu im aktuellen Regelbedarfsbericht«.

Anders ausgedrückt: Alles spricht für eine Korrektur der Regelsätze, aber das zuständige Ministerium verweigert das einfach. Nach dem Motto: Ihr könnt ja (wieder) Klage erheben, aber bis das beim Bundesverfassungsgericht landen wird, kann der Rhein noch eine Menge Wasser transportieren.